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die mehr oder minder gut durchdacht waren und manchmal einen Ansatz von Fremdenhass in sich trugen, obwohl niemand irgendetwas wusste. Seine erwachsene Tochter, die gerade schwanger war, hatte ihm anvertraut, dass sie es nicht wagte, in dem Krankenhaus zu entbinden, und sich für eine Hausgeburt entschieden hatte. Und eine erfahrene Kollegin auf dem Präsidium hatte plötzlich zu weinen begonnen und mit brüchiger Stimme gefragt, ob die Welt denn total verrückt geworden sei. Ob das Böse langsam die Oberhand gewinne. Ihr Sohn war am 11. September in New York gewesen und hatte gesehen, wie das World Trade Center in sich zusammenfiel, und zwei Tage lang hatte sie nicht gewusst, ob er noch lebte, weil das Telefonnetz von New York zusammengebrochen war. Und jetzt setzten Frauen ihre Kinder auf dem Århus aus, und jemand schrieb Neugeborenen stirb auf die Stirn. Was würde als Nächstes kommen?

      Im Präsidium waren sie mit Reaktionen und Hinweisen überschwemmt worden. Nicht dass sie irgendetwas davon brauchen konnten. So war es immer. Die meisten Hinweise dazu, was die Leute gehört oder gesehen hatten, erwiesen sich bei näherer Überprüfung als unbrauchbar. Faktisch hatten sie den ganzen Tag über nur einen Hinweis bekommen, der vielleicht zu irgendetwas führen konnte. Er war von einer Journalistin gekommen, und genau besehen, hätten sie im Präsidium selbst darauf kommen müssen.

      Er spülte mit Kaffee nach, während die anderen sich im Raum verteilten. In einer Ecke saßen drei Altstimmen und diskutierten etwas in den Noten. Hin und wieder schlug jemand vor, wie die Phrasierung sein sollte, und die Stimme erklang im Raum. In einer anderen Ecke standen drei Tenöre und sprachen mit gedämpften Stimmen, während sie die Kalkmalereien studierten, die vor kurzem freigelegt worden waren.

      Er dachte an die Journalistin. Sie war neu. Mit den Jahren hatte er viele Journalisten kennen gelernt; einige besser als andere. Jede Zeitung und jeder Fernsehsender hatten feste Kriminalreporter, in der Regel Männer. Entweder waren sie alte Hasen und wussten genau, wonach sie fragen mussten und was sie nicht fragen durften, und das Resultat ihrer Arbeit war in der Regel ordentlich, aber vorhersehbar. Oder es waren junge Männer; vor allem frisch ausgebildete Journalisten, die alles taten, um Platz auf der Titelseite zu bekommen. Eifrig und draufgängerisch, aber auch ein bisschen blutrünstig. Solche, die eine Geschichte lieber etwas grausamer und blutiger darstellten, anstatt das Menschliche in den Mittelpunkt zu rücken.

      Und dann war da die Neue. Die etwas unsichere und unorthodoxe Dicte Svendsen mit dem wuscheligen Haar und der kleinen Narbe auf der Lippe, die sie ein wenig vernachlässigt aussehen ließ. Als hätte irgendjemand, sicher sie selbst, vergessen, dass sie eigentlich recht hübsch war. Nicht im konventionellen Sinn, aber trotzdem. Als wäre sie lange Zeit zu beschäftigt gewesen, um in den Spiegel zu sehen und ihren graublauen Augen zu begegnen, die an die eines wachsamen Tieres erinnerten. Gar nicht zu reden von der konstanten Bewegung, mit der sie sich sanft die Haare aus den Augen strich, nur damit sie schnell wieder zurückfielen.

      Sie war an diesem Nachmittag, wie verabredet, im Präsidium erschienen. Ohne Tonbandgerät, was ungewöhnlich war.

      »Ich rufe Sie lieber an und lese es Ihnen vor«, hatte sie gesagt.

      Er hätte sich beinahe vor Überraschung auf seinen Stuhl fallen lassen. Es war selten, dass Journalisten von sich aus vorschlugen, ihm den Artikel zu zeigen, bevor er gedruckt wurde.

