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unnatürlich geweitet.

      Sie nahm seine Hand. „Bitte, komm mit nach oben! Evchen ist . . .“

      Er rührte sich nicht vom Fleck. „Was ist mit dem Kind?“

      „Ich weiß es nicht! Sie kam mir den ganzen Tag schon so sonderbar vor. Vor dem Schlafengehen habe ich dann Fieber gemessen . . . sie hat 38,2! Bitte, Richard, sieh sie dir an!“

      „Nein“, sagte er.

      Sie ließ seine Hand los, starrte ihn an. „Du willst nicht?“

      „Ich kann nicht, Inge . . . glaub mir, ich kann es nicht!“ Er schlug beide Hände vor das Gesicht.

      Mitleid und Angst um ihren Mann kämpften in ihr mit der Sorge um ihre Tochter.

      „Richard“, sagte sie, „Richard . . . was ist geschehen?“ Sie führte ihn zu einem Sessel.

      „Sag es mir“, bat sie, „sag mir alles!“

      Es dauerte lange, bis er sprechen konnte. „Ich . . . bin“, sagte er schließlich mühsam, „ich habe . . . beinahe . . . einen Menschen getötet!“

      „Du!?“

      Sie fühlte, wie er zusammenzuckte, biß sich auf die Lippen, fügte so ruhig wie es ihr möglich war, hinzu: „Wie war denn das möglich? Ein Verkehrsunfall?“

      „Nein. Selbstmord.“

      Sie versuchte angestrengt, die Zusammenhänge zu begreifen, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte nur seine übermächtige Verzweiflung und den brennenden Wunsch, ihm zu helfen.

      Ganz allmählich löste sich seine Verkrampfung unter ihren sanften streichelnden Händen, Alles, was er an diesem Abend erlebt hatte, brach aus ihm heraus, erst bruchstückhaft, undeutlich, fast unverständlich, dann wie eine wahre Sturzflut.

      „Du siehst“, schloß er endlich erschöpft, „ich habe versagt . . . mörderisch versagt! Ich . . . ich tauge nicht länger, Arzt zu sein!“

      „Aber, Richard“, sagte sie erschüttert, „Richard . . . so darfst du die Dinge doch nicht betrachten!“

      „Ich bin kein Mensch, der sich etwas vormachen kann . . .“

      Sie suchte verzweifelt nach Argumenten, die sie ihm entgegenzusetzen, mit denen sie ihn beruhigen konnte. „Meinst du nicht“, sagte sie endlich, „daß jedem Arzt mal ein Fehler unterläuft? Früher oder später? Ihr seid doch schließlich auch nur Menschen.“

      „Ja, man kann sich irren, das gebe ich ja zu . . . man kann eine falsche Diagnose stellen, eine verfehlte Therapie anordnen . . . aber man darf sich doch nicht so irren, einfach irren, ohne es selber zu merken! Das ist ja gerade das Unheimliche, begreifst du denn nicht? Daß ich mir überhaupt nicht bewußt geworden bin, eine zu starke Dosis aufgezogen zu haben!“

      „Du hättest sie niemals wirklich gespritzt“, behauptete sie verzweifelt, „auch wenn dein Kollege nicht zufällig hereingekommen wäre . . . du hättest ganz bestimmt noch rechtzeitig bemerkt, daß du zuviel genommen hast!“

      „Nein!“

      „Aber woher willst du das wissen? Du prüfst doch bestimmt immer noch einmal den Inhalt der Spritze, bevor du injizierst . . . hältst sie gegen das Licht, um dich zu vergewissern, daß keine Luftbläschen drin sind, nicht wahr?“

      „Das schon . . .“

      „Na, siehst du! Dabei wäre es dir aufgefallen!“

      „Ich weiß es nicht“, sagte er, durch ihr Vertrauen in ihn beeindruckt, „das Schlimme ist . . . ich weiß überhaupt nichts mehr.“

      „Dafür aber ich“, sagte sie, „mir scheint, ich kenne dich besser als du selber!“

      „Ich hätte nie für möglich gehalten, daß ich . . .“

      Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Du hast auch noch nie in diesem Zustand einen ärztlichen Eingriff vorgenommen! Denk doch auch mal daran . . . du hattest deinen Arbeitstag schon hinter dir, du hast bestimmt bei Fräulein Krüger getrunken, nicht wahr?“

