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ja etwas, was in der Familie blieb. Dieses Eiernehmen war nicht ganz in der Ordnung, aber Doris hatte wohl nur ihrer Mutter gefällig sein wollen. Meine Kusine meinte es sehr gut mit mir; doch klang es immerhin etwas beunruhigend, wenn sie sagte: «Man muß sehr auf seine Sachen aufpassen.»

      «Jaja», pflichtete ich bei, «das muß man schon.» Trotzdem verstand ich nicht, was gemeint war, doch wollte ich mich einer so gewandten Kusine, die schon soviel Erfahrung hatte, gern ebenbürtig zeigen. Doris hatte so viele Geschwister, daß sie nicht einmal genau wußte, wie viele es waren. Ihre Brüder und Schwestern, schon erwachsen, waren zum Teil in der Fremde. Ein Bruder war von der Wanderschaft nach Hause gekommen, hatte an die Tür geklopft, und Klein-Doris hatte diesen großen Bruder mit den Worten empfangen: «Wir geben nichts.»

      «Nanu?» hatte der Bruder gelacht. «Also so seid ihr hier? Ihr gebt nichts? Das ist ja niedlich. Und warum gebt ihr nichts?»

      «Wir haben selbst nichts. Wir brauchen, was wir haben.»

      «Das sind ja schöne Aussichten. Aber einen Kuß könnte ich vielleicht bekommen, oder steht’s auch damit knapp?»

      Klein-Doris wußte noch nicht recht, daß einem Menschen manchmal an einem Kuß viel mehr gelegen sein kann als an einem Stück trockenen Brot oder an einem kühlen Zweipfennigstück. Sie ließ den fremden Mann, den sie für einen Handwerksburschen hielt, an der halboffenen Tür stehen, beugte sich übers Treppengeländer und rief hinab:

      «Mutter! Komm mal rasch herauf. Hier ist ein Mann, der einen Kuß will. . .»

      Tante Doris, die sich unten mit der Nachbarin unterhielt, rief zurück: «Was will er?»

      «Einen Kuß!!!»

      «Ich komme sofort!»

      Es stellte sich dann rasch heraus, daß der fremde Mann ein Bruder von Doris war.

      Mit ihrer großen Schwester war es ihr ähnlich gegangen, und ich fand es recht interessant, eine so schwer übersehbare Familie zu haben. Mit den Brüdern, die sich auf der Wanderschaft befanden, beschäftigten wir uns besonders. Es mußte ja herrlich sein, durch ganz Deutschland zu spazieren und nur hin und wieder ein bißchen als Zimmergeselle zu arbeiten, nur um etwas Geld zum Weiterwandern zu verdienen. Man konnte auch für den Anfang etwas Brot in der Umhängedose mitnehmen, und später, im Laufe der Wanderung, würde man auf dem Lande bei den Bauern genügend zu essen bekommen, so daß man also nicht zu verhungern brauchte. Allerdings mußte man bereit sein, den Bauern bei den Landarbeiten zu helfen, aber das war ein Vergnügen. Wir würden Borsdorfer Äpfel auflesen und blaue Pflaumen, wie sie in üppiger Fülle in den Obstgärten von Kalleby gediehen. Man mußte wohl nicht gerade jede Frucht in den Korb werfen. O ja, das Auswandern hatte entschieden viel für sich. Doris wußte großarig mit allem Bescheid, und für mich war die Auswanderei notwendig geworden, da ich in der Rechenstunde mehr rückwärts als vorwärts kam. Der Lehrer hatte mich gefragt, wieviel zehn und zehn zusammen ausmachen, und das hatte ich in der Eile nicht gewußt. Als der Lehrer mir dann gesagt, daß zehn und zehn zwanzig sind, hatte ich betrübt den Kopf geschüttelt und gesagt: «Ich kann’s nicht glauben.» Für solche aufrichtige Antwort hatte ich dann einen Klaps auf die Finger bekommen, womit sogar meine Eltern einverstanden waren, was mich sehr kränkte. Nein, Doris und ich wollten auswandern, so jung wir waren. Das Alter spielte dabei keine Rolle. Es kam ja auf uns an, wie wir uns dabei hielten.

      Es gab bei diesem Plan nur ein Hindernis, und das war der Geburtsschein, den man nach Doris’ Kenntnissen überall vorzeigen mußte. Nun war mir zufällig noch nie etwas von Geburtsscheinen zu Ohren gekommen, aber Doris suchte mir einen Überblick zu geben von der großen Scheinwirtschaft, die es ja tatsächlich gibt. Da ich ein wenig dazu neigte, nur an das zu glauben, was mir paßte, paßte es mir mit dem Geburtsschein ganz und gar nicht. Der liebe Gott hatte Adam und Eva doch auch keinen Geburtsschein ausgestellt. Wäre dies der Fall gewesen, hätte der Lehrer eine solch wichtige Sache sicher erwähnt. Ja, es sei inzwischen manches anders geworden, wußte Doris mich aufzuklären.

      «Ach, wir gehen ohne Geburtsschein», bettelte ich.

