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Schweigen, jeder in seine eigenen Gedanken versponnen, fast wie Feinde. Beide atmeten auf, als Dr. Jorg nach einigen Tagen endlich wieder seinen Dienst in der Unfallklinik antreten mußte und durfte.

      Sein Team war der Nachmittagsschicht zugeteilt, und er verließ nach dem Mittagessen das Haus, eilig, nach flüchtigem Abschied, fast wie auf einer Flucht.

      In der Haustür drehte er sich noch einmal um, sagte, als wenn er sich jetzt erst erinnerte: „Ich hole dich also heute abend ab! Laß mich bitte nicht warten.“

      Inge ballte unwillkürlich die kleinen Hände, um nicht die Beherrschung zu verlieren, erklärte mit zitternder Stimme: „Ich möchte nicht zu dieser Frau!“

      Er hob die Augenbrauen. „Nicht? Na, ganz, wie du willst.“ Er war schon halb aus der Tür,

      Sie ertrug es nicht länger. „Richard!“ rief sie verzweifelt.

      Aber er drehte sich nicht einmal um. „Du kannst mich ja anrufen, wenn du es dir anders überlegt hast“, rief er über die Schulter zurück, „entschuldige bitte, ich hab’s eilig!“

      Und damit eilte er durch den Vorgarten davon.

      Sie stand in der Haustür und sah ihm aus großen Augen nach. Es war ihr, als wenn ihre kleine, festgefügte Welt wie ein Kartenhaus zusammenbräche.

      Dr. Jorg war zehn Minuten zu früh in der Klinik, und normalerweise hätte er sich sogleich zur Ablösung gemeldet. Diesmal ließ er sich erst eine Tasse Kaffee geben, rauchte noch eine Zigarette und richtete es so ein, daß er erst Punkt zwei Uhr zum Vorbereitungszimmer aufbrach.

      In der Tür traf er mit Oberarzt Dr. Müller zusammen. „Hallo, Dr. Jorg!“ sagte der ältere Kollege herzlich. „Wie geht’s? Wieder auf den Beinen?“

      „Danke. Alles in Ordnung“, erwiderte Dr. Jorg kurz.

      „Na, ist ja großartig. Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht.“

      „Absolut unnötig.“

      „Wissen Sie übrigens, daß Ihr Hämatom außer Gefahr ist?“

      „Ach ja?“ Dr. Jorg mußte sich erst besinnen, wovon der Oberarzt überhaupt sprach, dann erst fiel ihm der junge Mann wieder ein, der mit seinem englischen Sportwagen in einen VW gerast war und einen Bluterguß unter der Hirnhaut davongetragen hatte. Er begriff, daß Dr. Müller etwas mehr Begeisterung von ihm erwartete und sagte gezwungen: „Freut mich sehr!“

      Er öffnete die Tür zum Vorbereitungszimmer und ließ den Vorgesetzten eintreten, und nun ergab sich keine Möglichkeit mehr zu einem privaten Gespräch.

      Dr. Jorg trat zu Dr. Willy Markus, der gerade eine Patientin untersucht hatte. Die Kranke war sehr blaß, hektische rote Flecken standen auf ihren Backenknochen, das rötliche Haar war schweißverklebt.

      „Unfall?“ fragte Dr. Jorg.

      „Nein. Wahrscheinlich Appendizitis. Ich habe die Anamnese der Schwester diktiert.“ Dr. Markus drehte sich um und ging.

      Dr. Jorg begriff, daß er ihren Zusammenstoß nach dem Unfall immer noch nicht vergessen hatte. Er wußte, daß es vielleicht nur eines einzigen Wortes bedurft hätte, um ihn wieder zu versöhnen. Aber er konnte sich nicht dazu aufraffen, ließ den Freund gehen.

      „Bitte, Schwester!“ sagte er.

      „Patientin ist 21 Jahre“, las die Schwester von ihren Notizen ab, „bisher immer gesund. Hat in der Nacht Übelkeit und Erbrechen gehabt, Druck in der Magengegend. Ist trotzdem heute morgen zur Arbeit gegangen. Schmerz verlagerte sich mehr in den rechten Unterleib, wurde heftiger. Ihr Chef ließ sie in die Unfallklinik bringen.“

      „Temperatur?“

      „Axillar 38,3, rektal 39. Leukozyten betragen 10 000.“

      Mit vorsichtigen Händen tastete Dr. Jorg den Leib der Patientin ab. Die Bauchdecke war leicht angespannt, sie ließ sich nur wenig eindrücken. Als er den sogenannten MacBurneyschen Punkt berührte, auf der rechten Seite des Unterleibs, etwa fünf Zentimeter vom Nabel entfernt, schrie die Patientin leicht auf.

