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Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Und wenn die Welt voll Teufel wär
Год выпуска 0
isbn 9788711507193
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Und Ordnung überall . . . merkwürdige Ordnung . . . Ruhe . . . Freundlichkeit. Wie aus der Erde gewachsen, statt der Schutzleute, alle hundert Schritt längs der Friedrichstrasse, ein bewaffneter Arbeitsmann mit rotem Ärmelabzeichen. Die Leute sitzen in den Kaffeehäusern wie sonst, kaufen sich Zigarren, mustern die Schaufenster. Bruno Lotheisen fuhr sich über die Augen. Wenn das ein Traum ist, dann ist das nicht Moskau, sondern Berlin. Unzweifelhaft Berlin. Ich bin in Berlin. Im Traum erlebe ich hier das alles, dass da in einer Stunde Jahrhunderte zu Staub werden . . .
Ein feldgrauer, mächtiger, achtzigpferdiger Kraftwagen einer hohen Heeresstelle fegte sausend um die Ecke. Zwei Matrosen auf dem Rücksitz hingelehnt, die freie Brust dem Wind entgegen. Die Bänder ihrer Mützen flogen. Es war der Schnittpunkt der Mohrenmit der Friedrichstrasse. Der Justizrat . . . der wohnte da . . . Bruno Lotheisen kam langsam zu sich. Ging schleppend zu einem der nächsten Häuser der Querstrasse. Er wusste immer noch nicht recht, was geschah . . .
Eine Gruppe Leute stand vor dem Haus. Hier sah er zum erstenmal finstere, drohende Gesichter. Sie richteten sich nicht auf ihn, sondern in den offenen Hausflur. In dem lehnte ein bleicher junger Mensch in Feldgrau. Er biss die Zähne zusammen. Er schüttelte den Kopf. Er hielt die Hand am Seitengewehr: „Nein. Ich gebe meine Waffe nicht her!“ Ein bärtiger, älterer Mann redete ihm gut zu.
„Nu mach’ keine Zicken, Kamerad — ’s hilft doch nischt!“ Und einer seiner Begleiter begütigte: „Wenn’s doch alle tun . . . Jetzt gehn alle nach Hause — wir und die Feinde drüben . . . Mensch . . . sei vernünftig . . .“
Aber von draussen, von der Strasse, klangen Rufe der Ungeduld. Entwaffnung! Entwaffnung! „Nu, wird’s? Na also: da schnallt er ja sein Koppel ab! . . . Los! Weiter!“
Bruno Lotheisen stieg die Treppe zum Büro des Geheimen Justizrats hinauf. Alle Türen standen offen. Das Personal war ausgeflogen. Er ging durch die aktengefüllten Vorderräume. Hinten, in seinem Arbeitskabinett, sass der alte Herr am Tisch. Ein feiner Kopf. Glatze. Hakennase unter der goldenen Brille. Langer, grauer Schnurrbart. Die rosig-runzelige Haut eines hohen Sechzigers. Im altväterisch hoch zugeknöpften, schwarzen Gehrock das vergilbte schwarzweisse Bändchen von 1870. Der alte Herr hielt den Kopf zwischen den Händen, starrte geistesabwesend vor sich hin, dann auf den Eintretenden.
„Herr Geheimrat . . . Kennen Sie mich?“
„Herr Lotheisen! . . . Nehmen Sie Platz . . .“
„Wundert es Sie denn nicht, mich zu sehen? Ich gelte doch für tot.“
„Wir alle sind tot“, sagte der alte Preusse. „Wir alle sind gestorben!“
„Ich lebe. Ich bin aus Russland zurück!“
„. . . und kommen hier gerade zurecht zum Jüngsten Tag . . . Nein . . . Ich staune nicht, dass Sie da sind! Mir ist das Staunen seit ein paar Stunden vergangen.“
Der Geheime Justizrat krampfte die Hände ineinander. Er beugte sich über den Tisch vor. Er flüsterte: „Wissen Sie, was eben geschieht: Ein halbes Jahrtausend wird zu Staub und Asche! Alles geht dahin! Alles, woran man geglaubt hat, wofür man gelebt hat, worauf man stolz war, was einem so selbstverständlich erschien wie das Sonnenlicht . . . Alles umgeweht wie ein Kartenhaus!“
Und dann dumpf: „Sie kommen aus Russland, Herr Lotheisen! Sie haben das dort wohl schon alles gesehen. Sie sind abgebrüht. Auf Sie macht es keinen Eindruck. Aber mir altem Mann ist es neu. Mir ist es zuviel!“
Der Justizrat schnellte verzweifelt von seinem Sitz empor. Er war trotz seines Alters straff, hager, sehnig. Er fasste den anderen. Schüttelte ihn krampfhaft.
