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Und wenn die Welt voll Teufel wär. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Und wenn die Welt voll Teufel wär
Год выпуска 0
isbn 9788711507193
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Berlin . . . Berlin . . .
Die graue Luft . . . der stille Himmel . . . die fiebernde Stadt . . . Ein tiefes Summen über den Dächern. Kreisende Flugzeuge. Ein dröhnendes Hornissenbrummen: Ein silbergrauer, fliegender Walfisch — ein Zeppelin. Niemand schaut hinauf. Die Menschen unten summen und brummen selber. Sammeln sich überall in dunklen Klumpen wie schwärmende Bienen. Abgerissene Worte . . . Kiel . . . Die Gardeschützen . . . Kiel . . . immer wieder: Kiel . . .
Gedränge vor einer Kohlenhandlung. Frauen aller Stände bücken sich. Raffen die zerstreuten Kohlenstückchen vom Strassenpflaster in ihre Schürzen. Eine Dame in
Reiherhut und Sealcape schiebt einen Kinderwagen voll Briketts und winkt triumphierend zu einer langen, herrschaftlichen Fensterreihe im ersten Stock empor . . . „Uffjepasst!“ Auf dem halbleeren Bürgersteig rempelt ein halbwüchsiger Fabrikbengel die ängstlich ausweichenden Frauen und Kinder und alten Leute an die Hauswände und auf den Fahrdamm. Die ganze Strasse entlang stehen und sterben die kleinen Läden — mit Brettern verschlagen — die Scheiben übertüncht. Hinter den Fenstern der grossen Geschäfte allerlei: Pyramiden von norwegischen Fischpudding-Dosen im Stiefelladen, Warschauer Bonbons beim Schneider, Ölgemälde in der Seifenhandlung. Das lärmende Klappern der Holzfohlen an den Pappschuhen einer eiligen Krankenschwester. Ein feldgrauer zitterer am Boden . . .
Deutschland . . . . Deutschland . . . Was ist aus dir geworden?
Bruno Lotheisen ging rascher. Sein Herzschlag läutete: Ich lebe! Ich lebe! Läutete trotzig: Ich lebe . . . trotz alledem . . . Läutete jubelnd: Ich lebe . . . dort lebt mir Frau und Kind . . . dort, an der Ecke des Kurfürstendamms . . . das ist mein Haus . . .
Auch da stand wieder ein flüsternder Menschenhaufen auf der Prachtstrasse des Westens. In seiner Mitte ein langer blauer Matrose, die Mütze im Genick. Um ihn Dienstmädchen mit Herrschaftshäubchen und weissen Schürzen, junge Briefträgerinnen mit umgehängtem Postbeutel, erkältete, hustende Strassenbahn-Schaffnerinnen in Pumphosen und Schaftstiefeln, die Portierfrau. Sie war neu. Bruno Lotheisen kannte sie nicht. Sie hatte das Tor der hochherrschaftlichen Mietskaserne offengehalten. Sie kümmerte sich nicht darum, dass er eintrat und die Treppe hinaufstieg.
Auf dem Absatz des ersten Stockwerks, auf der Messingtafel rechts, stand sein eigener Name: Die Flurtür war nur angelehnt, das Hausmädchen offenbar eben einmal rasch auf die Strasse zu dem Matrosen hinuntergesprungen. Bruno Lotheisen trat in seine Wohnung, drückte mechanisch, als Hausherr, die Tür hinter sich ins Schloss, stand auf der Diele. Damenmäntel hingen an den Kleiderhaken, ein Herrenhut und Paletot. Er hörte Stimmen aus dem Salon. Fremde Stimmen. Seine Frau war nicht allein . . .
Er dachte sich: Also hat sie meine Depesche nicht erhalten . . . Er dachte sich weiter: Ich kann nicht so plötzlich bei ihr eintreten, als mein eigener Geist! Sie erschrickt ja zu Tode.
Und welch ein Wiedersehen unter fremden Menschen! . . .
Kling! Über ihm an der Wand schrillte die Flurglocke. Er hatte die Tür geschlossen. Nun stand irgendwer draussen und begehrte Einlass. Gleich kam von hinten jemand, um zu öffnen, Menschen . . . Über Bruno Lotheisen fiel, jäh die grosse Einsamkeit Sibiriens. Die Angst vor fremden Gesichtern — in dieser Stunde. Die Tür dicht neben ihm, zu seinem Arbeitszimmer, stand halb offen. Da trat er hinein, hastig, leise, wie ein Dieb in der Nacht. Da hatte er Zeit, zu überlegen: Wie mache ich es, dass Lonny, wenn ich vor ihr stehe, mir jubelnd, weinend, lachend in die Arme fliegt, statt sich vor der Gestalt meines Doppelgängers zu entsetzen? Wie meistere ich diese Stunde unerhörten Glücks, um die ich, ein gläubiger Christ, durch zwei lange Jahre, Tag für Tag, auf den Knien den Allmächtigen anflehte, diese Stunde, von der ich Nacht um Nacht vielhundertmal im Brüllen des asiatischen Steppensturms träumte, diese Stunde, die durch die Gnade Gottes alles, alles gutmacht, was ich ergeben von seiner Vaterhand, erlitt: Schmerz und Wunden, Gefangenschaft und Mühsal . . .?
