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Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend. Emmy Ball-Hennings
Читать онлайн.Название Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend
Год выпуска 0
isbn 9788726614862
Автор произведения Emmy Ball-Hennings
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Wenn nur die Zahlen nicht so unerquickliche Geschöpfe gewesen wären! Sie wurden uns manchmal in gedruckten Lettern schwarz auf weiß vorgeführt. Jede Zahl war eine steife Behauptung: So bin ich, so bleibe ich, und zwar unerbittlich und unabänderlich. Merkwürdig, wenn der Lehrer eine Zahl auf die Wandtafel malte und sie nachher mit dem Schwamm auswischte, kam’s mir vor, als ärgere sich die Zahl darüber, daß sie ausgelöscht wurde. Und irgendwo spukte sie ungeniert weiter. Das war unangenehm, sehr unangenehm. Nach und nach kam es mir unbescheiden vor, mit Zahlen umzugehen. Nun ja, bis zu zehn mochte man zählen, wenn es durchaus sein mußte und sein sollte, aber allzuweit hätte es nicht gehen dürfen. Nicht so weit, wie es bei uns in der Klasse ging. Es war für mich jedenfalls ein höchst betrübliches und beunruhigendes Kapitel und nicht abzusehen, wie sich das noch weiterentwickeln würde. Unser Lehrer machte auffallende Fortschritte im Rechnen. Er entwickelte eine Kenntnis, wie ich sie niemals einem Menschen vorher zugetraut hätte. Die Ansichten über meinen Lehrer änderten sich von Tag zu Tag, so daß ich meiner eigenen Meinung kaum mehr nachkommen konnte. Daran war nur der Lehrer selbst schuld, der mich von einer Verblüffung in die andere versetzte. Das war nun einmal seine Art. Es war nicht leicht, sich daran zu gewöhnen.
Wohin mochte das führen, wenn man gleich in den ersten zwei Wochen so klug gemacht wurde? Da ging ich langsam und nachdenklich von der Schule nach Hause, beladen mit einer ungeheuerlichen Wissenschaft. Die Nachbarinnen nickten mir vergnügt und in schwer begreiflicher Harmlosigkeit zu: «Tag, Helgalein, na, wie geht’s in der Schule? Kommst auch hübsch voran?»
Ob ich gut vorankam? Es war der reine Hohn. Ich wußte ja schon die unerhörtesten Dinge. Ich wußte etwas Übergewaltiges. Ich wußte, wie die Welt entstanden war. Ich wußte um das Paradies. Ich wußte um Gott, um Adam und Eva wußte ich. Um den ersten grausamen Engel wußte ich, der mit seinem flammenden Schwert die Pforte des Paradieses bewachte, damit nur ja die armen Menschen, die man ohne Kündigungsfrist vor die Tür gesetzt hatte, sich dort nicht wieder blicken ließen. Vor dem Bresdorfschen Garten stellte ich mich auf, um die Last meiner Wissenschaft ein wenig zu ordnen. In solchem Birkenhaus hatten wahrscheinlich Adam und Eva gewohnt. Das war anzunehmen. Dieses ungewöhnlich hübsche Haus war immer leer. Nie sah ich jemand hinein- oder herausgehen, bis mein Kindesherz das reizende Birkenhaus eines Tages belebte. Aber das war später, viel später. Nach Jahren erst. Ich hatte ja nicht das Verfügungsrecht über das schöne Birkenhaus. Es gehörte Herrn Bresdorf, dem Direktor von der Werft. Ich wußte nur, daß niemand das Gartenhaus lieber haben konnte als ich. Es war eine Liebe auf den ersten und auf den letzten Blick, und es konnte niemandem schaden, wenn ich es für mich als «mein Birkenhaus» bezeichnete. Einmal war es mein Schloß, dann wieder meine Laube. Das Haus hatte, wie gesagt, die wunderbare Eigenschaft, von einem Tag zum andern groß oder klein zu erscheinen, wie uns manchmal das Leben selbst vorkommen kann, einmal klein und einmal groß.
Daheim machte ich meinen Eltern bei Tisch die Mitteilung, daß ich genug wisse, und es sei besser, wenn ich jetzt mit dem Lernen aufhöre und die Schule nicht länger mehr besuche. Meine Eltern werden ihren Ohren nicht getraut haben, oder sie nahmen meine Erklärung für den unberechenbaren Einfall eines Kindes, den man belächeln kann, dem man jedoch keine sonderliche Beachtung zu schenken braucht. Ich war keinesfalls ein bequemes Kind, das sich unter irgendwelchen Vorwänden von der Schule drücken wollte. Ich war geneigt, fleißig zu lernen, indem ich meine Schulaufgaben mit der größten Gewissenhaftigkeit ausführte. Ich hatte nur eine große Furcht, das Gelernte innerlich nicht bewältigen zu können, weil es zu große Anforderungen an meine Verstandeskräfte und vor allem an meine Phantasie stellte, Forderungen, denen ich nicht gewachsen war. Die instinktive Abwehr vor dem Zuviel, die ich zeitlebens behalten habe, wurde mir später bewußt, und ich bin mit dem, was ich an geistiger Nahrung zu mir nahm, stets vorsichtiger gewesen als mit der Nahrung, die ich meinem Körper zuführte. Eine Magenverstimmung läßt sich viel leichter kurieren als eine geistige Überladung. Es gibt Menschen, die mit großer Sorgfalt ihren Speisezettel zusammenstellen und die jede unbekömmliche Speise streng vermeiden, während sie geistig mit vollendeter Unbedenklichkeit alles verschlingen, was ihnen geboten wird und wonach sie zufällig Appetit verspüren. Solche Menschen lesen gute und schlechte Bücher, und dies in erstaunlichen Mengen und mit einem Heißhunger, daß man annehmen möchte, sie gieren bei dem einen Buch bereits nach dem andern. Sie besuchen Gesellschaften, Theater, Kino, Versammlungen, kurzum, sorgen dafür, daß sie niemals zur Ruhe und Einkehr kommen, und die eigentliche Empfindsamkeit, das klare eigene Denken gehn durch dieses Zuviel selbstverständlich verloren, von anderen geistigen Schäden ganz zu schweigen. Mit dem Studium wird es sich ähnlich verhalten, obwohl ich zugeben will, wie ja auch die Erfahrung es lehrt, daß es starke Menschen gibt, die Verschiedenes zugleich aufzunehmen imstande sind; doch mögen dies besonders begabte Ausnahmen sein, während im allgemeinen das Zuviel-auf-einmal-lernen-wollen nur auf Kosten der Gründlichkeit geschehen kann.
