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ihn stolpern konnte.

      Sana Basel und Ronald trafen sich zufällig im Sommer 1949 in der hutterischen Kolonie Rockport in Alberta. Aufgrund ihres Einflusses als Oberköchin erhielt sie die einmalige Gelegenheit zu einer Reise, um in einigen der Lehrerleut-Kolonien der Provinz einen Höflichkeitsbesuch abzustatten, unter anderem in Rockport. Ronald hatte seine Jugend in der Kolonie Rockport verbracht und kehrte zum ersten Mal nach sieben Jahren zurück, um mit dem Pastor der Kolonie über die Zukunft seiner Familie zu sprechen.

      Als Ronald Sana Basel anvertraute, dass er in wenigen Tagen mit dem Zug zurück nach Osten in eine ungewisse Zukunft fahren würde, ordnete sie ohne lange zu überlegen seine Pläne um. »Besuche uns in der Kolonie New Rosedale in Manitoba«, drängte sie in ihrer liebenswürdigen Art. »Ruf uns an, wenn du am Bahnhof in Portage la Prairie ankommst, dann holen wir dich ab.« Sana Basel war gostfrei und charmant und hatte ein Herz für alle, deren Leben mit Unsicherheiten und Ungewissheit belastet war. Ronald fühlte sich von dem offenen Gesicht und der liebevollen Art dieser vierzigjährigen Frau angezogen, die die Wärme und Fürsorglichkeit einer Mutter und die tröstliche Nähe eines alten Freundes ausstrahlte. Er fühlte sich von ihr wertgeschätzt wie seit Jahren nicht mehr. Ihrer verlockenden Einladung konnte er nicht widerstehen.

      Bald nach ihrer Rückkehr nach New Rosedale erhielt Sana Basel die Nachricht, dass ihr Besucher am Bahnhof angekommen ist, und schnell beauftragte sie ihren Mann Paul »Vetter« oder »Onkel Paul« und ihren Sohn Paul Junior, ihn abzuholen. Sie kamen rechtzeitig zum Lunschen (Mahlzeit um 15 Uhr) zurück, dem einzigen Essen, das jede Familie in ihrem eigenen Haus einnahm. Als Ronald das Haus betrat, leuchteten Sana Basels Augen auf und sie begrüßte ihn überschwänglich, holte einen Stuhl für ihn und nahm ihm seinen Hut aus der Hand. »Reinhold, sog was! Ronald, sag etwas!«, forderte Sana ihn auf, während sie den Hut einer ihrer Töchter reichte. Man vermutete, dass er besonders interessante Dinge gehört oder gesehen hatte, da er durch mehrere Provinzen gereist war, und sie erwartete, Neues oder Unterhaltsames zu hören. Sana Basel war auf interessante Neuigkeiten jeder Art aus allen Glaubensgemeinschaften gespannt. Doch was Klatsch anging, erwies sich ihr Besucher als enttäuschend. Ronald war ein Mensch, der lieber die Ohren spitzte und den Mund hielt und er schien nicht viel von der hutterischen Tradition des Tschelli draufschmieren zu halten – eine gewöhnliche Geschichte auszuschmücken, sozusagen »Marmelade hinzuzufügen". Manche hätten ihn maulvoll oder »maulfaul« genannt – zu sparsam mit Worten, um als unterhaltsam zu gelten – doch in der abgeschotteten hutterischen Welt erregte alleine schon seine Gegenwart Neugier.

      Die Hofer-Jungen, die auf den Feldern arbeiteten, trudelten einer nach dem anderen ein, und einige Männer aus anderen Familien machten Halt, um den Fremden mit der »englischen« Lederjacke und dem schwarzen Hut aus Lammwolle kennenzulernen und zu begutachten. Mary häufte Pfeffernüsse und Haferflockenplätzchen auf zwei Kuchenteller und stellte sie vor den Besucher mit den stahlblauen Augen und dem dichten kastanienbraunen Haar, das in der Mitte ordentlich gescheitelt war. Hinter dem Schutz des dampfenden Kessels bemerkte sie, dass seine Hose ziemlich abgetragen war. Sie beobachtete, wie Ronald die Spitze seines Teelöffels in das Honigglas tauchte und ihn versuchte, bevor er den Rest in seine Tasse heißen Kamillentee einrührte. Sie schaute zu, wie er methodisch den polierten Tisch säuberte, indem er die Krümel in seine linke Hand wischte und dann auf seinen Teller streute. Im Geheimen wünschte sich Mary, sie hätte ihm etwas Besseres anbieten können. Von den frischen Zitronenkuchen mit Baiser und den Dattel-Nuss-Kuchen, die am Donnerstag, dem Backtag der Kolonie, ausgeteilt wurden, waren in der Hofer-Familie nach dem Wochenende nichts mehr übrig. Mit sieben schönen Töchtern, die das Interesse annehmbarer Buben weckten, war Sana Basels Haus immer ein Treffpunkt junger Leute, die jeden Abend zusammenkamen, um Kontakte zu knüpfen und zu singen.

      Ronald kam für eine Woche und blieb für immer. Sana Basels überfülltes Haus wurde zu seinem Heim und sie zu seiner Ersatzmutter, die seine inneren Kämpfe verstand. Er wohnte zusammen mit den Hofer-Jungen in einem Zimmer im Obergeschoss, während Mary auf der anderen Seite des Flurs mit ihren Nichten im Mädchenzimmer schlief.

