Скачать книгу

      »Hör mal zu, Holger«, begann sie. »Ich habe nicht um den Job gebeten, verstehst du? Ich brauche deine Hilfe.«

      Aber von ihm, der jetzt ihr Konkurrent war, war keine Hilfe zu erwarten, ob ihr das recht war oder nicht.

      Mit zitternden Händen suchte sie im Telefonbuch nach der Nummer des Krankenhauses. Ruhig und gefasst. Ruhig und gefasst, wiederholte sie, während sie die Seiten umblätterte. Sie hatten die Auflage, die Auskunft nicht mehr als nötig in Anspruch zu nehmen. Sie hatte gerade die Nummer gewählt, als Bo flötend hereinkam, seine Tasche auf das Sofa warf und ihr ein vergrößertes Foto unter die Nase hielt.

      »Je t’aime.«

      »Was?«

      Bo zeigte auf das Foto.

      »Sie sind von Je t’aime. Kennst du die Marke?«

      Sie drückte auf die Gabel. Starrte das Foto an. Verwirrt, weil ihre Gedanken noch beim Krankenhaus waren.

      »Das Handtuch«, sagte er freundlich. »Gute Qualität. Französisch.«

      »Wo gibt es die?«

      »Im Magasin«, lächelte er triumphierend. »Nur im Magasin. Meine Kusine arbeitet dort.«

      10.

      Die Stimmen wanden sich in- und umeinander bis hoch in die Wölbung des Kirchenschiffs. Die Domkirche von Århus war für Brahms’ Requiem wie geschaffen.

      Er sang. Spürte, wie sich die innere Uniform auflöste und er er selbst wurde. Nicht der Kriminalkommissar John Wagner, sondern der Bass John Wagner. Der singende Polizist, wie er im Polizeipräsidium genannt wurde, das wusste er. Aber es war ihm egal. Nein, vielleicht nicht ganz. Nicht, wenn er den Mangel an Respekt seitens der jungen Beamten spürte, aber das gab sich schnell. Anfangs begriffen sie nicht, dass man trotzdem tatkräftig und hart sein konnte, auch wenn man einem Hobby wie dem Singen in einem Chor nachging, sodass er hin und wieder ein Exempel statuieren musste. Sie verstanden nicht, dass es eine Stärke und keine Schwäche war, einen Ort zu haben, eine Insel für die Gefühle. Dass es ihn zu dem machte, der er war. Zu dem, der die Verantwortung trug und der sich nicht drückte. Der all das in einem Kasten verschließen konnte, dessen Existenz sie oft leugneten. So gewaltsam leugneten, dass sie die Abgestumpftheit an den Tag legten, die die Leute nur allzu oft mit der Polizei in Verbindung brachten.

      »Selig sind, die da Leid tragen«, sang der Chor, und die Soprane waren hell und rein und versprachen himmlische Seligkeit mit Posaunen und Engeln. Die Mittelstimmen waren die tragenden und gaben Fülle, und die Bässe bildeten den Grund, während der Dirigent Blumen in der Luft zeichnete.

      Er formte die Worte; mischte seine Stimme mit den Sopranen, Altstimmen und Tenören, sodass der Klang voll und schwebend wurde, sich des Raums bemächtigte und ihn forttrug.

      Selig sind, die da Leid tragen.

      Er ließ die Worte aus seinem Mund strömen und dachte an Nina. Spürte, wie seine Brust sich zusammenschnürte, dass es zugleich weh und gut tat. Es war jetzt ein halbes Jahr her, und er trauerte noch immer, das wusste er. Nicht nach außen hin. Aber in seinem Inneren. Ganz tief drinnen, wo nur die Musik hingelangte. Dieses zähe, dichte Requiem, das sie zu Weihnachten aufführen wollten und das ihn vom ersten Probentag an begleitete. Dessen Worte in diesen Tagen in ihm lebten. Tag und Nacht.

      Nicht dass er Zeit hatte, zu allen Proben zu erscheinen, natürlich nicht. Hin und wieder hatte die Arbeit ihn auch an den Abenden gefordert, und außerdem war da Alexander. Was das anging, war es ein Geschenk, eine Schwester zu haben, die ein wenig weiter die Straße hinunter wohnte und einen Sohn im gleichen Alter hatte. Er wusste wirklich nicht, was er in den letzten Jahren ohne Hanne gemacht hätte.

      Der Dirigent ließ die Arme sinken. Wandte sich an die Soprane.

