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Völker vor den Fangzähnen der bösen Welt zu bewahren.

      Aus der furchtlosen Korrespondiererei riß mich Ivan Klímas freundliche Anfrage heraus, ob ich nicht am ersten Sonntag im Dezember bei ihm meine neuen Texte lesen wolle. Ich setzte mich an die Maschine und stellte fest, daß sich in mir beim Schreiben etwas quergelegt hatte. Die Konsequenz und Leichtigkeit, mit denen das Regime uns erfolgreich blockierte – politisch, künstlerisch und menschlich –, hatten mich offenbar tiefer getroffen, als ich dachte. Daß der Galgen verschwand, war ein Vorzug dieser Renaissance der fünfziger Jahre; diesmal waren die neuen Kommunikationsmittel das Verderben. Obwohl das absurd klingen mag, machten sie es möglich, die Gesellschaft in einem zuvor undenkbaren Tempo und Ausmaß zu «dekommunizieren».

      Wiederum erwies sich jedoch, daß über Systeme der Macht und der Technik zuletzt das Leben siegt. Der von Natur optimistische und tatkräftige Ivan Klíma brach durch seine Initiative den bösen Zauber, der mich paralysierte. Die Reflexe eines Autors, der sein ganzes Leben lang auf die Anregungen der Zeit und der Welt reagiert hatte, begannen wieder zu funktionieren. Am Sonntag, dem 3. Dezember, las ich zu Fleischklößchen nicht nur den Einakter Pech unterm Dach – nach dem Krieg im dritten Stock, den ich in der Nacht des zweiten Jahrestags der Invasion aus der Ohnmacht heraus nonstop geschrieben hatte, das zweite aus der Trilogie der bürgerlichen Ministücke –, sondern sogar das endlich abgeschlossene erste Kapitel der Henkerin. In die Geschichte wird dieser Abend eingehen, weil sich sechs der Anwesenden nach der Lesung zu gemeinsamem Schreiben entschlossen.

      Sie trafen sich am nächsten Morgen in der Wohnung eines alten Herrn wieder, der zur Kur war. Dort hatten die Wände bestimmt keine Ohren. Sie schrieben eine Petition an den Präsidenten der Republik, General Svoboda, der immer noch einiges Ansehen als Garant des Prager Frühlings genoß. Sie fühlten die Notwendigkeit, endlich das erdrückende Schweigen zu brechen, mit der Bitte um Amnestie oder zumindest Weihnachtsurlaub für politische Häftlinge.

      Allein ist Schreiben schwer genug, zu sechst schier unmöglich. Trotzdem entstand ein guter, dichter Text, so zurückhaltend, daß nur noch die Orgelmusik fehlte. Am selben Tag begannen wir, immer zu zweit, die Schriftsteller zu besuchen, die im Herbst 1968 besagten Solidaritätseid unterschrieben hatten. Mit vielen von ihnen verband uns langjährige, feste Freundschaft. Als erste unterschrieben die preisgekrönten Literaturfürsten Jaroslav Seifert, Adolf Hoffmeister und Jarmila Glazarová. Als erster lehnte der Satirenkönig Jan Werich ab. Er gab Václav Havel seine Skepsis und Müdigkeit zu. Wir respektierten jede Entschuldigung, weil wir selbst auf die Risiken aufmerksam gemacht hatten.

      «Einen solchen Text kann man unmöglich unterschreiben!» sagte der Dramatiker Oldřich Daněk, und über dreißig andere schlossen sich ihm an.

      Am Donnerstag nachmittag, als sie einander die Unterschriftsbogen übergaben, nahm ein Kommando der Staatssicherheit Havel, Klíma, Kliment und Vaculík in einer Straße unter dem Strahovberg fest. Die Zeit der Solidarität war zu Ende, sie wurde von der Zeit der Denunzianten abgelöst. Es machte sich bezahlt, daß wir um zweifache Unterschrift gebeten und das zweite Original bei einer unauffälligen Freundin deponiert hatten. Jetzt konnten die zwei Übriggebliebenen – Karel Kosík und ich – das Dokument gemeinsam abholen und rasch im Büro des Präsidenten abgeben, mit der zusätzlichen Bitte um Freilassung des Sammler-Quartetts, bevor der unschuldige Text in der westlichen Presse erscheinen werde, mit der Frage, von wem in Prag die Post des Präsidenten eigentlich erledigt werde. Bei diesem Stand der Dinge schickten wir Kopien an die in Prag akkreditierten Presseleute.

      Die vier Festgenommenen, die am schlimmsten von dem Schlachtertyp angebrüllt wurden, der sich Pokorný nannte, verzeichneten spät abends einen Bruch im Verhalten der Untersuchungsbeamten. Bisher wurde das Petitionsrecht grundsätzlich bestritten, auf einmal war nur noch von seinem Mißbrauch die Rede. Dann hat man sie, wenn auch ungern, einen nach dem anderen entlassen. Wir zwei Ungeschorenen saßen mit Zet in der Weinstube «Viola»: Sie lag gleich um die Ecke der Polizeistraße Bartolomějská. Allen Freigelassenen kam der Gedanke, sich auch dorthin zu begeben, um diese Teufelstaufe zu begießen. Ich glaube, an diesem Abend schlug die Stunde der lieben «Viola», die man bald als Nachtlokal zusperrte – paradoxerweise ihrer treuesten Gäste wegen.

