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Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend. Emmy Ball-Hennings
Читать онлайн.Название Blume und Flamme. Geschichte einer Jugend
Год выпуска 0
isbn 9788726614862
Автор произведения Emmy Ball-Hennings
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
«Nach Belieben. Ich halte Sie nicht, Frau Marquardsen.»
Dann wurde das Sofakissen unter das Bett geschleudert, wo Frau Marquardsen wahrscheinlich zu kehren hatte. Am nächsten Tag wurde das Spiel fortgesetzt, bis das Thema erschöpft war; aber die Puppe mußte angesteckt an der Sofalehne hangenbleiben, weil sie noch nicht weit genug «heruntergekommen» war, und niemand wußte, weshalb.
Ein kleiner Holzschemel war mir beinahe noch lieber als meine Toni-Liese. Er stellte mein Brüderchen vor, das ich am liebsten auf dem Arm mit mir herumtrug. Wußte ich mich unbeobachtet, küßte ich den Schemel: «Du kleiner Liebling, gib acht, wie fein das wird, wenn du erst laufen kannst.» Meine große Schwester hörte einmal zufällig diese Worte, und da sie nichts von diesem Spiel verstehen konnte, begann sie hellauf zu lachen, was mich sehr verletzte; doch war das Lachen meiner Schwester nicht fähig, mich von einem Augenblick zum andern aus der Illusion zu reißen. Ich war verwirrt und bestürzt, und da es für mich eben mein Brüderchen war, über das man sich lustig gemacht hatte, flüsterte ich ihm rasch zu: «Mach dir nur ja nichts draus, mein Siurlai, Kleines.» Der Schemel aus Holz weinte nicht, nur ich begann zu weinen.
Am schönsten aber war das Spiel im Garten, das mehr einem Traume glich. Auf dem Wall unter den dunklen Fliederbäumen blühten ein paar blasse Blumen, deren Verlassensein mich rührte. Es waren keine Blumen, die von Vaters Hand gesät waren. Sie waren von selbst gekommen und so bescheiden, daß sie nicht etwa bei den dicken Pfingstrosen blühten, sondern halb im Schatten, wo sie nicht einmal vorherwissen konnten, daß ich sie entdecken würde. Es waren ungewöhnlich feine und zarte Blumen. Sie waren zwar vollkommen still, aber sie hätten weinen können, die süßen Blumen. Ich sah es ihnen an, daß sie ein Weinen in sich zurückhielten. Oh, diese schluchzende Blässe der kleinen Blumen! Ich sah sie lange an in meinem ohnmächtigen Mitleid, und dann glitt ein kleines Lächeln aus jeder Blüte, ein weißschimmerndes Lächeln. So, also so lächelten Blumen.
Es duftete dunkel nach Erde. Wie gut das tat, diesen seltsam dunklen Duft tief einzuatmen und daneben die Blumen schimmern zu sehen, die in dieser duftenden Erde wurzelten! Die Blumen wünschten, daß ich am nächsten Tag wiederkomme. Sie sagten mir dies zwar nicht direkt, aber es war ihnen leicht anzusehen. . . Bevor ich aus dem Garten ging, trug ich noch ein paar Steine von der Grotte auf den Wall. Die «Grotte» war ein kleines Arrangement von bunten Steinen, das ich aber sehr groß sah, — was mir schon mit sieben Jahren begegnete, daß ich die Dinge manchmal klein, ein andermal dieselben Dinge ungeheuer groß sah. Ich nahm von der Grotte einen bläulichen Stein und einen Bergkristall, wie es deren mehrere dort gab. Gerade als ich mich mit meinen Steinen zum Wall begeben wollte, traf das Licht den hellen Stein. Das machte mich träumen. Ich sah wie unter Wasserschleiern einen Mann, den ich nicht kannte, aber ich hielt ihn für Johannes, für den ersten Mann meiner Mutter. Er lächelte und sah mich an, und da ich zurücklächeln wollte, zerrann das Bild, und ich stand mitten im Garten. Der bläuliche Stein war mir entfallen, und ich hob ihn auf und trug dann beide Steine hinauf auf den Wall zu den Blumen.
Am übernächsten Tag war es oben auf dem Wall bei den weißen Blumen ein Beet, ein kleiner Garten für sich geworden, das war das Reich des Johannes. Einige Muscheln hatte ich noch hierhergetragen, und obwohl ich sie doch selbst auf den Boden legte, wußte nur Johannes, was dies bedeuten sollte. Das heißt, ich wußte es wohl, ich konnte es nur nicht lesen. Johannes aber verstand die Inschrift. Es war der Name meiner Mutter: Anna Dorothea.
