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verdiente.

      Das Haus freilich war unser Eigentum, und wir hatten drei kleine Wohnungen an einfache Familien vermietet. Da die Mieter die Freigebigkeit meines Vaters sehr genau kannten, kam es ihnen nicht darauf an, hin und wieder den Zins nicht zu zahlen. Dann mußte Vater nach Feierabend auf Mutters Geheiß das Geld holen. Es ging stundenlang, bis mein Vater zurückkam, und meistens ohne Geld. War Mutter dann ungehalten, sagte Vater: «Möchte nur wissen, wozu du unbedingt das Geld brauchst. Es läuft dir doch nicht weg.» Es lief aber doch manchmal weg, und das Typische an diesen kleinen Sreitereien war, daß meine Eltern beide recht hatten.

      Meine Mutter war in ihrer Weise ebenso freigebig wie mein Vater. Wie schön ist es, wenn eine Mutter über den kleinen Kreis der Familie hinaus auch an andere denkt! Dies zu beobachten, scheint mir für Kinder ein sehr wertvolles Erlebnis zu sein. Mutter war sehr gefällig anderen gegenüber. Ja, sie suchte und fand Gelegenheit, unseren Nachbarn, oder wem sie sonst begegnete, Gefälligkeiten und Dienste zu erweisen, wobei sie keine Mühe scheute.

      Sie nähte für die kinderreichen Familien der Verwandtschaft, wußte aus alten, unscheinbaren Stoffen Neues und Nettes zu machen. Die Nachbarinnen kamen zu uns, damit Mutter ihnen die Kleider zuschnitt oder selbst nähte, wenn die Frauen keine Zeit hierfür hatten. Mutter war zwar selbst viel beschäftigt, doch verstand sie die Stunden auszunutzen.

      Einmal kam ein armes, kleines Mädchen an unsere Tür, eine kleine Hausiererin, die recht dürftig gekleidet war.

      In eins, zwei, drei hatte Mutter dem Kinde Maß genommen, und während das Mädelchen in den Straßen seinem Geschäfte nachging, änderte Mutter mit geschickten Händen zwei Kleider von mir, die sich das Kind später abholte. Und wie sorglich Mutter darauf achtete, daß die Kleider dem Kind doch ja richtig paßten!

      Fünf Jahre über blieben meine Eltern mit der kleinen Rebekka allein, während ich mir noch in den Gefilden der Ewigkeit das Kommen überlegte. Daß ich so spät geboren wurde! Es ist ja auf eine Weise immer spät oder immer früh, da wir weder an der Vergangenheit noch an der Zukunft so teilnehmen können, wie wir dies vielleicht gerne möchten.

      Vergleicht man einmal das Leben mit einem Kunstwerk, das wir nach gottgegebenen Anlagen und nach der Freiheit unseres Willens, nach einer bedingten, in Gott gegründeten Freiheit bis zu einem gewissen Grade selbst gestalten können, dann werden wir die Kindheit als die erste, kräftig angelegte Skizze bezeichnen dürfen, und dem erwachsenen Menschen bleibt nur die Ausführung des Kunstwerkes. Gewiß ist, daß jede Kindheit prophetisch ist, und wenn wir einmal im späteren Leben uns nicht begreifen können, kann uns sehr oft die Erinnerung an die Kinderzeit Aufschluß geben.

      Du lieber Gott, es sieht danach aus, als wäre ich immer noch nicht geboren worden. Als warte ich noch. . . Ich habe nämlich so lange auf meine Geburt warten müssen, infolgedessen gewiß auch meine Leser einige Geduld aufbringen werden. Wir haben ja Zeit. Wir haben viel Zeit, weil wir Ewigkeit haben, und wir dürfen mit liebender Langsamkeit zu Werke gehen. Meine lieben Eltern haben einmal sehnsüchtig auf mich gewartet, und ich kam und kam nicht, vielleicht, weil ich anderswo unabkömmlich war. Schließlich wurde mit meiner Ankunft nicht mehr gerechnet.

      Als meine Mutter mich nicht mehr erwartete, gefiel es mir urplötzlich zu kommen. Mutter stand in ihrem zweiundvierzigsten Lebensjahr, als sie mich zu ihrem höchsten Erstaunen in die Welt brachte. So seltsam es klingen mag, aber es ist Tatsache: sie war sehr zage auf meine Ankunft vorbereitet. Ich war ihr erstes Kind und bin auch ihr einziges geblieben. Mein Vater war bei meiner Geburt schon fünfzig Jahre alt, und ich kenne ihn nur mit den friedlich-weißen Silberfäden, die sein dunkles Haar leis durchzogen. Meine Mutter dagegen behielt ihr blondes, reiches Haar bis in ihr hohes Alter.

      Meine frühesten Erinnerungen, kleine, vorüberwehende Bilder, gleichen Blumen ohne Wurzeln. Die Bäume im Garten warfen helle und grüne Schatten, und jeder Zweig war eine große Welt für sich. Vom Schlafstubenfenster aus sah ich vierjährig, wie sich die Zweige leise bewegten, ohne daß man hätte entdecken können, was es war, das die Zweige bewegte. Sie wollten nur grüßen, und ich bewegte dann die Hände ähnlich wie der Zweig. Meine Arme rauschten sachte hin und her, und wenn Mutter mich einmal bei solchem Tun überraschte, war es nicht leicht zu erklären, warum ich den Baum grüßte. Und in der Dämmerung lebten auch fremde Wesen im Baum. Warum? Ich wußte es nicht. Ich sah es nur und grüßte, eine kleine Hirtin des fremden, leisen Lebens. Es blühte an einem sehr fernen Saum.