      An den folgenden Tagen begann das Regime zum ersten Mal mit vielen Autoren zu verhandeln, die es bisher genauso verachtungsvoll abgelehnt hatte wie die Autoren der Petition. Die im Schriftstellerverband herrschenden Mohren mußten sogar auf höchsten Befehl einige als Mitglieder aufnehmen. Statt einer Beichte genügte jetzt die Distanzierung von der Petition. Es lief auf dasselbe hinaus. Oldřich Daněk erklärte, er sei mißbraucht worden, denn er habe nicht gewußt, daß einer der Unterzeichner Havel sei. Milan Jariš, mit dem mich ein Vierteljahrhundert enge Freundschaft verband, apostrophierte mich in den Zeitungen mit «Sie» und beschuldigte mich der Täuschung; er habe nicht gewußt, daß der Text im kapitalistischen Ausland bekannt werden würde.

      Peinlich war František Kožíks Widerruf, weil er sich immer als Demokrat alter Prägung gab, tragisch der von Jarmila Glazarová, die der Allzeitparteidichter Ivan Skála persönlich umgestimmt hatte. Beide waren sie einst Berichterstatter beim Slánský-Prozeß gewesen. Skálas Text endete damals: «Dem Hund einen hündischen Tod!» Jetzt nahm er der alten Romancière ihre neugewonnene Würde. Sie hat es nicht lange überlebt. Am traurigsten aber fand ich die denunzierende Kapitulation des Dichters Miroslav Holub, eines der kritischsten und begabtesten Nichtkommunisten unter den Schriftstellern. Gott weiß, was sie über ihn wußten, daß sie ihn so leicht und schändlich brechen konnten.

      Ebenso wie Jan Procházkas abgehörte Telephongespräche wurde auch diese Petition von einer Gruppe schwankender Literaten zum fast hysterischen Arrangement mit der Macht genutzt. Nicht die Kerkermeister, die Unschuldige einsperrten, sondern uns beschuldigten sie, eine gesellschaftliche Konfrontation hervorgerufen zu haben. Aber weil es wohl Literatur ohne eine integre Persönlichkeit nicht gibt, hat keiner von ihnen seitdem ein nur halbwegs bedeutendes Werk geschrieben.

      Jahre danach wird Milan Kundera in seinem Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins die Motivation der Initiatoren gerade dieser Petition analysieren, um die Abstinenz seines Helden – und seine eigene – zu erklären. Sein Urteil lautet, die Verfasser der Petition wollten sich bloß profilieren, da man den Häftlingen sowieso nicht helfen konnte. Meines Erachtens beginnt hier die Kluft zwischen zwei Lebenskonzeptionen. Trotz aller Erfahrungen bin ich weiterhin dafür, in vergleichbaren Situationen mit allen Konsequenzen immer wieder alles zu versuchen, was in den Kräften und Möglichkeiten eines Menschen liegt. Will man schon ein Gnadengesuch für alte Freunde nicht riskieren, hält man eigentlich jegliche Art von Zusammenhalt für sinnlos, ja lächerlich.

      8

      Böhmen, Winter 1972

      Während der Parteiapparat im Duett mit der Geheimpolizei den Widerstand der schwächeren Petitionisten brach und ihre Seelen kaufte und die geldgierigen Pistoleros der Medien auf die Abschußliste der freigestellten Schädlinge warteten, spielte sich kurz vor Weihnachten eines meiner bemerkenswertesten Treffen ab: Nur zweimal während der siebziger Jahre wurde ich von Moskau angesprochen.

      An diesem Donnerstagabend ging ich zu einer Veranstaltung junger Poesie in die «Viola». Zet war verschnupft, auch mißtrauisch gegen jegliche junge Poesie, und so blieb sie gern mit dir zu Hause, mein haariger Rauherr. Am liebsten wäre ich ins Nationaltheater gegangen, wo die berühmteste sowjetische Bühnentruppe, das Moskauer akademische Künstlertheater Mchat, gastierte. Mit ihm war ich noch unlängst eng verbunden.

      Zu Beginn der sechziger Jahre entschloß man sich zum ersten Mal in der Geschichte dieses Kulturtempels, ein tschechisches Gegenwartsstück zu spielen, meine Dritte Schwester. Der tschechoslowakische Kulturattaché und erfolglose slowakische Dichter Milan Lajčiak eröffnete der Anstalt jedoch, der Autor sei ein vielfach kritisierter Revisionist und die Aufführung daher weder im Interesse unserer Partei noch unseres Staates.

      Kurz darauf teilte eine aufgeregte Telephonistin dem Sekretär für Ideologie im Zk der Kpč, Jiří Hendrych, mit, das Oberkommando der Verbündeten Armeen des Warschauer Pakts wolle ihn sprechen. Mit einer auch am Telefon angsterregend klingenden Generalstabsstimme fragte ihn Konteradmiral Golovko, ob in Prag Die

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