Скачать книгу

Regen, rutsch.

      Der König fahrt in der Kutsch.

      Laat de Regen öwergahn.

      Laat de Sünn man wedder kam.

      Regen, Regen, rutsch . . .

      Weil der König in der Kutsche fuhr, mußte der Wettergott ein Einsehen haben und Sonne schicken. Als ich nun mit meinen Gespielinnen in der Haustür sitzend beim Wettermachen war, kam Mathiessen vorbei, der unser Lied, das wir der besseren Wirksamkeit halber oft wiederholten, sich grade anhörte.

      «So meint ihr’s also?» sagte Mathiessen, «unsereins ist froh, wenn’s regnet, weil wir den Regen nötig haben fürs Land, und ihr, kleines Volk, sitzt da und singt gegen den Regen an.» Wir waren in diesem Fall rücksichtsvoll genug, zugunsten von Mathiessen, der seinen Regen brauchte, auf unser Schönwettermachen zu verzichten. Blieb meine Bitte um Sonnenschein erfolglos, hatte ich, da ich noch nicht weit denken konnte, Mathiessen in Verdacht, daß vielleicht er derjenige sei, der das Regenwetter verursacht hatte. Er war für mich der Regenmann, während ich das kleine Sonnenmädchen war. Schade, daß nicht jeder sein Privatwetter bestellen und haben konnte, so daß das Wetter des einen nicht mit dem des andern zusammenzustoßen brauchte. Weil es bei uns viel regnete, hatte ich für die Regenlieder ein besonderes Interesse. Das erste Regenlied, das von mir zum Nachtgebet erhoben wurde, lautete:

      Es regnet auf der Brücke, und ich ward naß.

      Ich hab’ etwas vergessen, ich weiß nicht, was.

      Schöne Jungfrau, zart und fein,

      Schließ mich in den Reigen ein.

      Unter deinem Schirm laß mich behütet sein.

      Wie mich dieses schlichte Verslein beschäftigt hat! Durch Jahre hindurch hat es mich begleitet, kam immer wieder. Zunächst mögen es Tonfall und Melodie gewesen sein, die mich gefangennahmen. Dann aber war es der Sinn der Worte, in den ich mich versenkte. Eine Welt, die geneigt war, mich zauberisch zu umfangen. Ach, im Grunde werde ich es nicht erklären können, warum mir dieser kleine Kindervers soviel bedeutet hat. Ich weiß nicht das Warum, ich kenne nur das Wie.

      «Ich hab’ etwas vergessen, ich weiß nicht, was. . .»

      Ich lernte das Lied kennen in jener Zeit, da ich einen Begriff gewonnen hatte vom Vergessen. Wie ich schon erwähnte, hatte ich von einem Tag zum andern vergessen, was rechts und links ist. Dies nur, weil mir der kleine braune Fleck der rechten Hand abhanden gekommen war. Ich wußte den Grund meines Vergessens, und vor allem beschäftigte mich das Vergessenkönnen an sich. Es war mir gar nicht so wichtig, darüber aufgeklärt zu werden, daß man sich rechts und links auch ohne braunen Fleck merken konnte. Meine Großmutter, die damals bei uns im Hause war, klagte täglich über Vergeßlichkeit, und noch dazu vertraute sie das mir kleinem Mädel an, wobei sie nicht im entferntesten daran dachte, wie sehr bereit ich war, auf dieses Thema einzugehen. Die Vergeßlichkeit war der erste Fehler, den ich an mir erkannte, und ich hatte den Wunsch, mit dem Vergessen aufzuhören. Da meine Großmutter so gar oft darüber jammerte, mußte es doch etwas Schlimmes sein, diese Vergeßlichkeit. Vielleicht war es etwas, was sich vermeiden ließ. Sobald ich nun vom Vergessen hörte, wenn’s auch nur nebenhin erwähnt wurde, tauchte in meiner Vorstellungswelt das Regenlied auf, das zum Bild wurde, und dieses habe ich nie vergessen können.

      Ich sehe die Jungfrau, die weiße Schleierfrau auf einer Brücke. Sie steht im Sonnenregen und trägt über sich einen hellgrünen Schirm, durch den ein seltsam schönes Licht fällt, ein sehr zartes seidiges Licht, noch hellgrüner, noch lieblicher als das Grün des schönen Schirmes. Am Ufer jenseits sehe ich ein tieferes Grün, einen Wiesenstreifen, auf den langsam ein feierlicher Schatten fällt. Das Bild bewegt sich in mir; es lebt und verwandelt sich. Und über der Brücke, über der Schirmfrau erscheint plötzlich der Regenbogen, dieses große, leichte Luftzeichen.

      So hat sich mir das Bild im Laufe meines Lebens immer wieder gezeigt, oftmals und meistens, wenn ich es nicht erwartete. In einer Fiebernacht, als ich einmal in einer fremden Stadt allein und krank lag, kam das Bild zu mir, trostreich, ein Gruß aus der Märchenferne meiner Kindheit. Es war noch dasselbe Bild, wie ich es zum ersten Male in mich hineingeträumt haben muß.