      »So vermeiden wir Missverständnisse«, hatte sie ihr Vorhaben bekräftigt und sich mit dem Block auf dem Schoß ein wenig nach vorn gebeugt.

      Sie wirkte sehr offen, dachte er. Gerade heraus. Oder sie wollte so wirken, verbarg möglicherweise etwas. Er war sich nicht sicher.

      »Wie gesagt. Ich soll für die Morgenausgabe einen Artikel über die Ereignisse im Krankenhaus schreiben. Meine Freundin hat das Kind mit dem Graffito auf der Stirn gefunden. Das sage ich Ihnen gleich vorab.«

      Auch das überraschte ihn. Viele andere Journalisten hätten diese Information für sich behalten, um sie bei dem folgenden Interview als Überraschungsmoment aus dem Ärmel zu ziehen.

      »Und dann habe ich etwas, das Sie vielleicht brauchen können. Wenn Sie es nicht bereits wissen.«

      Er spitzte die Ohren. Hatte aus irgendeinem Grund Vertrauen, dass sie ihm keinen Unsinn erzählen würde. Dass es wichtig sein könnte, wenn sie es für wichtig hielt.

      Sie saßen in seinem Büro. Sie hatte ein Mineralwasser bekommen, nach dem sie jetzt vorsichtig die Hand ausstreckte, um etwas in ihr Glas einzuschenken, das nicht ganz klar war. Er machte sich im Kopf eine Notiz, dass die Spülmaschine Salz brauchte. Er musste daran denken, in der Küche Bescheid zu sagen. Man musste sich aber auch um alles selbst kümmern.

      »Das Handtuch, in das das Kind gewickelt war«, sagte sie. »Jedenfalls eines davon. Es ist wahrscheinlich im Magasin gekauft worden.«

      Er wusste, dass er sie anglotzte. Dass sie deutlich sehen konnte, wie die Information ihn überraschte.

      »Woher wissen Sie das?«

      Sie erzählte es ihm. Und innerlich verfluchte er seine Leute, dass sie diesem Aspekt des Falles nicht nachgegangen waren. Oder zumindest hatte man ihm nichts davon gesagt.

      Anschließend hatte sie ihn zu den Vorkommnissen im Krankenhaus interviewt, und er musste zugeben, dass er ihr vielleicht mehr Informationen gegeben hatte, als er es normalerweise tat. War das dumm? In der Regel sagte er Journalisten nie mehr als nötig. Eher ein bisschen weniger. Niemandem, genau genommen, denn fünfundzwanzig Dienstjahre hatten ihn gelehrt, seine natürliche Wortkargheit zu pflegen. Aber es war ein wenig wie mit der Musik. Als entlockte sie ihm etwas, das sonst unter Verschluss blieb.

      Er trank den letzten Schluck Kaffee und stand von der harten Kirchenbank auf. Versprach sich, das nächste Mal vorsichtiger zu sein.

      Sein Blick fiel zufällig auf die blonde Sopranistin, die ein wenig abseits allein auf einer Treppe saß und leise übte. Halbschwedin, wie er gehört hatte. Jetzt blickte sie auf, und ein Paar verwunderte blaue Augen begegneten seinen. Als würde sie erst jetzt seiner gewahr, obwohl sie zusammen im Chor sangen und natürlich ein paar Worte über dies und das miteinander gewechselt hatten. Als würde sie begreifen, dass er etwas anderes war als ein Mann mit einer Singstimme.

      Sie lächelte vorsichtig, und er nickte ihr zu und versuchte sich an einem Lächeln, das ein wenig streng ausfiel. Das hatte mit seiner Arbeit zu tun, das wusste er. Er sollte sich daran gewöhnen, hin und wieder ein wenig er selbst zu sein.

      »Wann ist es so weit?«, fragte er, als er in ihrer Hörweite war.

      Unwillkürlich griff sie nach ihrem schwangeren Bauch. Sie war schön, fand er. Mit dem langen, bis zur Taille reichenden blonden Haar und den reinen Zügen glich sie einem der Engel, von denen der Dirigent so gerne sprach.

      »In ungefähr drei Wochen«, sagte sie. »Noch eine Ewigkeit.«

      Irgendwo im Bauch spürte er etwas Warmes und wusste, dass die Worte wahr waren. »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.«

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