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du hast heute einen schlechten Tag«, sagte er leise.

      »Einen sehr schlechten«, gab sie zu.

      »Und er wird noch schlechter«, sagte er ernst, aber mit einem kleinen Lächeln hinter dem Bart und Heiterkeit in den tiefsten Winkeln seines Blickes.

      »Wie meinst du das?«

      »Ich meine, dass sie sich in Kopenhagen bestimmt über die Fotos wundern werden, die ich gerade mit einem Taxi zum Flughafen expediert habe. Genau wie ich mich gewundert habe, nur dass ich in der glücklichen Situation bin, dass du mich in das Rätsel einweihen kannst, wenn du magst.«

      »In welches Rätsel?«

      Langsam legte er die Abzüge auf den Tisch. Da waren Aufnahmen von der Wanne und von ihr und Anne, die vorsichtig auf das Kind hinuntersah.

      Aber da waren auch noch andere Fotos, aufgenommen in schrägen Perspektiven mit Ida Maries charakteristischer Kameraführung. Von dem Geschenk und ihrem gespannten Gesichtsausdruck, als sie die Schleife aufzog. Von dem genoppten Dildo, der wie eine Rakete auf der Abschussrampe dastand. Von ihr, wie sie das Teil mit einem verwirrten Lächeln um die Mundwinkel festhielt. Sie konnte schon die Sprechblase darüber sehen, die witzige Köpfe am schwarzen Brett der Zeitung darüber malten: »Ich kann es kaum erwarten!«

      »Oh, shit«, murmelte sie und sah Kaisers Gesichtsausdruck vor sich, wenn er später am Abend den Stapel mit Fotos durchging.

      »Shit, shit, shit! Die hast du nicht mitgeschickt. Nicht alle.«

      Bos Blick zog sie neugierig aus. Vollkommen ohne Scham tastete er unter dem Sommerkleid ihre Brüste ab; ihre Schenkel, ihren Hals und ihre Taille. Das Lächeln war immer noch irgendwo da.

      »Natürlich habe ich das. Das ist mir schließlich gesagt worden«, sagte er, rutschte vom Schreibtisch und schlenderte zur Tür. »Du kannst nicht erwarten, dass ich selbst denke.«

      Er öffnete die Tür, warf sich die Jeansjacke über die Schulter und ihr einen unbestimmbaren Blick zu.

      »Ich bin schließlich nur der Fotograf.«

      4.

      Ida Marie klammerte sich an den Alltag.

      Allmählich schien irgendetwas in ihr aufzutauen. Als könnte sie sich nach Kannen von Tee und dem ewigen Starren aus dem Fenster endlich aufraffen, etwas zu tun. Die Betten zu beziehen, zum Beispiel. Oder die Spülmaschine zu füllen oder nur ein paar Kerzen anzuzünden und etwas Tomatensuppe aufzuwärmen, bis Theis nach Hause kam.

      Aber sie sah immer wieder das Kind vor sich, auch wenn sie Teller stapelte oder den Tisch deckte oder Zeitungen aussortierte. Mit seinen geschlossenen Augen und den kleinen Händchen; vor allem die waren ihr aufgefallen, über der Brust gefaltet wie zu einem stummen Gebet. Und sie spürte die ganze Zeit nach, ob sich in ihrem Bauch noch Leben regte. War aufmerksam für die kleinste Bewegung. Für das kleinste Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung sein könnte. Sagte sich, dass sie verrückt war. Konnte es aber nicht lassen.

      Theis sagte sie nichts. Warum, wusste sie nicht genau. Vielleicht, weil er immer so beschäftigt war. Vielleicht, weil sie ihn nicht beunruhigen wollte. Natürlich hätte sie es erzählen sollen. Aber am ersten Abend war er müde und erschöpft und schlief auf dem Sofa ein. Und am nächsten nahm sie sich zusammen und ging mit den Kolleginnen aus. Sie hatte immerhin selbst geholfen, den Polterabend auszurichten und den Besuch bei der Wahrsagerin zu planen.

      Das dachte sie noch immer und redete sich gut zu, als die Gesellschaft nach einem kleinen Bummel durch die Stadt ein Taxi zu den grauen Betonklötzen in Gjellerup nahm. Trotzdem spürte sie die Angst, die sie beschlich. Die eiskalte, rettungslose Angst vor etwas, das in der Zukunft lag und von dem sie nicht so genau wusste, was es war. Vielleicht vor der Geburt. Vielleicht davor, das Kind zu verlieren. Oder Theis. Oder sich selbst, es gab viele Möglichkeiten.

      Sie fanden die Wohnung schnell, und bei den ersten fünf gab es keine Probleme. Sie kamen mit roten Wangen und glänzenden, fiebrigen Augen wieder heraus, als hätte sie ein Prinz geküsst.