Indessen half mir mein Sträuben gegen die Schule wenig, und es genügte meiner Umgebung keineswegs, daß mir selbst mein Wissen genügte. Ich wurde oft gehänselt, weil ich, wie Vater es nannte, gern eine Analphabetin bleiben wollte. Ich war es ja, aber ich bin’s dann doch nicht geblieben. Wäre ich in Sizilien oder Sardinien geboren, hätte ich meinen Willen vielleicht durchgesetzt und hätte nur gelernt, statt meines Namens ein Kreuzlein zu zeichnen; so aber, wie es gekommen ist, bin ich imstande, sowohl Geschriebenes als auch Gedrucktes zu lesen; doch erwarte ich nicht, daß man mich deswegen sonderlich bestaune. Nur ich selbst wundere mich manchmal, daß ich sogar wider meinen Willen einiges gelernt habe.
In der ersten Klasse saß ich neben meiner Kusine Doris, nicht gerade als Allerletzte, aber doch als Vorletzte, aber da wir beide keinen Ehrgeiz kannten, schien uns der letzte Platz genau so gut wie der erste. Doch will ich hier gleich hinzufügen, daß ich mit 14 Jahren sogenannte Klassenerste war, als ich die Schule verließ. Das heißt, ich war auch hier die Vorerste gewesen und bekam den ersten Platz, nachdem meine Nachbarkollegin Alegine in eine höhere Schule versetzt wurde, da sie Lehrerin werden wollte. Mit meiner Kusine Doris hatte ich bisher wenig gemeinsame Interessen, obwohl wir doch nahe miteinander verwandt waren und nebeneinander Haus an Haus wohnten. Doris war ein flottes Persönchen und schon mit kaum fünf Jahren sehr «praktisch» veranlagt. Ihre und meine Mutter, die einander Schwestern waren, hatten eines Tages nach Frauenart über das Mittagessen gesprochen, wobei meine Tante, die auch Doris hieß, bemerkte, daß sie einige Eier brauchen könnte, die im Laden zufällig nicht zu haben waren. Daraufhin erwähnte meine Mutter, daß sie soundso viele Eier im Küchenschrank habe, und nebenbei sagte sie, daß sie fortgegangen sei, ohne die Tür zu schließen. (Das Gespräch fand nämlich an der Straßenecke statt.) Die kleine Doris, die völlig unbeachtet neben ihrer Mutter stand, schlich sich heimlich davon und holte meiner Mutter sämtliche Eier bis auf eines aus dem Küchenschrank und brachte die Eier wohlbehalten in die Küche ihrer Mutter, während diese noch eine Weile mit meiner Mutter weiterplauderte. In diesem Alter konnte Klein-Doris kaum wissen, was «mein» und «dein» ist, aber mit sieben Jahren hatte sie schon eine Ahnung davon.
Sehr klar erinnere ich mich, daß sie am ersten Schultag ihre Mappe, für die es unter der Bank einen eigenen Platz gab, den ganzen Vormittag über auf dem Arm behielt und mich aufforderte, es genau so zu machen. Gut. Ich wußte zwar nicht, warum, doch hielt ich es genau wie Doris, holte mir die Mappe aus dem Fach, und so saßen wir dicht an dicht nebeneinander, jedes sein Gepäckstück am Arm. Der Lehrer, der acht Bänke weit von uns entfernt saß, auf seinem hohen Pult, bemerkte, wie wenig einfach wir es uns machten, kam zu uns, um zu erklären, wie wir unsere kleinen Siebensachen verstauen könnten. Er legte sogar persönlich unsere Mappen in das Fach. Kaum hatte er den Rücken gedreht, gab Doris mir mit den Augen ein bedeutungsvolles Zeichen, holte die Mappe wieder heraus, hängte sie sich an den Arm, und ich mußte dasselbe tun. Der Lehrer bemerkte es bald und kam freundlich nochmals zu uns zurück, da er uns für etwas schwer von Begriff hielt; ich kann nur sagen, daß der Lehrer uns gegenüber eine Geduld zeigte, für die ich damals wenig Verständnis hatte. Er war wirklich ein Kinderfreund und daher auch ein guter Lehrer, aber es war nicht leicht, aus uns klug zu werden. Wir, meine Kusine und ich, haben später oft darüber gelacht, wie wir den Lehrer veranlaßten, dreimal erfolglos hin- und herzulaufen, bis Doris ihm in ihrem drolligen Plattdeutsch erklärte, wir müßten unsere Mappen am Arm behalten, da sie uns leicht gestohlen werden könnten.