      Dr. Jorg drückte den Unterleib auf der linken, also der gesunden Seite ein, ließ rasch wieder los – auch diesmal reagierte die Patientin.

      „Wo hat’s weh getan?“ fragte Dr. Jorg.

      „Hier . . . hier unten!“ Die Patientin deutete auf die rechte Seite.

      „MacBurney positiv, Loslaßschmerz, mäßige Abwehrspannung“, diktierte Dr. Jorg der Schwester.

      Die Patientin fühlte sich durch die ihr unverständlichen Ausdrücke sichtlich beunruhigt. „Ist es etwas sehr Schlimmes, Herr Doktor?“ fragte sie angstvoll.

      „Ach wo“, sagte Dr. Jorg, „Blinddarmentzündung. Klassischer Fall. In spätestens einer Stunde sind Sie den Übeltäter los.“

      Er wandte sich an die Schwester. „Bringen Sie die Patientin in den OP und benachrichtigen Sie die Anästhesie.“

      Eine Viertelstunde später betrat Dr. Richard Jorg den OP. Dr. Köhler, den der Oberarzt ihm als Assistenten zugewiesen hatte, folgte ihm. Sie trugen beide grüne Kittel, grüne Kappen und den vorschriftsmäßigen Mundschutz. Sie hatten sich die Hände zehn Minuten lang unter fließendem, heißem Wasser gewaschen und sterile Gummihandschuhe übergezogen.

      Die Patientin lag in Narkose, der Anästhesist saß neben ihr, überwachte Kreislauf, Blutdruck, Puls. Der Körper der Patientin war von grünen sterilen Tüchern völlig abgedeckt. Nur das Operationsfeld, mit einer braunen Desinfektionslösung bestrichen, lag sichtbar im schattenlosen Licht.

      Dr. Jorg sah den Anästhesisten an. „Können wir?“

      Der nickte. „Ich bin soweit.“

      Dr. Jorg streckte die Hand aus, und die OP-Schwester reichte ihm das Skalpell.

      Dr. Jorg zögerte eine Sekunde, bevor er das haarfeine Messer ansetzte – ein seltsames Wohlbehagen durchströmte ihn. Sonst hatte es ihn immer wieder eine gewisse Überwindung gekostet, einen Eingriff in einen lebendigen, atmenden, menschlichen Organismus vorzunehmen, aber heute empfand er zum erstenmal ein beglückendes Gefühl von Macht.

      Er setzte das Skalpell am rechten Unterleib an, zog es etwa drei Zentimeter lang schräg durch die Haut. Das herausströmende Blut erschien ihm prachtvoll, es tat ihm fast leid, daß sein Assistent es sofort stillte.

      Er durchtrennte die Muskulatur, dann das Bauchfell, und je tiefer er drang, desto mehr genoß er es.

      Dann endlich lag die Bauchhöhle offen vor ihm, er griff mit der rechten Hand hinein, verfolgte den Blinddarm bis zu seinem Anhangteil, dem Appendix. Er war stark gerötet, es handelte sich um eine massive Entzündung.

      „Klemmen!“

      Der Anhang wurde mit zwei Klemmen gefaßt, der Assistent entfernte ihn mit dem elektrischen Messer. Jetzt war der Darm geöffnet, und es galt zu verhüten, daß die unsterile Wunde mit ihrer Umgebung in Berührung kam.

      Dr. Jorg arbeitete wie in einem Rausch. Er stülpte den Stumpf des Darmes ein, brachte dann ringförmig die sogenannte Tabaksbeutelnaht an, die nach Versenkung des Stumpfes zugezogen wurde. Es folgten zwei Z-Nähte, dann wurde der Darm wieder in die Bauchhöhle versenkt. Jeder Handgriff wurde von Dr. Jorg exakt, fast mit schlafwandlerischer Sicherheit ausgeführt. Er vernähte das Bauchfell, die Muskulatur, verschloß das Fettpolster, verklammerte die Haut.

      Dann war es vorbei, und Dr. Jorg fühlte sich jäh ernüchtert. Kaum zehn Minuten hatte die Operation gedauert, er hätte noch lange, sehr lange weitermachen mögen.

      Aber was zu tun war, war getan. Dr. Köhler legte noch einen sterilen Verband an, und Dr. Jorg sah zu, als wenn es ihm schwerfiele, sich vom Schauplatz zu trennen. Es war ihm, als wenn er etwas vergessen hätte, aber er kam nicht darauf, was es war.

      „Zustand der Patientin befriedigend“, meldete der Anästhesist, „Kreislauf in Ordnung, Puls gleichmäßig.“

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