      Vaters großer Bart war wie der Wald, wie die Marienhölzung, aber ganz nahe, und Mutters Seidenband, das sie im Haar trug, war ein Regenbogen, war derselbe Regenbogen, den man mir einmal zeigte und der so hoch war, daß man die Augen davor schließen mußte. Das Haarband meiner Mutter war ein verwandelter Regenbogen, nach dem man hätte tasten können, und die Augen liebkosten das Band, das eine Brücke war über blonden Wellen, so weich war dieses Haar. Und die Stimme meiner Mutter war blau, und das Haar war weich wie die Stimme, wenn sie mich singend rief. Vielleicht hätte ich antworten mögen: «Meine blonde, meine blaue, meine weiche Heimat», aber ich wußte nicht, wie man dies sagt, obwohl ich schon sprechen konnte; doch habe ich es, wie meine Mutter mir oft erzählt hat, sehr spät gelernt.

      Dunkel kann ich mich besinnen, welch starken Eindruck mir die Sprache machte, und welch Behagen ich an den ersten Lauten empfand. Ich war aber schon über drei Jahre alt, und obwohl ich schon mancherlei zu sagen gelernt hatte, äußerte ich mich, sobald mich nur etwas freudig bewegte, in einem Taubengurren, das einige Minuten anhielt. Meine Eltern waren lange Zeit in einer leisen Besorgnis, ich könnte an einer Sprachstörung leiden, weil ich teilnahmsvoll und aufgeweckt schien und mich doch nicht recht zum Sprechen bequemen konnte. Dann eines Tages kam ich auf den Geschmack der Sprache und fand Gefallen daran, manches Wort wie ein kleiner Papagei einfach nachzusprechen und oft zu wiederholen. Eine Spieluhr, die nur wenige Klänge hat, eine kleine Melodie, die der Spieluhr selbst vollauf genügt und mit der auch die Zuhörer wohl oder übel zufrieden sein müssen. Mit der Zeit, nach und nach, ließ ich mich herbei, meinen leicht übersehbaren Wortschatz etwas zu vergrößern. Das Drollige hierbei war, daß ich winziges Persönchen nicht geneigt war, mich belehren zu lassen, wenn ich nicht auch selbst ein wenig belehren durfte. Ich hielt den Sprachunterricht offenbar für ein Spiel, bei dem auch meine Eltern richtig mitmachen mußten. Forderten sie mich auf, dies oder jenes zu sagen, und kam ich diesem Wunsche nach, hörte ich stets das zufriedene Lob meiner Eltern: «Das war richtig.» Danach ersuchte ich: «Sag Aijalu. . .»

      Hörte ich dann, was ich zu hören wünschte: «Aijalu . .», entgegnete ich befriedigt: «Das war richtig.» Wollten meine Eltern mir etwas beibringen, mußten sie sich auch, für meine Privatkindessprache interessieren, jene Sprache, die sich von selbst in mir gebildet hatte und die nach Aussage meiner Eltern gar nicht so dürftig war, wie man bei einem kleinen Kind annehmen möchte. Aus dem ersten, unwillkürlichen Lallen des Kindes entsteht jene kleine Sprache, die den Erwachsenen süß wie Vogellaut klingt und die ich erst in meinem vierten Lebensjahr nach und nach aufgegebenhabe, um mich der Sprache meiner Umgebung anzuschließen.

      Sehr deutlich weiß ich mich an einige Spiele zu erinnern, besonders an Kreisspiele, die ich zusammen mit anderen Kindern auf der Straße machte. Von den vielen Liedern, die ich fünfjährig lernte, werde ich kaum eines vergessen haben; aber gerade das erste Lied, das ich kennenlernte, ist mir besonders lieb geblieben. Ich fand es so schön und geheimnisvoll, daß ich es noch mit sieben Jahren ohne Bedenken als Abendgebet benutzte, wie ich überhaupt zwischen dem Morgen- und Abendgebet von Zeit zu Zeit dem lieben Gott irgendein kleines Gedicht anbot, das mir gefiel. Meine Beziehung zum lieben Gott war, wie wohl bei den meisten Kindern, die denkbar einfachste. Er war ja so leicht zu erreichen, er hatte so feine Ohren. Nur leise brauchte man ein Gebet zu sprechen, und der liebe Gott vernahm es in weiter Ferne, so daß man über diese Entfernung nicht nachzudenken brauchte. Das Wettermachen war ihm eine Kleinigkeit, und weil ich helles Wetter und den Sonnenschein gern hatte, saß ich bei Regenwetter am Fenster und bettelte:

      Laß die Sonne scheinen,

      Sonst wird das Kindlein weinen.

      Manchmal half es, aber auch nicht immer. Es half nicht, wenn vielleicht Mathiessen eigens um Regen gebeten hatte. Ich erlebte nämlich, gerade was das Wetter anbelangt, daß die Wünsche verschieden sein können. Mathiessen hatte einmal Regen bestellt. Wir Kinder,

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