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daß er in den langen Jahren seiner Gesellschaft irgendeine neue Hoffnung bescherte. Die Tränen, die er vor den Fernsehkameras vergoß, wann immer er von seinen guten Absichten, vom Edelmut der Verbündeten und vom Undank gewisser Störenfriede predigte, rührten deshalb nur noch ihn selbst.

      Den Zustand, in den er die Gesellschaft zurückversetzte, spiegelt morbid der tragische Vorfall wider, bei dem er seine Frau verlor. Die Nomenklatura hatte ihr nicht erlaubt, einen einfachen Bruch in einem der führenden slowakischen Bäder behandeln zu lassen, wo es von guten Ärzten nur so wimmelte. Ihr Hubschrauber wurde dann auf dem Weg nach Bratislava durch den Nebel in die Katastrophe navigiert. Der Sonderzug, mit dem der Präsident nachts zu ihr eilte, blieb mitten auf der Strecke vor dem roten Licht am Signalmast hoffnungslos stecken; das ausgesandte Kommando mußte über die Eisenbahnschwellen zur nächsten Station stolpern, wo es erfuhr, daß jeglicher Schienenverkehr auf hohen Befehl unterbrochen worden war, damit der Präsidentenzug freie Fahrt hatte.

      In diesem Jahr der ersten neuen Prozesse war er vielleicht trotz allem noch darum bemüht, daß die Forellen der tschechischen Literatur mit europäischem Renommee nicht in den Netzen der Justiz hängenblieben. Aragons Aufkleber «Biafra des Geistes» und Bölls Aufdruck «Kulturfriedhof» hatten das geistige Europa noch einmal mobilisiert. Damals nämlich sprachen im Namen der deutschen Literatur noch Schriftsteller mit der politischen Erfahrung eines Lenz oder Grass und nicht schriftstellernde Möchtegernpolitiker, wie immer sie heißen mögen.

      Den Angriff auf die einheimische Kultur erleichterte mehr und mehr die Desertion ihrer Verteidiger. Wie schon meine Erlebnisse im Schriftstellerklub gezeigt hatten, begriff die künstlerische Mittelschicht, daß sie die letzte Chance hatte, den neuen Zug zu erreichen, solange die Normalisierungsgarnitur, die schon das gesamte gesellschaftliche Leben beherrschte, dies zuließ. Als die kulturelle, politische und wirtschaftliche Elite es ablehnte, der militärischen Invasion und ihrer Begründung zuzustimmen, um nicht die Moral oder zumindest das Gesicht zu verlieren, wandte sich das Regime dem Souterrain zu. So kam das Goldene Zeitalter für all diejenigen, die vorher wenig Erfolg hatten – mangels Talents, Charakters oder einfach nur Glücks.

      Für unerhörte Belohnungen – die Medien boten den Frontwechslern Aufschläge von über tausend Prozent – waren sie bereit, die Existenz aller aufgelösten Institutionen vorzutäuschen. Gegen die Rolle des Mohren, der gehen muß, wenn er seine Schuldigkeit getan hat, sicherten sie sich gleich von Anfang an mit einem Verteidigungssystem ab, das schon im zweiten Jahrzehnt funktioniert und die tatsächliche Ursache für das versumpfte Wasser geworden ist, über das die Welt staunt: Wer von den «Verirrten» mitmachen wollte, mußte öffentlich Buße tun. Es ist, als ob durch eine solche Kapitulation in den musischen Menschen alle Saiten rissen: Keiner von denen, die sich auf diese Weise «besserten», hat die zu allem fähigen Unfähigen bislang in irgendeiner Weise bedroht.

      Auf die große Mehrheit von einigen hundert Literaten, die noch vor einem Jahr in geheimer Wahl den Widerstand gewählt hatten, begann neben dem Existenzdruck auch der Druck des luftleeren Raums zu wirken, in den ihre geistige Produktion plötzlich strömte. Ersatzstrukturen für diejenigen, die der Staat verbannt hat, gibt es östlich der Elbe nicht. Das Verbot ist lückenlos, das Veto gilt überall, auch ohne schwarze Listen. Es genügt, aufmerksam die Zeitungen zu lesen und die unter Beschuß Geratenen anzustreichen. Keiner, der sich ihnen nicht zugesellen will, wagt es, sie zu beschäftigen, zu veröffentlichen oder sonst in seinem Bereich zu belassen.

      Ein paar Dutzend namhafter tschechischer Autoren belastete das Vakuum mehr als die Existenz. Bis jetzt hatten sie weder ihre finanziellen Reserven noch ihre Hoffnung verbraucht. Was ihnen fehlte, waren Leser und – Lektüre. Dies ist nur scheinbar paradox. Auch athletische Rekorde fallen im Wettkampf mit anderen. Aus innerer Not wurde im elektronischen Zeitalter der literarische Salon wiedereröffnet. Kaum etwas war so bezeichnend für Doktor Husáks Kulturpolitik, die einige geistige Bereiche um ein Jahrhundert zurückwarf, wie die Wiedergeburt dieser Institution aus vormedialen Zeiten. Erneut versuchte die tschechische Literatur so, das Netz der zerrissenen Zusammenhänge zu knüpfen.