      „Ja“, sagte er, „ja . . .“

      „Na, siehst du! Kein Wunder, daß du nicht so klar warst wie gewöhnlich! Nein, Richard, Liebster, glaube mir, du hast gar keinen Grund zu Selbstanklagen! Du machst es dir einfach zu schwer . . . jeder andere Arzt in deiner Situation wäre gar nicht mit zur Unfallklinik gefahren, und was dann? Dann wäre die alte Dame wahrscheinlich jetzt schon tot, weil man sich nicht rasch genug um sie gekümmert hätte!“

      „Wenn ich das nur glauben könnte.“

      „Du kannst es, Richard, glaube mir . . . es gibt keinen besseren Arzt als dich.“

      Als er schwieg, beugte sie sich über ihn, streichelte ihm zärtlich die Stirn.

      „Ach, Inge“, sagte er und lehnte seinen müden, schmerzenden Kopf an ihre Brust, „du bist so gut zu mir . . . so unendlich gut! Und wie habe ich mich dir gegenüber benommen in den letzten Tagen . . . wie ein wahres Scheusal!“

      Sie konnte schon wieder lachen. „Scheusal! Ja, mit dieser Bezeichnung hast du den Nagel auf den Kopf getroffen!“

      Sie beugte sich zu ihm herab, ihre Lippen fanden sich in einem langen, beglückenden Kuß.

      Dann rutschte sie von der Sessellehne. „Bitte, Richard“, bat sie, „bitte, komm jetzt mit nach oben und sieh nach Evchen! Ich mache mir ernstliche Sorgen!“

      Tatsächlich hatte sie über dem Gespräch mit ihrem Mann nicht eine Sekunde lang das fiebernde Kind vergessen, aber sie hatte begriffen, daß seine Not die schwerere war.

      „Laß mich erst die Hände waschen“, sagte er.

      „Ja, natürlich. Ich laufe schon voraus.“

      Als er fünf Minuten später nach oben kam, saß Inge am Bett ihres Töchterchens. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der Nachttischlampe. Die bunten Märchenfiguren an den Wänden, die winzigen Möbel, der Puppenwagen neben dem Bettchen und der Teddybär auf der Kommode gaben dem Zimmer eine verspielte, trauliche Atmosphäre. Es schien unvorstellbar, daß Krankheit und Kummer hier jemals Einzug finden konnten.

      Inge sah auf, als er eintrat, sagte: „Sie schläft . . . ist das ein gutes Zeichen?“

      Er lächelte ihr beruhigend zu. „Ich glaube schon!“ Er trat näher, öffnete seine Bereitschaftstasche. „Aber ich fürchte, wir müssen unseren Schatz wecken!“

      Inge beugte sich tiefer über ihre kleine Tochter, faßte sie bei den Schultern. „Evchen“, sagte sie, „Evchen . . . Papi ist da! Wach auf . . . Papi will mit dir spielen!“

      Verschlafen öffnete Evchen die blauen Augen. Ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen. Dann erkannte sie den Vater, und ein Leuchten überflog ihr glühendes Gesichtchen. Sie streckte beide Ärmenen aus. „Papi . . . Papi!“

      „Ja, mein Liebling . . . Papi ist da!“ Er hob sein Töchterchen aus dem Bett, nahm es hoch, drückte ihr heißes Gesichtchen an seine Wange.

      „Papi will schauen, wie es dir geht!“

      Evchen packte die Nase des Vaters, zupfte daran und krähte vor Vergnügen, als er eine komische Grimasse zog – das war eines der Lieblingsspiele von Vater und Tochter.

      Er lächelte Inge über den Kopf der Kleinen zu. „Sehr elend scheint sie sich wirklich nicht zu fühlen! Aber wir werden sehen . . .“ Er legte das Kind in ihre Arme, holte einen hölzernen Spachtel und eine kleine Lampe aus seiner Tasche.

      „Mund auf, junge Dame“, kommandierte er, „ganz weit . . . sooo!“

      Rasch schob er den Spachtel auf ihre Zunge, drückte sie herunter, leuchtete in ihren Hals. „Mach mal ah, Evchen . . . aaaahhh! Ganz laut!“

      Das Kind gab einen Laut von sich, der nur wenig Ähnlichkeit mit dem gewünschten Ah hatte, aber Dr. Jorg gab sich

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