      Schon oft konnte ich es halten mit einer Bitte: «Verweile, bleibe noch», und dann sah es mich an mit einem Blick, der mir befreundet und vertraut und dennoch fremd und rätselhaft war.

      Ich hatte mehrere Jahre ein und dieselbe Puppe, die Liese hieß und einen gemalten Holzkopf hatte, der jede Weihnachten aufgefrischt wurde. Auch das Kleid wurde oft erneuert, weil Liese, obwohl sie etwas bunten Putz liebte, dennoch nicht genug auf sich achtete. Sie hatte nur wie ihre Puppenmutter kleine Anwandlungen von Eitelkeit, die rasch wieder verflogen. In meinem siebenten Jahr machte Liese mir viel Sorge.

      Sie erhielt von einem Tag zum andern den Namen Toni Minde, und zwar nur, weil ich zufällig ein Gespräch über eine gewisse Toni Minde angehört hatte, das gar nicht für meine Ohren bestimmt war. Meine Toni war auf Reisen gegangen. Wahrscheinlich hielt sie sich in Hamburg auf, doch wußte ich als Mutter nichts Näheres darüber. Toni saß hoch oben auf der Sofalehne, während ich ihr den Rücken zugewandt hielt, denn ich wußte ja nicht, wo sie sich zur Zeit aufhielt. Toni fuhr sowohl mit der Bahn als auch zu Schiff, sie war immer unterwegs; aber ich, die Mutter, konnte sie nicht begleiten, eben weil ich nie eine sichere Adresse wußte.

      Als Frau Minde hatte ich eine Nachbarin in Form eines dicken Sofakissens, das Frau Marquardsen genannt wurde. Um ihre Taille hatte ich eine dicke Schnur gebunden, die ich sehr gut verknoten mußte, damit Frau Marquardsen nicht immer wieder von der unbefugten Hand meiner Mutter auseinandergenommen wurde, was mir eine Qual war, sooft ich das entdecken mußte. Sonst hielt Frau Marquardsen sich recht wacker, und es störte mich wenig, daß auf ihrem molligen Kleid «Nur ein Viertelstündchen» zu lesen stand.

      Frau Marquardsen kam zu mir zu Besuch und nahm an dem traurigen Geschick, das ich mit meiner Tochter hatte, den innigsten Anteil.

      «Haben Sie Nachricht von Ihrer Tochter Toni erhalten?»

      «Ja, aber es ist schon ziemlich lange her. Sie unterschreibt sich jetzt Ditha, und es kann sein, daß es gar nicht mehr meine Toni ist.»

      «O Frau Minde, was machen Sie sich für Gedanken! Natürlich ist sie es. Es gibt Leute, die ihren Namen wechseln.»

      «Wirklich?»

      «Bestimmt. Aber wie geht es ihr denn?»

      «Sie ist Seiltänzerin in Hamburg, auf der Reeperbahn.»

      «Was?! Seiltänzerin? Was ist denn das?»

      «Nun, sie geht zwischen Himmel und Erde. Damit verdient sie ihr Geld, aber leider nicht genug. Sehen Sie, dieses Kontobuch hat sie mir geschickt. Betrachten Sie sich das mal in Ruhe, Frau Marquardsen, und sagen Sie mir dann, wie Sie denken. Es sind die Schulden meiner Tochter, die ich zu zahlen habe. Dabei habe ich selbst kein Geld. Es ist ein Kreuz mit meiner Toni. Sie kommt nämlich immer weiter herunter.»

      Während Frau Marquardsen sich mit dem Kontobuch befaßte, eilte ich rasch zu meiner Puppe, um sie mit der Sicherheitsnadel etwas mehr in der Mitte des Sofas zu befestigen, weil ich mir so das «Herunterkommen» vorstellte.

      Dann wandte ich mich Frau Marquardsen zu, die sehr gerne die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen hätte, wenn sie Hände gehabt hätte.

      «Tz, tz, tz», machte Frau Marquardsen vor Schreck.

      Dann aber wurde sie zu einer spitzen Bemerkung veranlaßt, über die Frau Minde sich sehr ärgerte.

      «Sagen Sie, Frau Minde, ist Seiltanzen nicht ein ziemlich ruppiges Brot?»

      Frau Minde suchte sich zu beherrschen, war aber doch sehr verschnupft.

      «Frau Marquardsen, Brot ist Brot. Und meine Tochter verdient es ehrlich genug. Ich lasse nichts auf sie kommen.»

      «Nun, ich meinte ja auch nur. Seine Meinung wird man doch wohl sagen dürfen.»

      «Nicht immer.»

      «Gut, dann kann ich ja vor meiner eigenen Türe kehren.»

Скачать книгу