„Wissen Sie denn, was geschieht? Der Weltbrand aussen und der Weltbrand innen! Achtzehnhundert Millionen Menschen gibt es auf der Welt. Fünfzehnhundert Millionen sind unsere Feinde. Sie kommen! Sie kommen! Unsere Mauern stürzen vor ihren ein . . .“
Bruno Lotheisen strich sich über die Stirne. Jetzt auf einmal war er erst völlig wach. Sein Augen wurden schrecklich klar: Er sah den flammenden Erdkreis und, von ihm umschlossen, eine mächtige Burg, aus der von innen, verderbenspeiend, helle Feuerzungen schlugen. Deutschland in Brand . . .
„Niemals, Herr Lotheisen, hatte noch ein Volk fast die ganze Menschheit wider sich und zündete dabei noch das eigene Haus an. Niemals noch stürzte sich ein Volk in solch fürchterliche Gefahr . . .“
Dem Kirchenbauer Lotheisen krampfte sich das Herz zusammen. Sein Atem stockte. Er wurde auf einmal unheimlich hellsichtig. Er schaute über das ganze weite deutsche Vaterland hin. Schattenhafte, riesige Gespenster wuchsen rings in dessen Grenzen zum wetterblitzenden Himmel empor. Sie beugten sich todartig über das innen lohende deutsche Land. Knochenhände krallten sich nach den Schloten und Schiffsmasten, Hungerpeitschen sausten auf Frauen und Kinder, Skorpionengeisseln schwirrten über den Bergwerken und Wäldern, Negerfratzen grinsten über den Rebhügeln des Rheins. Säbel kreuzten sich gebieterisch über den Kirchtürmen der Städte — hunderttausendfach klang von ferne der Wehruf deutscher Kriegsgefangener. Kalter Angstschweiss trat ihm auf die Stirne.
„Dies irae, Herr Lotheisen, . . wir zanken uns im brennenden Haus! Wir schlagen alles selbst in Stücke, und aussen schlägt schon die Donnerfaust ans Tor. Nein — die Tore springen schon von selber auf! Sie kommen — die apokalyptischen Reiter — sie kommen . . .“
Jäh, mit einem Schlag, fühlte sich Bruno Lotheisen um vier Jahre jünger. Er war wieder im August 1914. Seine blauen Augen leuchteten. Begeisterung durchströmte seine Adern. Übervoll das Herz. Das Jauchzen Winkelrieds. Theodor Körners Opferblut. Empor über alles! Empor! Empor! Weib, Kind und Leben hinter mir! . . . Herr, hilf! Was liegt an uns! Nur hilf, Herr Zebaoth! Hilf unserer guten Sache . . .
Er umballte mit wildem Druck die Hände des Alten. Sein Atem keuchte. Seine Worte überstürzten sich.
„Noch leben wir! Solange wir leben, ist noch nichts verloren! . . . Kommen Sie! Kommen Sie!“
„Wohin?“
„Unter die Menschen draussen! Aufrufen! Predigen! Sammeln alle, die unseres Geistes sind! Mitreissen die anderen! Beschwören einen jeden, jetzt nur an das da draussen zu denken . . . an die gemeinsame Not! Not bricht Eisen! Aber Eisen bricht auch die Not! Vorwärts! Vorwärts! Ich bin bereit zu sterben! Sicher mit mir noch viele! — Damit müssen wir noch alles retten! . . . Heldenmut wird nicht zuschanden . . . Nur Mut . . . Nur Mut . .“
Aber der alte Kämpfer von 1870 schüttelte den Kahlkopf. Setzte sich schwer nieder. Seufzte hoffnungslos aus tiefster Brust.
„Es ist zu spät!“
„Kopf hoch, Herr Geheimrat!“
„Es ist zu spät! Es war ein Heldenmut durch diese vier Jahre, draussen bei uns und drinnen, wie ihn noch kein Volk gezeigt hat, seitdem die Welt steht. Es ist heute noch ein Heldenmut draussen, noch in dieser Stunde, noch jetzt, in dieser Minute, dessen ganze Grösse erst die kommenden Geschlechter begreifen und vor dem sie in Ehrfurcht stehen werden. Aber es hilft nichts mehr. Wir können nicht mehr . . .“
Und nach einer Pause, mit gesenktem Haupt: „Wir können nicht mehr . . . Wir können nicht mehr . . . Machen Sie mir nicht das Herz noch schwerer, Herr Lotheisen! Sie kommen von ausserhalb. Sie wissen nicht, wie es bei uns steht und wie es in uns steht! Wir sind am Ende!“
Dann schaute der Geheime Justizrat auf und forschte müde, trocken, geschäftsmässig: „Und was führt Sie zu mir, Herr Lotheisen?“
Bruno Lotheisen hatte sich, immer noch schweratmend, im Sessel gegenüber niedergelassen. Er forschte unvermittelt, rauh, mit trockener Kehle:
„Bin ich eigentlich schon amtlich für tot erklärt?“
„Für tot erklärt . . .?“ Der alte Rechtsberater sammelte mühsam, immer noch halb geistesabwesend, seine Gedanken: „Warten Sie einmal: . . . Nein!“
„Meine Frau hat auch noch keinerlei Schritte dazu