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strahlen eine natürliche Gesundheit aus. »Du tust mir leid mit deinem Kleid«, begrüßt mich Selma. Ich trage ein eng anliegendes Kleid, das ich vor ein paar Wochen in einem Kaufhaus erstanden hatte. »Es ist zu eng!« Sie zeigt auf ein Haus in der Nähe. »Gehen wir zu Tamara!« Noch unter der Tür ruft Selma: »Mary-Ann braucht etwas zum Anziehen. Sie fühlt sich nicht recht wohl in ihrem Kleid.« Eine junge Frau mit Engelsgesicht erhebt sich von einer Nähmaschine und bietet mir ein Kleidungsstück aus ihrem Schrank an. Es hat ein rosenfarbiges Muster und einen weiten, gerafften Rock. Der Bund ist locker und figurtolerant, der Stoff fühlt sich weich und kühl auf der Haut an. Ein Hauch getrockneter Baumwolle und Sonnenschein entströmt dem offenen Schrank, und ich fühle mich in die Sommer meiner Kindheit zurückversetzt.

      Die Kinder, die uns folgten, finden es lustig, mich in hutterischer Kleidung zu sehen. »Bin ich schön?«, scherze ich in Hutterisch, ihrer Muttersprache, einem 450 Jahre alten deutschen Dialekt aus Kärnten in Österreich. Die Kinder kichern und nicken. Ich zwinkere meinem Sohn zu, der auch kichert.

      Als Judy erscheint, zwängen wir uns alle in mein kleines Auto, um zum Garten zu fahren. »Das Auto ist voller Hutterer«, berichtet Levi vom Rücksitz aus und sorgt damit für allgemeines Gelächter.

      Am Ziel angekommen, ziehen wir unsere Schuhe aus und machen uns zu einem gemächlichen Rundgang auf. »Es ist ein schöner Garten«, gibt Judy zu und geht voran. Unsere kleinen Fremdenführer, mit Levi im Schlepptau, verschwinden bald im Erbsenfeld. Aufgrund des Bewässerungssystems der Gemeinschaft ist der »kleine«, fünf Hektar große Garten üppig grün. Endlose Gemüsereihen sind eingerahmt von bunten Feldblumen und hohem Präriegras. »In diesem Jahr reicht es nur für uns«, erklärt Judy und meint damit die etwa neunzig Gemeinschaftsmitglieder, die mit dem versorgt werden, was in dem Garten wächst.

      Am Spätnachmittag verweile ich in der Gemeinschaftsküche, wo das Abendessen vorbereitet wird. Lachend bewegen sich die Frauen zwischen Herd, Bratpfanne und Töpfen mit kochendem Gemüse. Ich kann mich nur schwer von ihnen trennen. Ich setze Levi auf das Holzkarussell und lasse ihn ein paar Runden drehen. Er hat so wenig Lust wie ich zu gehen. Auf dem Weg zum Auto begegnen wir einer der Bewohnerinnen. »Mary-Ann!«, ruft Thelma und schließt mich in die Arme. »Wie schön du aussiehst, ohne all die Farbe auf dem Gesicht.« Ich lache über ihre Offenheit. Hier muss man keine Gedanken lesen.

      Ich fülle den Rücksitz meines Autos mit einem Strauß Feldblumen und Weidenkätzchen, die meiner Mutter so sehr gefallen, dann fahren wir zu einem kleinen eingezäunten Friedhof am Rand von Fairholme. Die Zeit scheint stillzustehen, als ich meinen Sohn zu einem kleinen Grabstein führe, auf dem steht »Reynold Dornn, 1963–1965, Ruhe in Frieden bei Jesus«.

      »Levi«, beginne ich und suche nach den richtigen Worten. »Ein kleiner Junge ist hier begraben. Sein Name ist Renie, und er ist mein Bruder.« Als wir uns über das kleine Grab beugen, schließt Levi die Augen und beginnt zu beten: »Lieber Jesus, danke, dass du für Mamas Bruder sorgst, auch wenn er unter der Erde liegt. Hilf, dass er wieder aufersteht.« Bei diesen unerwarteten Worten füllen sich meine Augen mit Tränen.

      Vor 33 Jahren, als ich ein argloses kleines zehnjähriges Mädchen war, fassten meine Eltern den schmerzlichen Beschluss, die Kolonie Fairholme mit sieben Kindern und sonst fast nichts zu verlassen. Diese Gemeinschaft war einmal meine Heimat. Hier, auf diesem einfachen Friedhof liegt eine nüchterne Erinnerung an unsere Herkunft; hier haben wir einen kostbaren Teil von uns selbst zurückgelassen.

      Hand in Hand gehen wir zum Auto zurück. Ich bin ganz in Gedanken, als Levi mich aus meinen Träumen reißt: »Mama«, fragt er mit einem gespannten Ausdruck auf seinem kleinen runden Gesicht. »Bist du eine Hutterin?« Die unschuldige Frage meines Sohnes ist für mich der Beginn einer Reise in die innersten Winkel des Herzens, wo die tiefsten Geheimnisse verborgen liegen und die Wahrheit aufbewahrt wird.