      Doch als sie an der Reihe war, merkte sie, dass etwas sie in die andere Richtung zog. Dass sie am liebsten nach Hause wollte. Dass es bestimmt ein Fehler war, aber sie brachte es nicht über sich, das auszusprechen.

      Es gab keine Kristallkugel und keine Tarotkarten. Und auch keine exotische, dunkel gekleidete Frau mit goldenen Ohrringen, einem groß geblümten Fransenschal um die Schultern und einer schwarzen Katze auf dem Schoß.

      Das hier war kein Zigeunerwagen, sondern eine Wohnung im größten Ausländerghetto der Stadt. Und die Wahrsagerin hieß Hanne Guldberg und hatte mittelblondes, kurzes Haar, eine Strickjacke von Jackpot über den alten Jeans und eine schlimme Erkältung, die sie mit Hilfe von einer Box mit Kleenex, die auf dem Sofa lag, in den Griff zu bekommen versuchte.

      »Das letzte lebende Bild«, sagte sie fröhlich vor einem durchdringenden Nieser, und Ida Marie spürte wieder die Nervosität und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Griff nach der Türklinke.

      »Das war bildlich gesprochen«, sagte die Frau und lächelte freundlich. »Sie sind doch die Letzte, nicht? Ich muss mein Kind im Hort abholen«, fügte sie entschuldigend hinzu und machte Ida Marie ein Zeichen, sich zu setzen.

      Sie nickte und ließ sich auf den Stuhl ihr gegenüber sinken. So tief und weich, dass sie das Gefühl hatte, später nicht wieder hochzukommen. Es war der letzte Stopp auf der Polterabendrunde vor dem Abendessen im Globen Flakket. Solidarisch hatten sie sich alle bereit erklärt, sich die Zukunft vorhersagen zu lassen, und einen Termin gemacht. Aber das war inzwischen lange her, in einer ganz anderen Welt. Vor dem 11. September, der den Erdball erschüttert und Schockwellen bis nach Århus geschickt hatte. Vor dem Kind auf dem Fluss.

      Sie merkte den kalten Schweiß im Nacken.

      »Wir können es ja kurz machen«, schlug sie vorsichtig vor und hielt hoffnungsvoll die Luft an.

      »Nein, nein, das ist nicht nötig«, nieste die Wahrsagerin. »Wir schaffen das noch. Die anderen haben erzählt, dass Sie das Kind auf dem Fluss gefunden haben«, fügte sie hinzu.

      Ida Marie starrte sie an. Dann blinzelte sie.

      »Ja. Wir waren zu dritt.«

      »Und das in Ihrem Zustand«, sagte die Wahrsagerin mütterlich. »Geht es Ihnen wieder besser?«

      Als wüsste sie, dass sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch gestanden hatte. Als könnte sie in der Vergangenheit lesen.

      Ida Marie nickte.

      »Ja.«

      »Aber schlimm ist es noch immer?«

      Wieder ein Nicken.

      »Wenn Sie ein wenig früher gekommen wären, hätte ich es vielleicht vorhersagen können«, sagte Hanne Guldberg, und Ida Marie hatte das Gefühl, als spräche sie zu sich selbst, während sie ein weiteres Papiertaschentuch aus der Schachtel zog. »Vielleicht nicht so detailliert, denn so funktioniert das nicht. Aber trotzdem. Ich hätte Sie bestimmt ein bisschen vorbereiten können«, sagte die Wahrsagerin, nicht ohne einen gewissen fachlichen Stolz in der Stimme, und wurde dann von einem gewaltigen Hustenanfall geschüttelt.

      Ida Marie wollte sie, halb im Spaß, fragen, ob sie auch den 11. September hätte vorhersagen können, ließ es jedoch. Man sollte nicht mit dem Schicksal spaßen. Außerdem wusste sie nicht, warum sie diese beiden Ereignisse in Gedanken plötzlich miteinander verband.

      Wieder war das Bild da. Einen kurzen Moment. Wie klein er war, war ihr allererster Gedanke, als der Verstand wieder zu funktionieren begonnen hatte. Ein ganz kleiner Mensch, der keine Chance bekommen hatte. Sie fror und schlug die Arme um sich, während sie dort vor der Wahrsagerin saß, die sich wieder die Nase putzte. Eine Unsicherheit schien sich in die frühere Sicherheit geschlichen zu haben. Als hätte das ganze Leben eine Kehrtwendung gemacht und sähe plötzlich völlig anders aus. Was war passiert? Was veranlasste einen Menschen im modernen Dänemark, sein Kind auf diese Weise zurückzulassen?

      Sie spürte,

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