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nicht mehr lange dauerte. Dass ihre eigene Welt sich für immer verändern würde und sie sich von jetzt an um so vieles mehr kümmern musste. Und dass sie in Wirklichkeit nicht überblicken konnte, wie sie und Theis mit ihren beiden Jobs und seinem dauernden Pendeln zwischen Århus und Kopenhagen so eine kleine Familie am Funktionieren halten konnten. Sie begegnete dem Blick der Wahrsagerin und fragte sich sekundenlang, ob sie auch Gedanken lesen konnte.

      »Sie brauchen nicht nervös zu sein«, lächelte Hanne Guldberg mit Tränen in den Augen von dem Hustenanfall. »Ich sage nichts Schlimmes. Nur Generelles.«

      Ida Marie seufzte. Eigentlich glaubte sie nicht an so etwas. Warum war sie dann nervös? Warum betrachtete sie es nicht als den Spaß, der es war?

      »Lesen Sie auch aus der Hand?«, fragte sie.

      Die Frau, die vielleicht Anfang dreißig war, schüttelte fast nachsichtig den Kopf.

      »Es reicht, dass Sie hier sind. Möchten Sie Kaffee oder Tee?«

      »Nur Wasser, danke.«

      Hanne Guldberg holte zwei Gläser aus der Küche, die eine offene Verbindung zum Wohnzimmer hatte.

      »Es ist gemütlich hier«, sagte Ida Marie und hörte, dass sie verblüfft klang. Die Wohnung war hell und freundlich und in typisch dänischem Stil eingerichtet. Mit dem obligatorischen Elipsentisch oder etwas Ähnlichem und sechs pastellgrünen Arne-Jacobsen-Stühlen. Die Spätsommersonne tanzte über Per Arnoldis Kunst, die in Glasrahmen an den weißen Wänden hing.

      »Es ist ganz schön hier«, sagte Hanne Guldberg und reichte ihr das Glas. »Natürlich gibt es viel Krawall, aber man spricht miteinander. Das ist wichtig.«

      Ida Marie lächelte.

      »Das kann ich mir vorstellen.«

      Hanne Guldberg sah sie mit einem seltsam direkten Blick an. »Ich sehe, dass Sie an einem Wendepunkt stehen«, sagte sie. »Um das zu sehen, bedarf es keiner Wahrsagerin. Aber wenn Sie wollen, kann ich Ihnen vielleicht ein bisschen mehr zu diesem Wendepunkt sagen.«

      Ida Marie nickte vorsichtig. Das klang Vertrauen erweckend. Ein Wendepunkt. Herrgott nochmal, sie würde es schon überleben. Außerdem hatten sie im Vorhinein ausgemacht, dass sie sich nicht auf das Negative konzentrieren wollten. Es ging nicht an, eine zukünftige Braut zu einer Wahrsagerin zu schleppen und mit einem nervlichen Wrack nach Hause zu kommen. Aus diesem Grund gab es wirklich nichts, wovor sie Angst haben musste. Überhaupt nichts.

      »Ich möchte Sie bitten, mir irgendetwas Persönliches zu reichen, das ich anfassen kann, damit ich ein Gefühl für Sie bekomme«, sagte diese moderne Wahrsagerin, als ginge es um einen Besuch beim HNO-Arzt: »Gähnen Sie, und sagen Sie aaa.«

      Zuerst kam ihr der Ehering in den Sinn, doch dann war ihr das zu simpel. Außerdem war sie sauer auf Theis, weil er das ganze Wochenende arbeiten musste. Wieder einmal.

      Sie gab der Wahrsagerin das Medaillon ihrer Großmutter. Ihre Mutter hatte es ihr gegeben, als sie von der Schwangerschaft erfahren hatte.

      Hanne Guldberg hielt das Medaillon in der Hand und ließ die Goldkette wie ein umgedrehtes Pendel pendeln.

      »Ein Erbstück«, sagte sie. »Von der mütterlichen Seite?«

      Ida Marie nickte. Spürte erneut die Nervosität.

      »Von einem Ort oben im Norden. An einem großen See, stimmt das?«

      »Aus Vänern«, flüsterte Ida Marie. »In Schweden.«

      »Natürlich. In Schweden.«

      Jetzt schloss sie die Augen. Die Stimme veränderte sich und wurde fast zu einem Flüstern.

      »Sie sind ein fremder Vogel hier. Das hat Ihnen Probleme gemacht. Wenn auch nicht mehr so sehr. Sie haben sich verändert; versucht, sich anzupassen, aber etwas plagt Sie. Etwas, das Sie aus Ihrer Kindheit mit sich herumschleppen. Was die Zukunft betrifft, kommt bald etwas Großes auf Sie zu. Etwas, das eine Zeit lang Ihr ganzes Leben bestimmen wird. Ich weiß nicht, ob es negativ oder positiv ist, aber es ist nicht die Geburt, von der ich spreche. Es geht um etwas anderes.«

      Ida Marie saß, das Wasserglas in der Hand, ganz steif da. Wollte den Mund aufmachen, um zu fragen, um weitere Einzelheiten zu erfahren, wagte es aber nicht. Stattdessen sagte sie:

      »Können Sie etwas über die Geburt sagen?«

      Jetzt lächelte Hanne Guldberg und öffnete die Augen.

