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nahe, so nahe, daß ich mich in ihren Augen spiegeln konnte. Warum sie mich zu sich ans Pult rief, weiß ich nicht mehr. Sie muß sehr schöne Augen gehabt haben, da ich noch heute geneigt bin, dieses Augenpaar mit dem Herzen zu verwechseln. Das stille Blühen dieser blauen Bergseeaugen muß dem Herzen dieses Mädchens ähnlich gewesen sein. Wie anders wäre die Macht eines flüchtigen Augenblickes erklärbar? Augen, in denen ich das eigene Gesicht sah.

      Tante Petersen sang vom Engel. Wie aber hätte ich mir einen Engel vorstellen können, da ich bisher nur flüchtig von Engeln gehört und nicht wissen konnte, wie dem Menschen die Vogelschwingen wachsen. Gewiß hätte Fräulein Petersen weniger schön sein können, und ich hätte sie leicht mit einem Engel verwechselt, aber sie war in der Tat schön wie ein Engel. Darum war mir auch, als sänge sie ihr eigen Lied. Sie glich der Saite einer Harfe, die sich unscheinbar macht, während sie klingt und schwingt.

      Noch sehe ich sie vor mir, die kleine Kindergärtnerin, wie sie saß und sang, die schlanken, weißen Hände lagen wie Blumen im Schoß. Dann war sie Stimme, nur Stimme.

      Es geht durch alle Lande

      Ein Engel still umher.

      Kein Auge kann ihn sehen.

      Doch alles siehet er.

      Der Himmel ist sein Vaterland.

      Vom lieben Gott ist er gesandt.

      Er geht von Haus zu Hause,

      Und wo ein gutes Kind

      Bei Vater oder Mutter

      Im Kämmerlein sich findt,

      Da wohnt er gern und bleibet da

      Und ist dem Kinde immer nah.

      Und geht das Kind zur Ruhe,

      Der Engel weichet nicht.

      Er hütet treu sein Bettchen

      Bis an das Morgenlicht.

      Er weckt es auf mit stillem Kuß

      Zur Arbeit und zum Frohgenuß.

      O lieber Engel, führe

      Auch mich den Kindern zu,

      Die du so gern geleitest

      Zu Arbeit, Spiel und Ruh.

      Bei solchen Kindern, lieb und fein,

      Da möcht’ ich auch so gerne sein.

      Von dieser Zeit an glaubte ich an Engel wie an die letzte und schönste Möglichkeit des Menschen. Es war der erste Wendepunkt in meinem Leben, da ich zu ahnen begann, daß es auch auf dieser dunklen Erde irgendwo Engel ohne Flügel gibt. Meine kleine Kindergärtnerin gehörte dazu. Es war pure Bescheidenheit, daß sie sich nicht der Flügel bediente. Sie hätte fliegen können wie die Lerche oder wie ein Engel ohne Saum, wenn sie gewollt hätte; aber daß sie zu Fuß ging, war mir viel erstaunlicher und versetzte mich in weit größere Bewunderung als der Traumengel, den ich fliegen sah. Auf was für Sohlen die Engel gehen? Heute weiß ich es nicht mehr so genau, aber damals, fünfjährig, ließ ich mich nicht durch den Augenschein verblüffen. Tante Petersen trug schlichte Lederschuhe mit halbhohen Absätzen, aber damit konnte sie mich nicht täuschen. Ich wußte ja, daß sie ein Engel in Menschengestalt war.

      DIE SCHULE

      Es war ein schöner Frühlingsmorgen um die Osterzeit, als meine Mutter mich zum ersten Male in die Schule brachte. Die Bäume an der Apenrader Landstraße standen im ersten jungen Grün, und mir ist, als hätten die Weißdornhecken, an denen ich in der Vorstadt auf meinem Schulweg vorüberkam, geduftet. Im Garten der Bresdorfschen Villa blühten die Osterglocken, und das Primelnbeet wurde besorgt, als wir vorübergingen. Weiter oben im Park stand das weiße Birkenhaus mitten im Grün der hohen Bäume. Dies war das Gartenhäuschen, das einmal klein und einmal groß war. Es hatte die seltsame Eigenschaft, sich verwandeln zu können. Sehr gern hätte ich einmal den Augenblick der Verwandlung beobachtet. Ob das nicht jetzt in früher Morgenstunde vor sich gehen konnte? Ich blieb am Gitter stehen, wie ich es jedesmal zu tun pflegte, wenn ich hier vorüberkam. Meine Mutter ließ mich eine Weile gewähren. Vögel zogen in langen Ketten in der reinen Morgenluft über den Garten hinweg.

      «Komm, Kind, wir haben keine Zeit länger. Sieh, die Vögel fliegen in die Schule, um singen zu lernen.»

