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dass er hart war. Da war sie sich sicher. Ganz im Gegenteil. Er hielt es nur nicht aus, darüber zu reden. Bekam richtiggehend Bauchschmerzen davon, sagte er, und jetzt musste sie aufhören. Sie konnte sowieso nichts ändern.

      Aber sie konnte jetzt nicht aufhören. Irgendetwas in ihr schien ihn zwingen zu wollen. Wollte ihn umdrehen und ihm in die Augen sehen und zeigen, dass die Welt grausam und hässlich und widerwärtig war. Dass sie nicht aus der reinen Ästhetik bestand, mit der er im Symphonieorchester Mozart aus seiner Oboe herauszauberte. Aber Anders hatte sich mit den dunklen Seiten dieses Lebens immer schwer getan. Sie wusste, dass das damit zusammenhing, dass er seinen Vater gefunden hatte, als er sich erhängt hatte. Sie sollte aufhören. Verständnisvoll sein. Aber es wollte heraus.

      »Er war noch warm«, erinnerte sie sich, und wieder spürte sie die Schwere des toten Kindes auf ihrem Arm. »Er war bestimmt erst wenige Minuten tot.«

      »Anne!«

      Er sagte es in einem Ton, als hätte sie etwas Ekliges beim Essen gesagt. Drehte ihr den Rücken zu und zog die Decke mit sich.

      »Entschuldigung«, stieß sie hervor. »Ich kann es nicht lassen.«

      In der Regel sagte sie nichts, wenn bei der Arbeit etwas Trauriges passierte. Wenn etwas schief lief. Wohl wissend, dass seine Welt eine andere war. Eine, die aus Schönheit bestand.

      Sie wusste auch, dass er am liebsten an seiner romantischen Vorstellung von ihr als Hebamme festhalten wollte. Als wäre sie eine Art Engel, der kleine Kinder ebenso leicht und schmerzfrei in die Welt brachte wie der Storch. War er etwa nicht umgekippt, als Jacob geboren wurde? Hatte er etwa nicht anschließend erklärt, dass er nie mehr in seinem Leben einen Fuß in einen Kreißsaal setzen würde, weil das alle Mystik kaputtmache und alles so blutig und barsch erscheinen ließ. So unappetitlich, hätte er auch sagen können, aber das tat er dann doch nicht.

      Sie hatte ihm erklärt, dass es nun einmal so war. Dass zu einer Geburt auch Blut und Schleim gehörten und alles, was aus menschlichen Öffnungen kommen konnte. Aber mitten in dem Schmerz war auch eine Schönheit und gerade deshalb etwas fast Heiliges. Trotzdem war ihm die Lust auf Sex drei Monate lang vergangen, weil er ihren Körper plötzlich mit einem Albtraum aus Schreien und Blut und Schmerz verbunden hatte.

      Sie musste fast lächeln, wie sie da auf ihrer Seite lag und daran zurückdachte.

      Anders, der Kriegsdienstverweigerer aus Hobro, der nicht einmal eine Spinne totschlagen und kein Blut sehen konnte. Nicht einmal sein eigenes. In den sie sich verliebt hatte, als sie zusammen mit einer Freundin irrtümlich auf einem Fest des Musikinstituts gelandet war. Der schöne Anders mit den schlanken Fingern und der zarten Haut. Seine Augen waren weich wie geschmolzene Schokolade und vielleicht, hatte sie manchmal gedacht, hatte der liebe Gott sich vorgestellt, dass ein Mädchen aus ihm hätte werden sollen. Durch ein Spiel des Schicksals war er als Junge aus dem Schoß seiner Mutter gekommen, und es schien, als würde er viel Zeit darauf verwenden, seine Maskulinität zu unterstreichen, indem er Lederhosen und Cowboystiefel trug und sich wie ein Cowboy bewegte, der gerade aus dem Sattel gestiegen war. Aber die Empfindsamkeit konnten auch die gröbsten Nieten auf der Jeansjacke ihm nicht nehmen. Von ihr lebte er auch, und er pflegte seine Halsentzündungen und seine Erkältungen wie andere ihren Ziergarten.

      Sie seufzte gegen die Seidenhaut seines Rückens. Atmete seinen Duft ein. In der Regel hatte sie Nachsicht mit ihm, denn er konnte zaubern. Wenn sie sich liebten, glich er einem Blinden. Als konzentrierten sich alle Sinne in den empfindsamen Fingerspitzen, die über ihren Körper wanderten. Und mit der Oboe an den Lippen konnte er einem Märchen Leben einhauchen und sie in eine Welt der Schönheit entführen.

      Aber diese Welt war eine Illusion, dachte sie jetzt, als sie neben ihm lag. Sie hatte nichts mit der Wirklichkeit gemein. Nichts mit dem Kind auf dem Fluss.