Er war der Versunkene, der in der Tiefe träumend schlief, und zugleich schien es hier zu spielen. Spielte er denn mit mir? Ich sah ihn, als wäre ich selbst gar nicht dabei. Er war auf einer Insel, die mit einigen Rauschbäumen bewachsen war, die mit ihren wogenden Kronen, mit ihren großen, weich wehenden Blättern sich vom weiten blauen Himmel abhoben. Wie herrlich es hier war! Das Meer duftete. Ich wähnte den Salzgeschmack auf den Lippen zu spüren. Das Meer war nahe. Es war wirklich sehr nahe. Johannes besaß eine Muschel, eine schöne, sehr große Muschel, und legte man diese Muschel ans Ohr, rauschte und sang es. Vielleicht rief es aus den Wellen: «Anna Dorothea». Es war Johannes, der meine Mutter liebhatte, ganz für sich allein. Der einsame Strand gehörte ihm, und an diesem einsamen Strand wußte niemand von meiner Mutter. Eine hohe Felswand schimmernd im Licht. Als hätte diese Wand den Namen vernommen: «Anna Dorothea». Ich war es selbst, die träumend auf dem Wall saß, die Muschel am Ohr und das Meer belauschend, während die weißen Blumen mich umblühten.
DER KINDERGARTEN
Vielleicht hat die Vergangenheit oder ein Traum den Tag verwandelt, an dem ich zum erstenmal den Kindergarten besuchte. Noch sehe ich das schöne Fräulein, die Tante Petersen, vor mir, der meine Mutter mich anvertraute. Tante Petersen trug ein rosenrotes Kleid und eine weiße, ärmellose Schürze. Ein Kleid von der Farbe der Heckenrosen. Das ganze Fräulein duftete leise nach Blumen, nach Heckenrosen, wie sie bei uns am Waldrand blühten. Wie beglückend, daß dieses fremde Fräulein meine Tante war, die Tante von vierzig Kindern, mit denen ich nur durch die Kindergärtnerin verwandt war. Von einem Tag zum andern hatte ich viele kleine Schwestern und viele kleine Brüder, mit denen ich spielen lernte.
Es gab einen großen Hof, der von hohen Bäumen eingefriedet war, und wo Tante Petersen uns singen lehrte:
So gemeinsam wir spielen,
So gemeinsam im Kreis.
Die schöne Stimme der Kindergärtnerin muß ihrem Herzen ähnlich gewesen sein. Man hätte wohnen mögen in dieser Stimme. Klar und froh klang alles, was sie sagte und sang. Ein Lied der jungen Jahre, das mir geblieben ist und das noch klingen mag, süß und lieb wie einst.
Aus weißem Meersand bauten wir kleine Gärten. Winzige Zweige wurden zu Rauschbäumen. Die zierlichen Wege, die wir anlegten, erschienen mir weit, und jeder Weg führte zu einer Überraschung. Da gab es plötzlich kleine Steingrotten, eine Hütte aus glitzernden Muscheln, ein Blumenbeet, einen kleinen Sternenhimmel auf der Erde, schimmernd in allen Farben. Ich erinnere mich an die vielen bunten Strohblumen, mit denen wir spielten, die Farben sangen. Selbst die stillen, kleinen Geräte, Eimer, Schaufel, Formen, alles schien zu sprechen: Nimm mich, spiele mit mir.
Zutraulich waren die Vögel, wenn wir ihnen Brosamen zuwarfen. Zwitscherte dann einer «Kiwitkiwitt», hieß das «danke schön». Manchmal hieß es: «Habt ihr noch mehr? Das Brot war gut. Kiwit-kiwitt.» Dann wieder rief einer: «Sieh, wie ich fliegen kann. Kiwit-kiwitt», breitete die Schwingen aus und im leichten Fluge ging’s bis in die Baumspitze. Die Vögel waren eigens von Tante Petersen hierherbestellt und wußten ganz genau, daß sie zum Kindergarten gehörten. Es waren keine Waldvögel, sondern richtige Kindergartenvögel. Sie hörten zu, wenn Tante Petersen sang, und um ihre Lieder zu hören, kamen sie manchmal eigens in den großen Saal, wo wir an langen Bänken und vor schmalen Tischen saßen.
In diesem Saal, wo wir uns bei Regenwetter aufhielten, machten wir verschiedene kleine Arbeiten. Wir flochten Körbchen aus buntem Glanzpapier, die wir mit heimnehmen durften und die um Weihnachten an den Baum gehängt wurden. Wir fertigten Silberketten an, formten kleine Kelche aus Stanniol, das war das Silberpapier, das köstlich anzusehen war.
Es hing ein Bild an der Wand, von dem Tante Petersen uns sagte, daß es «Wandersmann und Lerche» hieß. Das Bild stellte eine sommerliche Gegend dar, ein Kornfeld unter einem ruhigen, blauen Himmel. Ein Weg war da und ein Wanderer, der wohl nicht daran dachte, wohin er ging. Es war ihm gewiß nur ums Wandern zu tun. Er sah nach oben, wo in der blauen Luft die Lerche flog. Tante Petersen wußte ein Gedicht für dieses schöne Bild. Durch das geöffnete Fenster drang von den nahen Feldern der Duft von frischem Heu, während sie uns das Gedicht vorsprach.
Lerche, wie früh schon fliegest du
Jauchzend der Morgensonne zu?
Will dem lieben Gott mit Singen
Dank für Leben und Nahrung bringen.
Das ist von alters her mein Brauch.
Wanderer, deiner doch wohl auch?
Der Wanderer träumte, er sei ein Vogel, und der Vogel war mit dem Menschen befreundet. Wie die beiden einander verstanden. Oh, das war reizend! Es war, als dürfte ich unsichtbar in diesem Bilde weilen.