      Dieses Buch ist meine Reise, mit der ich mich auf meine Vergangenheit zurückbesann, eine Vergangenheit, die ich jahrelang verborgen hielt, da ich mich nicht tief eingewurzelten Vorurteilen und Spott aussetzen wollte. Heute weiß ich zweifelsfrei, dass unser Menschsein das ist, was wir gemeinsam haben, dass aber unser kulturelles Erbe das besondere Geschenk ist, das jeder bei der Geburt erhält. Solange wir nicht annehmen, wer wir sind und wirklich die Kraft schätzen, die dadurch in unser Leben kommt, können wir unsere wahren Fähigkeiten nicht ausschöpfen. Wie viele gute Geschichten, beginnt meine Geschichte mit meiner Mutter, der unvergleichlichen Mary Maendel.

       Mary-Ann Kirkby

      »Der g'hört mein!« »Der gehört mir!«

      »In der relativen Sicherheit von Sana Basels Haus warf Mary zum ersten Mal einen Blick auf Ronald Dornn.«

      Mary Maendel, 18 Jahre alt, Kolonie New Rosedale

      Die hutterische Kolonie New Rosedale, Westkanada, November 1952

      Meine Mutter Mary Maendel stand am Sonntagmorgen früh auf und schob sachte das Federbett auf ihrer Seite zurück, um ihre Nichte Sarah, die reglos neben ihr lag, nicht aufzuwecken. Niemand bewegte sich in der Schlafnische nebenan, in der Lena, Katie, Susie und Judie, ihre anderen Nichten, tief und fest schlummerten. Sie holte ihre Kleider von einem Stuhl, zog ihr kurzes weißes Hemd oder Pfaht, ihre Weste oder Mieder, einen knöchellangen gerafften Rock oder Kittel und eine plissierte Schürze, Fittig genannt, an und stieg lautlos die Treppe hinunter.

      Gestern war Reinemachetag in der Kolonie, und die Fußböden und Möbel wurden gründlich abgewaschen und gewischt. Doch in einer Kultur, in der Reinlichkeit und Gottesfurcht als Tugenden verehrt wurden, war Mary fest entschlossen, dass ausgerechnet heute das Haus tiptop zu sein hatte. Ein Stück Specksaften (hausgemachte Seife), das wie ein Stück Butter aussah, schmolz in ihrem Eimer mit heißem Wasser und füllte ihn mit schaumigen Blasen. Auf den Knien schrubbte sie die Böden. Ihre geschickten jungen Hände wischten um die Schlofbänk (Schlafbänke) herum, auf denen Kinder tief und fest schliefen. Die Bewegungen ihres Putzlappens waren so geräuschlos wie ihr Atem, und bald roch das ganze Haus nach feuchtem Holz und Wachs.

      Gegen 8 Uhr war sie mit ihrer Arbeit fertig. Draußen schüttelte der Wind die leblosen Äste der alten Eichen, die den sauberen Halbkreis der Wohnhäuser von den Scheunen und Maschinenhallen der Kolonie trennten.

      Durchs Fenster konnten sie sehen, wie Erwachsene und Kinder in die Gemeinschaftsküche zum Frühstück eilten. Männer mit Bart und schwarzen Jacken und Hosen aus selbst gesponnenem Tuch, Frauen in knöchellangen, gemusterten Röcken und Westen – manche banden noch im Gehen ihr gepunktetes Kopftuch unter dem Kinn fest – schritten zielgerichtet und im Gänsemarsch auf ein großes zentrales Gebäude zu, in dem sie sich dreimal am Tag zu den Mahlzeiten trafen. Junge Mädchen mit Mützen (Hauben) und langen geblümten Kleidern und lebhafte Jungen, die wie Miniaturen ihrer Eltern aussahen, gingen in einer Reihe hinter ihnen her, als würden sie von einer unsichtbaren Leine gezogen. Mary war dieser Anblick so vertraut wie der Sonnenaufgang, doch ein Außenstehender hätte den Eindruck gehabt, dass die Situation und die historischen Kleidungsstücke nach dem Vorbild der Bauern aus dem 16. Jahrhundert in Szene gesetzt waren – so als ob ein Film über eine jahrhundertealte Geschichte gedreht würde.

      Mary, die aus dem Fenster schaute, hätte man für eine Schauspielerin halten können, die auf ihren Einsatz wartete. Doch dies war kein Film. Es war das Leben in der hutterischen Kolonie New Rosedale im südlichen Teil von Manitoba, und die etwa hundert Männer, Frauen und Kinder, die hier wohnten, führten ihr Leben wie ihre europäischen Vorfahren vor fast fünfhundert Jahren.

      »Mein Himmel, eilt's! Lieber Himmel, beeilt euch!«, rief Marys Schwager Paul Hofer und trieb seine Kinderschar, die im ganzen Haus verstreut war, zur Eile an. Seine Frau Sana, die Oberköchin, war schon seit Tagesanbruch auf den Beinen und kochte in der Gemeinschaftsküche auserlesene Rindfleischstücke für das heutige besondere Mittagsmahl und überwachte das Frühstück aus gekochten Eiern, gebuttertem warmem Toastbrot und Schmuggi (ein selbst gemachter Weichkäse, der mit Kümmel bestreut wird).

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