      »Sie haben ihn ins Gemeindekrankenhaus gebracht«, sagte sie leise, obwohl sie wusste, dass er dabei war einzuschlafen. »Ins pathologische Institut.«

      Sie wollte noch hinzufügen, dass sie ihn sicher gleich obduziert hatten, aber das würde Anders nicht verkraften. Eigentlich konnte sie jeden Gedanken an Verständnis auch gleich aufgeben. An eine tröstende Schulter.

      »Können wir jetzt nicht endlich schlafen?«, gähnte er. »Ich habe morgen einen langen Probentag.«

      Und abends ein Konzert, hätte sie hinzufügen können. Denn das war die Realität, in der es unmöglich war, genügend Zeit zu finden, um zwei verschiedene Jobs miteinander in Einklang zu bringen. Jacob war jetzt sechs und ging glücklicherweise nach der Schule in den Hort, wenn weder sie noch Anders zu Hause waren. Aber es war und blieb ein Puzzlespiel. Vor allem wenn sie Abendschicht hatte und Anders in einem Konzert spielte. Dann blieb als Lösung nur die Schwiegermutter, die sich gut dafür bezahlen ließ. Nicht in Geld natürlich, sondern in Worten. Es gab keine Grenzen für das, was Anne sich über die Krankheiten der Schwiegermutter anhören musste. Aber so war es nun einmal, wenn die Leute glaubten, dass man fast eine Ärztin war.

      »Gute Nacht, mein Schatz«, kam es bestimmt von Anders’ Rücken.

      Die Gedanken schwirrten ihr noch eine Weile durch den Kopf, dann lösten sie sich allmählich in traumhafte Gebilde auf.

      Sie wälzte sich im Bett. Spürte den Drang, sich an ihn zu kuscheln und an ihm festzusaugen und zu versichern, dass sie noch immer einander hatten und dass sie sich immer wieder zusammenrauften. Dass sie einander eine Stütze waren. Aber vielleicht war das eine Illusion, ebenso, wie seine Welt der Schönheit eine war. Vielleicht suchte sie nach Kräften, die er nicht hatte und nie gehabt hatte.

      »Was haben wir heute? Wer holt Kaffee?«

      Die Chefhebamme Vibeke Termansen eröffnete die Morgenbesprechung. Maria, die jüngste Hebamme auf der Entbindungsstation, studierte den Plan und referierte:

      »Von den Routinearbeiten einmal abgesehen, haben wir zwei Erstgebärende, die eine mit Zwillingen. Fünf hoffentlich normale Geburten, eine Steißlage und eine Totgeburt.«

      Um den Tisch wurde es still. Wie immer bei Totgeburten.

      »Inge Jespersen. Wie geht es ihr?«, fragte Anne.

      Aber die Frage erübrigte sich eigentlich. Sie hatte schon mit der Frau gesprochen. Wusste, dass sie um diese Schwangerschaft gekämpft und drei spontane Aborte hinter sich hatte. Im Alter von sechsunddreißig Jahren war es ihr endlich gelungen, das Kind so lange zu behalten, dass die Geburt in Reichweite rückte. Der Termin hätte in einem Monat sein sollen. Aber vor einer Woche hatte Inge Jespersen geklagt, dass das Kind sich vierundzwanzig Stunden lang nicht bewegt hätte. Plötzlich waren keine Herztöne mehr zu hören gewesen. Eine Untersuchung hatte ergeben, dass das kleine Mädchen tot war. Die Ursache war nicht bekannt.

      »Wie zu erwarten«, murmelte Vibeke, die mehr Totgeburten erlebt hatte als sie alle zusammen. »Wer kümmert sich um sie?«

      »Das mache ich«, sagte Hanne, die aus Ringkøbing kam und immer einen gewissen Überschuss an Kraft hatte.

      Sie blieben noch eine Weile sitzen, um es zu verdauen.

      »Die Polizei hat angerufen«, sagte Vibeke schließlich leise.

      »Wegen dem Kind auf dem Fluss?«, fragte Anne.

      Vibeke nickte.

      »Sie wollten wissen, ob wir ein paar ganz junge Mädchen zur Untersuchung hierhatten. Von anderer ethnischer Herkunft, wie man das heute nennt. Mädchen, die nicht zur Geburt erschienen sind.«

      »Suchen sie nur nach Ausländerinnen?«, fragte Maria, die es mit der Etikette nicht so genau nahm. Entweder man war Däne oder man war es nicht, und die meisten Menschen fremder Abstammung fielen in die letzte Kategorie. Sie biss in ein Brötchen. »Haben sie nur nach ganz jungen gefragt?«

      Die Chefhebamme zuckte mit den Schultern.

      »Ja. Ich habe ihnen gesagt, dass wir niemanden hierhatten, der in dieses Schema passt. Und dass eine Schwangerschaftsdepression sowohl ältere als auch jüngere Frauen treffen kann. Falls das der Grund war.«

      Anne nickte. Auf der

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