      «Dann kommt die Polizei und fängt uns ein, und damit ist uns nicht gedient.»

      Dagegen ließ sich nichts einwenden. Vom Polizisten ahnte ich freilich, daß er eine sehr große Macht besaß, Londelius war von einem Polizisten eines Abends aus der Wohnung geholt worden und war so ruhig neben ihm gegangen, so, als wisse Londelius genau, daß jeder Widerstand vergeblich sei.

      Mein letzter Vorschlag war:

      «Wir gehen ohne Hut und behalten die Schürze an, und dann denkt die Polizei und denken überhaupt alle Menschen, daß wir überall wohnen und zu Hause sind. Wir spielen Ball und nehmen noch unser Springseil mit.»

      Leider beharrte Doris auf dem unerläßlichen Geburtsschein, von dem ich genau wußte, daß meine Mutter ihn mir nicht gutwillig aushändigen würde. So kam es, daß wir unsere vorzeitige Wanderlust bis zu einer besser passenden Gelegenheit unterdrückten. Auf der Schulbank saßen wir nebeneinander wie zwei unschuldig Verurteilte im Gefängnis, bis wir dann nach und nach Geschmack am Lernen fanden und uns der schöne Sinn der Schule allmählich aufging.

      Eines Tages gab es einen seltsamen Himmel. Es war nicht mehr der Himmel vom Tag zuvor. Es war nicht nur der weiche, blaue Himmel, in dem die Vögel in leichten Scharen zur Schule flogen. Sie lernten singen:

      Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre.

      Er höret gern ein Lied zu seiner Ehre.

      Das sangen die Vögel und wußten es nicht. Ich aber wußte es. Oh, ich wußte so viel. Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde. Man sah es plötzlich dem Himmel an, daß der liebe Gott ihn erschaffen hatte.

      Auch die Sonne war anders geworden. Am Strand bemerkte ich es, angesichts der unzählbaren Wellenstreifen. Es war, als wolle die große Sonne am Himmel mit ihren unzähligen Strahlen sich in jeder Welle fortsetzen, und die vielen Wellensonnen strahlten ein demantenes Licht. Und die große Ursonne selbst blendete. Man konnte sie nicht ansehen, ohne die Augen zu schließen. Daß sie durch ein Wort entstanden war! Es werde Licht! Und es ward Licht. Hervorgerufen durch ein Wort. Oh, es war so tief erstaunlich! Die einsame Stimme des Schöpfers, da sein Geist noch über den Wassern schwebte. Oh, noch immer über der Förde meiner Heimat. Die vielen Sonnen über den Wellen. Sie glitzerten. Sie sprangen und tanzten, als hätten sie jubeln mögen. Wie vom Munde des lieben Gottes geweht, entstand wieder und immer wieder das Licht. Siehe, es war sehr gut, hatte der liebe Gott selbst gesagt. O ja, es war unendlich gut. Es war schön, bezaubernd schön. Es war der Himmel des lieben Gottes und das Licht des lieben Gottes. Und ich wußte darum.

      Wir hörten in der Schule die Schöpfungsgeschichte, wie sie im Alten Testament zu lesen steht. Unser Lehrer versuchte nicht, das überirdisch Große zu verkleinern. Er ließ zunächst die ehrfurchtgebietende Majestät der biblischen Sprache auf unsere jungen Herzen einwirken, die vor dieser Größe in Andacht erbebten. Erst nachher gab er uns einige Erklärungen, die unserem kindlichen Verstand entsprachen. In dieser Zeit lernte ich rasch lesen und schreiben. Die Aussicht, in der Bibel lesen zu dürfen, war es, die meinen Eifer beflügelte. Ich erinnere mich deutlich an meine kleine Lesefibel, in der gleich beim ersten Buchstaben, beim A, ein Apfel abgebildet war, und wie ich diesen Apfel oft betrachtete und mir dabei dachte, daß ich schon bald die Geschichte von Adam und Eva würde lesen können, die seltsame Geschichte, die ich schon kannte.

      Einen Tag lang versetzte mich die Vertreibung aus dem Paradies in eine unbeschreibliche Kümmernis. Es war, als arbeite das, was ich vernahm, selbständig in mir, ohne daß ich etwas dazu tat. Von einer großen Freude wurde ich plötzlich in einen tiefen Gram versetzt, und ich stand meinen eigenen Empfindungen machtlos gegenüber. Was mir sonst noch in der Schule geboten wurde, erschien mir belanglos gegen dieses eine, das mir einzig zu wissen wichtig schien. So viele Jahre sind seitdem vergangen; doch ist mir, als wäre es gestern gewesen, was ich an einem Mittwochmorgen vernahm: «Du bist Erde und sollst zu Erde werden.»

      In welche Betrübnis versenkte mich dies Wort! Am Nachmittag war ich mit einem Nachbarskind, mit Martha, einer kleinen Freundin, auf dem Kartoffelacker, wo wir bei der Ernte helfen durften. Es waren die großen mehligen, sogenannten Rosenkartoffeln,

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