„Vor allem müssen wir jetzt an Wilson glauben“, sagte nebenan eine kühle, selbstbewusste Männerstimme. Dann eine Damenstimme, Bruno Lotheisen unbekannt: „Gott sei Dank — dass auch Sie das meinen — ein Weltmann und Weltkenner, wie wir leider viel zu wenige in Deutschland haben!“
„Die Parole: ,Mit Wilson durch dick und dünn!’ wirkt ja allerdings auf manche Leutchen bei uns wie das rote Tuch auf den Stier.“ Die Männerstimme klang lässigironisch, gereizt und spöttisch-mitleidig zugleich. Nur immer blind alles auf die Hörner nehmen, was wir sehen! Sonst sind wir ja nicht glücklich.“
„Kennen Sie Wilson persönlich?“
„Nein, gnädige Frau! Ich hatte nie ein Bedürfnis nach einem Shakehands mit dem alten, guten Professor. Aber ich weiss genug von ihm! Ich war ja fast jedes Jahr in Amerika und oft genug in den übrigen Weltteilen. Mein alter Herr hat ja auf der halben Erdkugel Vertretungen unseres Magdeburger Stammhauses. So wie ich die Welt kenne, sah ich vom ersten Tage ab das Unheil für uns kommen.“
„Warum haben Sie denn nicht schon rechtzeitig Ihre Stimme erhoben?“
„Ich habe seit Jahren in Deutschland gepredigt, dass wir uns lieber heute als morgen mit den Feinden an den Verhandlungstisch setzen müssten, und dass wir auch heute noch — davon bin ich überzeugt — dann mit einem blauen Auge davonkommen würden.“
„Ein Jammer, dass man nicht auf Sie hörte!“
„Ich beging dass Verbrechen, mit der gesunden Vernunft bei unseren Gegnern zu rechnen! Ich musste deswegen schliesslich vor einem Jahr in die Schweiz flüchten! Ich hielt es jetzt, wo der grosse Krach da ist, für meine Pflicht, zurückzukommen und in letzter Stunde für die Verständigung zu wirken. Jetzt Wilsons rettende Hand zurückzustossen, wäre mehr als ein Verbrechen! Es wäre eine Dummheit!“
Der Unbekannte drinnen sprach lässig, langsam, aber unbeirrbar — ein Mann, der sich gerne reden hörte und der gewohnt war, gern und oft angehört zu werden. Eine selbstverständliche Überzeugungskraft lag in seiner selbstbewussten, weichen und kühlen Stimme. Er schloss gereizt und verächtlich: „Aber welche Dummheiten begehen wir nicht . . .?“
„. . . und dabei kämpfen wir seit Jahren siegreich gegen die Welt“, meinte etwas scharf die eine Damenstimme.
„Falls das auf mich zielt, meine Gnädigste — haben Sie nicht bemerkt, dass mein rechtes Bein lahm ist? Ich wurde schon im ersten Kriegsjahr als Rittmeister der Reserve und freiwilliger Kompagnieführer bei der Infanterie schwer verwundet und dauernd dienstunfähig.“
„Verzeihung! Das wusste ich nicht!“
Nebenan stand Bruno Lotheisen, ohne sich zu rühren, im Dämmerlicht seines Arbeitszimmers. Die Fenstervorhänge waren herabgelassen. Das Schattendunkel des verstaubten Raumes erhellte sich nur nach den schweren, halbgerafften Portieren hin, die ihn von dem Salon schieden und zwischen sich einen breitgeschwungenen Spalt freiliessen.
Gerade in diesem Ausschnitt sah Bruno Lotheisen den Redner von vorhin. Er stand in der Mitte des Zimmers, inmitten einer Anzahl um ihn sitzender, eleganter, in kostbares Pelzwerk gehüllter Damen, auf deren kriegsblassen Gesichtern sich die Wirkung seiner Worte spiegelte. Irgendeine bedeutsame Erinnerung knüpfte sich für Bruno Lotheisen an die Erscheinung des Unbekannten. Sein erster blitzschneller Eindruck war: Dem bin ich schon einmal vor Jahren begegnet . . . draussen im Krieg. Aber wo? Der Krieg war weit. Der Krieg war gross. Tausend Gesichter drängten sich da im Gedächtnis . . . Tote standen neben Lebenden . . . Freund und Feind . . . Ost und West . . .
Wo habe ich nur diesen mittelgrossen, schlank gewachsenen Mann in meinen Jahren, so um die Mitte der dreissig, schon einmal gesehen? Diese lebensklugen, beweglichen, überlegen lächelnden Züge eines Gesichts, dessen Regelmässigkeit die Frauen sicher schön finden? Man merkt es an der stummen Andacht ihrer Blicke. Wo diesen kurzen, dunklen Schnurrbart? Das dunkle, gewellte Haar? Auf dem Schettel den schwachen Schimmer einer Glatze? Den Ansatz einer Lebemanns-Tonsur?
Dabei das Erstaunliche: Ein jüngerer Mann in Zivil . . . in Deutschland . . . jetzt . . . Offenbar nach der neuesten Herrenmode des Auslands gekleidet .