      Kurz vor dem Nordertor ragte das Schulhaus, dunkel und sehr hoch. Ich hatte schon in der Stadt große Häuser gesehen. Das Schulhaus musterte ich jedoch mit besonderer Aufmerksamkeit, um dann meiner Mutter zu erklären, es sei mir zu groß, und ich wolle da nicht hinein. Mutter lachte, ja, man könne jetzt kein Schulhaus extra für mich anschaffen, und «sieh dir die Kinder an, wie die vergnügt in die Schule gehen.» Das stimmte freilich, und ich gab schließlich, wenn auch etwas widerstrebend, nach, das Schulhaus zu betreten. Vorher hatte ich mich gesperrt wie ein bockiges Kälbchen, und der Lehrer hatte dies beobachtet. Freundlich kam er auf uns zu, begrüßte meine Mutter und wandte sich dann lächelnd mir zu, ob ich nicht Lust hätte, etwas Rechtes zu lernen, oder ob ich lieber dumm bleiben wolle. Eigentlich wollte ich lieber dumm bleiben, denn es mußte wohl auch Dumme in der Welt geben; doch merkte ich, daß man nicht gesonnen war, mit mir eine Ausnahme zu machen, obwohl ich es sehr darauf angelegt hatte, die Schule zu umgehen. Es war gewiß nur das Unbekannte, die große Veränderung, die mich beängstigte.

      Der Lehrer, ein langer, junger Mann, betrachtete mich lächelnd, und es fiel mir ein, daß Mutter mir aufgetragen hatte, ihm die Hand zu geben. Ich holte das nach, aber zum Knix, den Mutter gleichfalls bei mir bestellt hatte, kam es nicht, weil mir der Lehrer die Hand auf den Kopf legte und mir sagte: «Nun, Gott segne dich, mein Kind.» «Ja, danke, gleichfalls», erwiderte ich, zwar noch etwas beklommen, aber durch solch liebenswürdigen Gruß begann ich doch schon etwas Vertrauen zu fassen.

      «So, Helga, wirst du jetzt auch immer schön brav und fleißig sein und dem Lehrer auch immer richtige Antworten geben?» Ja, das wollte ich. Daran sollte es nicht fehlen. Es konnte nur darauf ankommen, was der Lehrer von mir zu wissen begehrte. Das Allernächstliegende nämlich, den eigentlichen Zweck der Schule, habe ich lange nicht zu begreifen vermocht, und mir scheint, daß es hier bei vielen Kindern nicht mit wenigen erklärenden Worten getan ist. Weil nun der Lehrer selbst über sein Amt nichts oder nur sehr wenig sagte, hegte ich die absurdesten Meinungen über ihn. Mich wunderte, daß er Gefallen daran fand, vierzig Kinder die Kreuz und die Quere auszufragen über so manche Dinge, die ihn doch eigentlich gar nichts angingen. Die kleine vorläufige Intelligenzprüfung verstand ich vollkommen daneben. Der Herr Lehrer war recht neugierig und machte nicht den mindesten Hehl daraus. Er fragte nach den Berufen unserer Väter, und war das nicht doch etwas vorwitzig? Wie entzückt war er, von einem kleinen Mädchen — leider nicht von mir — zu vernehmen, daß zwei und zwei vier sind. Das Rechnen schien seine schwache Seite zu sein, und in diesem Punkt war er mir ähnlich. Aber etwas konnte er, und daheim lobte ich gern, was zu loben war: das herrliche Geigenspiel des Lehrers. Es wäre mir sehr recht gewesen, wenn er sich darauf beschränkt hätte, uns den lieben langen Vormittag etwas vorzugeigen, doch konnte er offenbar nicht lange bei der Sache bleiben. Es gab jeden Morgen nur einen kleinen Happen Musik, der Lust nach mehr erweckte. Am zweiten Morgen war er so entgegenkommend, zu seinem Geigenspiel zu singen. Oh, das war herrlich, diese warme, braune Stimme zu hören:

      «Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren. Lob ihn, o Seele, mit Jauchzen, das ist mein

      Begehren.

      Kommet zuhauf! Psalter und Harfe, wacht auf! Lasset den Lobgesang hören.»

      Oh, wie das rauschte! Wie kühn das hinanstieg! Wie leicht war ich hinweggenommen! Wie leicht hinangetragen! Leichter war ich als ein Wölklein, das sich auflöst.

      Nein, dieser Lehrer war ein Spielmann des lieben Gottes, dem man keine Vorschriften machen konnte. War es nicht möglich, sich mit der Musik zu begnügen, mußte man es einem solchen Herrn nicht überlassen, womit er sich außerdem noch beschäftigen wollte? Seines Geigenspiels und seiner begnadeten Stimme wegen konnte man ihm manche Wunderlichkeit hingehen lassen. «Was für was», pflegt man bei uns zu sagen, wenn man für eine Wohltat sich erkenntlich zeigen will. «Was

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