      »Hier brauchen wir einen fast überirdischen Klang. Piano pianissimo, steht da. Wie von einem Engelschor«, sagte er bildhaft. »Wir fangen bei E an.«

      Die hellen Stimmen sangen. Sie hatten acht Soprane, ganz unterschiedlich im Charakter, aber jeder mit seiner ihm eigenen Stärke. Besonders ein Sopran war ihm aufgefallen. Nicht dass er die Frau kannte. Er hatte erst vor ein paar Monaten wieder im Chor zu singen begonnen, nach der Pause nach Ninas Krankheit. Aber sie und ihre Stimme hatten etwas so Reines, Zartes, dass es ihn mitten ins Herz traf.

      »Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden.

      Selig sind, die da Sorge tragen, denn sie sollen Trost finden.«

      Er hoffte, dass das stimmte. Wusste in seinem tiefsten Inneren, dass eines Tages der Punkt kommen würde, wo die Trauer nachließ. Sie würde immer da sein, in gleichem Umfang, aber vielleicht mit ein wenig mehr Freude durchsetzt. Ein wenig mehr Leichtigkeit, wie wenn die Soprane sangen und das Dunkel sich lichtete.

      Zumindest hatte er die Musik, die ein Trost in sich war. Eine Stärke. Und die konnte vonnöten sein, auch wenn er an all das andere dachte. Das, was in den letzten Tagen auf seinem Schreibtisch gelandet war, und das ausreichte, um jeden verantwortungsbewussten Polizisten zu stressen. Das Rätsel um das Kind auf dem Fluss und jetzt das Problem auf der Entbindungsstation des Krankenhauses.

      Er seufzte. Hin und wieder war es gar nicht so einfach, den Glauben an das Gute nicht zu verlieren.

      Nach der Arbeit mit den Sopranen, die jetzt wie ein Engelschor klangen, unterbrach der Dirigent die Probe.

      »Eine Viertelstunde Pause«, verkündete er. »Es gibt Thermoskannen mit Tee und Kaffee. Und Iben hat Kuchen gebacken, soll ich sagen und grüßen.«

      Die Leute stellten sich an. Unterhielten sich. Vielleicht sprachen sie so leise, weil sie sich in einer Kirche befanden.

      »Hallo, John«, sagte jemand neben ihm, der auch zu den Tenören gehörte. »Ich hätte nicht gedacht, dass du heute Zeit hast. Nach allem, was in der Stadt passiert ist.«

      Wagner sah ihn von der Seite an.

      »Es war auch nicht leicht, mich frei zu machen. Aber es gibt andere gute Hände, die sich in der Zwischenzeit der Sache annehmen können.«

      Er sagte das in der Gewissheit, den größten Teil der Nacht mit dem Lesen von Protokollen und dem Zermartern seines Gehirns zu verbringen. So war es in der Regel, wenn ein neuer Fall brannte. Man konnte ihn nie ganz loslassen.

      Der Sangesbruder nickte verständnisvoll.

      »Hässliche Geschichte, das mit dem Krankenhaus.«

      Wagner nickte zurück. Äußerte sich nicht weiter dazu. Es entsprach nicht seiner Natur, mehr als notwendig zu sagen, und außerhalb der Arbeitszeit sprach er in der Regel nicht über die Fälle. Das wusste der Tenor gut, aber er fuhr trotzdem fort.

      »Meine Frau hat vor einem halben Jahr ein Kind zur Welt gebracht. Ich kann dir sagen, dass ihr ganz komisch wurde, als sie das gehört hat. Da läuft es einem wirklich kalt den Rücken herunter. Und dann hier. In unserer Stadt. Das muss man sich einmal vorstellen.«

      Sie waren bei den Thermoskannen angelangt, und Wagner goss Kaffee in seine und die Tasse des Sangesbruders. Er nahm sich ein Stück Kuchen und setzte sich auf eine Kirchenbank, ein wenig von der restlichen Versammlung entfernt, die leise summte. Normalerweise war er ziemlich sozial, aber heute brauchte er Zeit zum Nachdenken. Vielleicht hätte er gar nicht kommen sollen. Plötzlich schien ernsthaft eine Scheidelinie zwischen Bürgern und Polizei entstanden zu sein. In der Luft schien eine Erwartung zu liegen, die er sonst nur selten spürte.

      Das Interesse der Leute war neu, denn so oft interessierte sich sonst niemand für seine Arbeit. Aber die Ereignisse der letzten Tage hatten etwas in Gang gesetzt, und vor Probenbeginn hatten ihn viele nach dem Stand der Ermittlungen gefragt.

      Er brach ein Stück von dem Kuchen ab und schnupperte. Er duftete nach Rosinen und Sukkade und erinnerte ihn an Weihnachten, obwohl der Oktober gerade erst begonnen hatte.

      Seltsam, wie der Charakter eines Verbrechens Auswirkungen auf die Reaktionen der Menschen hatte, dachte er, während er kaute. Natürlich waren

Скачать книгу