      Der Schriftsteller Ivan Klíma, unerwartet von einer führenden amerikanischen Universität in dieses neuzeitliche Ghetto zurückgekehrt, hatte dessen unvergleichbar brutalere Ausgabe als jüdisches Kind in Theresienstadt erlebt. Trotzdem entschied er sich, «zum Schlamassel zu gehören», und es war sein Verdienst, daß jeder erste Sonntag im Monat unseren freien Fall zu bremsen begann.

      Während er pikante Fleischklößchen servierte, die er – selbst streng Diät haltend – mit der Phantasie eines tauben Komponisten würzte, wechselten sich in seinem Schreibsessel Autoren ab, die einst hunderttausendfache Auflagen hatten. Wie in ihren Anfängen mußten sie wieder mit nur einer Handvoll Zuhörer vorliebnehmen – noch dazu mit ihren größten Konkurrenten. Aber alle trösteten sich damit, daß es wohl in ganz Europa keinen erleseneren Zirkel von Lesern gab.

      7

      Böhmen, Herbst 1972

      Die vorläufige Arbeitsbilanz des Jahres war katastrophal. Das Tagebuch, das ich schon dreißig Jahre unverändert führe, weist nur Protestbriefe an Zeitungsredaktionen und staatliche Institutionen auf. Denn ich erlag der optischen Täuschung, daß die bekannten Gesichter aus der jüngsten Vergangenheit dort zum großen Teil geblieben waren. Hinter ihnen arbeiteten jedoch schon Hirne, die sich «gebessert» hatten. Am schnellsten brachen die Radikalsten auf beiden Seiten zusammen. Der zum neuen Regime übergelaufene Läufer Zátopek sollte bald Verstärkung aus dem Team der ewigen Antikommunisten erhalten. So übernahm die Theaterrubrik im Parteiorgan Rudé Právo ein Graphomane und entlaufener katholischer Pfarrer.

      Meist antwortete man mir zur eigenen Sicherheit überhaupt nicht. Auf die neuen Regierungsbeschlüsse zur Behandlung von Beschwerden der Bürger husteten sie alle. Das Regime Doktor Husáks hatte keine Anhänger, nur Zuhälter. Mit der Hoffnung des Prager Frühlings wurde auch die eigene begraben – auf lange Zeit, wenn nicht auf immer. Man war bereit, aus den neuen Verhältnissen Gewinn zu ziehen, nicht jedoch, mit ihrem Stempel in die Lesebücher zu geraten. Jedem war bewußt, daß es eine Zeit der Schande werden würde.

      Über der eigenen verpulverten Energie zieht sich mein Herz trotzdem nicht zusammen. Denen, die sich nicht nur entschlossen, zu Hause zu bleiben, sondern auch dem Bösen zu widerstehen, blieben nur zwei Wege. Mir schienen konspirative politische Aktivitäten bloß unnütz ins Gefängnis zu führen, in dem man sich nur moralisch verhalten kann. Ich aber wollte moralisch handeln und gab deshalb zu Anfang einer internen, langwierigen, unspektakulären, dafür aber systematischen Verteidigung gegen jede Ungesetzmäßigkeit und Lüge den Vorzug. Wenn das zum Konflikt führen sollte, wollte ich mich ihm voll stellen.

      Der größte Erfolg des Jahres warst einstweilen du, mein klitzekleiner Dackel. Die trostlose Zeit wurde von deiner Verspieltheit erhellt. Besonders dein stundenlanges, hartnäckig erfolgloses Bemühen, zwei Tennisbälle gleichzeitig in der Schnauze zu halten, stand in nichts dem Einüben einer Zirkusnummer nach. Dein erstes Lebensjahr feierten wir mit einer Wurst, doch leider auch damit, daß du ab jetzt täglich nur mehr eine Schale Kost bekamst. Das Rückgrat von euch Dackeln ist eine gebrechliche Brücke, mit sehr begrenzter Tragkraft. Mein Tagebuch legt auch Zeugnis ab von deinem unaufhaltbaren Fortschritt in persönlicher Sauberkeit. Schon hobst du elegant das Hinterbein. Du wuchsest zu einem kleinen Dackellord heran.

      Damit du nicht so oft zu Hause allein bliebst, brachte Zet uns einen Neuling in die Familie. Sie fuhr einen Freund nach Roztoky bei Prag, der sich einen Wellensittich aus dem Großkäfig der Firma Zverex auswählen wollte. In einem angeblich ganz normalen Wohnzimmer schwirrten über einem Teppich von Vogelkot Wolken von Gefiederten hin und her. Als ich Zet fragte, warum sie so plötzlich einen gekauft habe, und warum gerade diesen, sagte sie, daß er ihr in diesem schrecklichen Lärm und Geflatter leid getan habe. Ich habe nicht weiter nachgeforscht.

      Als der Familienzuwachs bei uns zum ersten Mal die Flügel ausbreitete, geschah es beinahe zum letzten Mal. Nichts auf der Welt ärgerte dich so wie Vögel. Vielleicht wegen eben jener Eigenschaft, derentwegen auch wir sie beneiden? Der Wellensittich blieb also zunächst die meiste Zeit im Käfig, bis wir dir die friedliche Koexistenz beigebracht hatten. Aber trotz unserer deutlichen «Pfuis» versuchtest du ganz starrsinnig immer

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