      »Die Geburt ist nicht das Problem, falls es ein Problem geben wird. Davor brauchen Sie keine Angst zu haben.«

      »Und das Kind?«

      »Wunderschön. Alles, was Sie sich wünschen können.«

      Sie merkte, wie eine Last von ihren Schultern fiel, und stand mit einem Lächeln auf, das sich nicht zurückhalten ließ.

      Doch als sie nach einem Abendessen im Globen und als Zuschauerin beim Salsatanz der anderen im Gyngen an diesem Abend nach Hause ging, spürte sie den Puls der Stadt wie ein langes, ungleichmäßiges Trommelsolo in ihren Ohren. Mit der Dunkelheit war Århus plötzlich zu New York geworden. Die hohen Stimmen betrunkener Männer bekamen einen bedrohlichen Unterton, ein Schatten in einer Toreinfahrt wurde zu einem mordlustigen Verrückten. Keiner wusste, wann die Katastrophe passieren, wann alles auseinander brechen würde. Wann es mit der Sicherheit ein für alle Mal vorbei wäre.

      Aber noch war sie da, das durfte sie nicht vergessen. Noch gab es sie, in ihrer Wohnung in der Samsøgade, wo Theis eine Kerze ins Fenster gestellt hatte, sodass es von draußen heimelig und warm aussah. Sie hatte sie sich so gewünscht, die Sicherheit. Gewünscht wie das Kostbarste auf der Welt. Aber warum hatte sie dann das Gefühl, nicht die ganz reine Ware bekommen zu haben? Dass irgendwo, vielleicht direkt um die Ecke, etwas anderes auf sie wartete. Vielleicht war es das, was die Wahrsagerin aus Gjellerup gesehen hatte. Ihren eigenen inneren Zweifel, umgesetzt in Handlung.

      Theis. Sie hatten ihre guten und ihre schlechten Zeiten gehabt. Ihre Krisen, wie alle anderen. Etwas anderes wäre nach neun Jahren wohl verwunderlich. Und jetzt war da plötzlich das Kind, das sie erwartete und für das sie gekämpft hatten. Einen Kampf, der sie in gewisser Weise zusammengehalten hatte. Das Kind, das ihr Leben leuchtend rot und beunruhigend dunkel zugleich zeichnete. Es war seltsam, sich etwas so lange gewünscht zu haben und zu wissen, dass jetzt die Zeit gekommen war. Dass dieses riesige Geschenk, diese gigantische Verantwortung bald die ihre sein würde. Sie musste bei dem Gedanken beinahe lächeln, während sie die Treppen in die zweite Etage hochstieg. Allein die Erwartung war fast schon mehr als ihr Verhältnis aushielt.

      Theis saß mit einem letzten Schluck Rotwein auf dem Sofa und sah CNN. Sie hörte etwas von Anthrax und Osama bin Laden, den zurzeit üblichen Themen. Hin und wieder vermisste man etwas ganz anderes.

      »Ich denke, sie sollten eine Sendung über Schweden bringen«, schlug sie bei einem Kuss vor, der sie als die Sünderin entlarven würde, die sie war.

      »Du hast geraucht«, murmelte er, wie vorherzusehen gewesen war, und sie hatte das Gefühl, dass er sie vorwurfsvoll ansah.

      »Nur eine.«

      »Und nur ein Glas?«

      Sie seufzte.

      »Anderthalb. Vielleicht auch zwei. Ich habe das gebraucht.«

      »Das kann ich mir denken«, sagte er und zeigte auf die Zeitung, die unter einer Schüssel mit Pistazien lag. Schalen waren über die Seiten verteilt. »Was für ein Fund für eine Schwangere. Warum hast du mir nichts erzählt? Denn du warst doch dort, nicht?«

      Hörte sie da eine gewisse Sorge oder nur einen Vorwurf in seiner Stimme? War er enttäuscht über ihr Schweigen oder besorgt um ihren Seelenfrieden? Sie hoffte Letzteres. Wollte sich hinsetzen und erklären, dass sie nicht zu denjenigen gehörte, die einfach drauflosredeten, ohne das Gefühl zu haben, dass es ihn interessierte. Dass sie in der letzten Zeit gemerkt hatte, dass er mehr als genug mit seiner Arbeit beschäftigt war und ihre vertraulichen Mitteilungen der einen oder anderen Art ihm nur lästig waren. Wie damals, als

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