      Mary putzte sein Zimmer und machte jeden Tag sein Bett, doch nie gab es den geringsten Hinweis auf eine Liebelei. Der einzige Anhaltspunkt, der hätte vermuten lassen, dass sie um sein Wohl besorgt war, bestand darin, dass sie seine zerlumpte Hose flickte und ordentlich gefaltet auf sein Bett zurücklegte.

      Ronald zermarterte sich den Kopf wegen der Notlage seines Vaters und seiner Geschwister in Ontario. Seine Eltern, russische Einwanderer, hatten sich der hutterischen Kolonie Rockport in Alberta angeschlossen, als er neun Jahre alt war, und die Familie lebte fast zehn Jahre lang dort. Doch als Ronald Dornn siebzehn war, brach Christian Dornn die Verbindung mit der hutterischen Kirche ab und trat mit seinen acht Kindern in eine pseudo hutterische Gemeinschaft in Ostkanada ein. Der Umzug war eine Katastrophe, denn es stellte sich heraus, dass der Leiter ein Diktator war, der die Menschen in seiner Gemeinschaft geringschätzig und hart behandelte. Als Ronald Sana Basel kennenlernte, hatte er den Auftrag, seine heimgesuchte Familie in die Kolonie Rockport zurückzubringen. Doch seine Hoffnungen wurden zunichtegemacht, als der Pastor der Kolonie ihm unverblümt mitteilte, dass er und seine Geschwister willkommen seien, ihr Vater aber nicht.

      In seiner neuen Heimat, der Kolonie New Rosedale in Manitoba, fand Ronald Trost in harter Arbeit und in der Natur. Gesund und kräftig, wie er war, rodete er die 400 Hektar Land, die New Rosedale vor Kurzem für 10 Dollar pro Hektar erworben hatte. Mit einem Raupenschlepper entfernte er Eichen und Pappeln und pflügte das Neuland, damit die Kolonie Gerste und Weizen anbauen konnte. Die meisten Abende verbrachte er in seinem Zimmer und las in der Bibel.

      Zwei Jahre nach seiner Ankunft erschien Ronald unangekündigt in Marys Zimmer und fragte, ob sie sich vorstellen könne, seine Freundin zu werden. In letzter Zeit hatte sie bemerkt, dass er sie anders anschaute, und einmal, als sie alleine im Haus war, kam er frühzeitig vom Feld zurück und sie tranken eine Tasse Pulverkaffee miteinander. Da sie mit dieser Frage nicht rechnete, war sie nicht auf eine Antwort vorbereitet. »Ich muss mir das überlegen«, stammelte sie und mied den Blick seiner durchdringenden blauen Augen.

      Das sorgte für Zündstoff, als die Gemeinschaft davon Wind bekam. Unverzüglich musste Ronald aus Sana Basels Haus in eine winzige Zweizimmerbehausung für sich alleine ziehen, und Marys Aufgabe, sein Zimmer sauber zu machen, wurde jemand anderem übertragen. Jake Maendel, Marys Bruder und Hilfspastor in New Rosedale, sorgte umgehend dafür, dass Elie Wipf seine Schwester umwarb. Elie war der Sohn des Hauptpastors in der Kolonie Fairmont und Jake hatte keine Mühe gescheut, die beiden einander vorzustellen, als Mary kaum ein Teenager war. Das war vor sechs Jahren gewesen. Nur wenige Tage nach Ronalds Antrag wurde Mary in das Haus von Peter, ihrem anderen Bruder gerufen, wo Elie wartete. Er hatte sich kaum verändert, sah mit seinen dunklen Haaren und seinem brünetten Teint immer noch so gut aus wie früher, hatte ungezwungene Manieren und ein verschmitztes Lächeln.

      Als Mary vor sechs Jahren Elie in Fairmont kennengelernt hatte, hatte sie sich unbehaglich gefühlt. Elies Schwester hatte Mary zu Tee und Kuchen eingeladen, und als sie beim Essen saßen, war Elie aus der Zimmerei nach Hause gekommen, um einen Blick auf die junge Besucherin zu werfen. Sie erinnerte sich, dass sie sich verunsichert fühlte, als seine imposante Gestalt in der Tür stand und sie neckte, dass er schneller als sie laufen konnte.

      Mary war kein Teenager mehr, aber sie fühlte sich unbehaglich, als sie auf dem Sofa neben ihm saß und versuchte, belanglos über seine derzeitige Arbeit in der Zimmerei und den diesjährigen Garten in Fairmont zu plaudern. Doch Elie hatte den weiten Weg nicht auf sich genommen, um über Gemüseanbau zu sprechen. Er wartete geduldig, bis sie ausgeredet hatte. Als er gerade nach ihrer Hand greifen wollte, um ihr zu sagen, dass sie ihm wärmstens empfohlen worden war, trat Sara, Peters Frau, mit einem Teller voller purpurfarbener Trauben ins Zimmer. Die Trauben waren eine Delikatesse, die nur selten vom Leiter der Kolonie gekauft wurde, und Mary hätte nur allzu gerne eine Handvoll genommen. Doch sie wusste, wenn sie vom selben Teller wie Elie essen würde, bedeutete es, dass sie beide ein Paar waren. Als Elie sagte, er würde ohne sie nichts von dem Obst essen, brach Mary widerwillig einen Stängel ab und heizte damit die Gerüchteküche an.

      Zwei Sonntage später kam Elie zu einem zweiten Besuch. Er kam rechtzeitig zum Mittagessen, und kaum hatte er seinen Platz

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