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aber haben die Liebe Gottes denen nicht gezeigt, die unter sozialer Ungerechtigkeit leiden … Wir haben Gottes Gerechtigkeit gegenüber der ungerechten amerikanischen Gesellschaft weder proklamiert noch gezeigt. Obwohl der Herr uns dazu aufruft, die sozialen und wirtschaftlichen Rechte der Armen und der Unterdrückten zu verteidigen, haben wir überwiegend geschwiegen. (Chicago Declaration I 1985 [1973])

      Die Chicago-Erklärung war bedeutsam, weil sie einen für westliche Verhältnisse unüblich selbstkritischen Ton anschlug. „Noch nie war der Ruf nach sozialem Engagement in so scharfen Worten laut geworden“ (Berneburg 1997, 69). Dass das Dokument breite Zustimmung fand – unter anderem bei Billy Graham – verdeutlicht die veränderte Atmosphäre unter den Evangelikalen hinsichtlich ihres Weltbezugs. Der Brasilianer Valdir Steuernagel (1988, 131) hält fest, dass seit Berlin nur wenige Jahre vergangen waren, „aber die Evangelikalen waren einen weiten Weg gegangen – von einer zurückhaltenden Zustimmung in Wheaton hinsichtlich der sozialen Verantwortung der Christen … zu einer Art von Evangelisation, die darauf ausgerichtet ist, das ganze Evangelium der ganzen Person zu bringen … wie es in Bogotá zum Ausdruck kam.“

      Die Missionstheorie des evangelikalen Mainstreams fußte zu Beginn der 1970er Jahre zwar immer noch auf der traditionellen Begründung von Mt 28. Aber man war sich bewusst, dass Antworten gefunden werden mussten auf die Herausforderungen einer nachkolonialen, globalisierten Welt. Den evangelikalen Missionstheologen stand eine große Aufgabe bevor. Sie mussten biblische Antworten finden auf Herausforderungen, die sich der Mission so noch nie gestellt hatten. In Lausanne begann man sich dieser Aufgabe zu widmen und gab damit Raum für eine der größten missionstheologischen Veränderungen in der modernen Mission.

       Lausanne (1974)

      Der Weltmissionskongress im schweizerischen Lausanne ist der bedeutendste Missionskongress der modernen evangelikalen Bewegung. Die Evangelikalen waren repräsentativ vertreten. Die Teilnehmer kam je zur Hälfte aus dem Westen und aus der Zwei-Drittel-Welt.

      Die Frage der sozialen Verantwortung war von Anfang ein wichtiges Thema. Billy Graham (1974, 55) äußerte in seiner Eröffnungsrede den Wunsch: „Lasst uns freudig in der sozialen Aktion wirken und doch darauf bestehen, dass dies allein noch nicht Evangelisation ist und auch nicht Evangelisation ersetzen kann. Diese Zusammenhänge verunsichern manche Gläubige. Vielleicht kann Lausanne helfen, dieses zu klären.“ Die Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar plädierten in ihren Referaten für die Integration der sozialen Aufgabe in den Missionsauftrag – und traten damit ein Bewegung los, die im auf Lausanne folgenden Jahrzehnt zu großen Veränderungen in der evangelikalen Missionstheologie führen sollte.

      Trotz der Aufmerksamkeit, die man der sozialen Verantwortung schenkte, erachteten viele der gegen 4000 Teilnehmer diese als zu gering. Aus diesem Empfinden heraus entstand während des Kongresses die „Radical Discipleship Group“, die eine Erklärung mit dem Titel „A Response to Lausanne“ entwarf. In dieser Erklärung wurde ein ganzheitliches Missionsverständnis vorausgesetzt und damit begründet, dass das biblische Heil die gesamte Schöpfung umfasst. Kernforderung der Erklärung waren die Worte: „Wir müssen den Versuch, einen Keil zwischen Evangelisation und soziale Aktion zu treiben, als dämonisch zurückweisen“ (Padilla und Sugden 1985, 9). Der scharfe Ton der Erklärung markierte den Beginn einer teilweise hitzig geführten Debatte, die sich erst ein knappes Jahrzehnt später merklich abkühlen sollte. Die Tatsache, dass die Erklärung während des Kongresses von fast 500 Teilnehmern unterzeichnet wurde zeigt, dass die Frage nach der Einordnung der sozialen Verantwortung in den Missionsauftrag zur Kardinalfrage der Evangelikalen geworden war.

      Der Vorstoß der Radical Discipleship Group war so beachtlich, dass die soziale und politische Betätigung im Artikel 5 der Lausanner Verpflichtung zur missionarischen Pflicht gezählt wurde. Dieser Umstand setzte manche Vertreter aus dem Westen in Aufruhr. Noch zehn Jahre nach Lausanne klagte der Missionswissenschaftler Peter Beyerhaus, der Artikel 5 habe den radikalen Evangelikalen Anlass für ein verändertes Missionsverständnis gegeben, das die biblische Lehre von der Erlösung verdunkle. Beyerhaus ging mit dieser Entwicklung scharf ins Gericht und bezeichnete sie als „verräterische Aufgeschlossenheit“ für die kontextuelle Theologie (Beyerhaus 1984, 12–13). In der Zwei-Drittel-Welt und bei radikalen Theologen im Westen wurde die Integration der sozialen Verantwortung in die missionarische Aufgabe hingegen begrüßt. Während die einen das Ergebnis von Lausanne als Anbruch eines neuen Missionszeitalters begrüßten (Costas 1977, 138), befürchteten andere, dass eine Angleichung an die ökumenische Position erfolgen und dies zum Ende der traditionellen Mission führen könnte (Johnston 1984, 20).

      Der evangelikalen Bewegung stand nach Lausanne eine Zerreißprobe bevor, die sie bis in die 1980er Jahre hinein beschäftigen sollte. Zunächst aber wurden die Evangelikalen namentlich in Lateinamerika und Afrika vom Ergebnis von Lausanne beflügelt. Für viele war Lausanne „eine sehr wichtige Bestätigung für viele Dienste, welche die Evangelikalen, vor allem in der Zwei-Drittel-Welt, ausgeführt hatten, jedoch zum Teil hatten schweigen müssen, damit man sie nicht missverstand, sie würden die Hingabe an den Auftrag der Evangelisation abschwächen“ (Samuel und Sugden 1999, ix).

       Die Wirkung von Lausanne

      Es ist nicht erstaunlich, dass die Ergebnisse von Lausanne vor allem in Lateinamerika erfreut zur Kenntnis genommen wurden. Zum einen waren die Beiträge der Lateinamerikaner René Padilla und Samuel Escobar interessiert aufgenommen worden. Zum anderen war Lateinamerika der Kontinent, der unter Anregung der Befreiungstheologie schon vor Lausanne begonnen hatte, eine eigenständige evangelikale Theologie zu entwickeln.

      In meiner Dissertation habe ich gezeigt, dass in der Madras Deklaration drei Themen als Ausdruck radikaler Theologie in den Vordergrund treten (Hardmeier 2008, 36–37). Erstens wurde in der Madras Deklaration das Eintreten für soziale Gerechtigkeit vom Alten Testament und vom Gesamtwerk Christi her begründet und das Geschehen am Kreuz soziologisch gedeutet. Letzteres bedeutet, dass

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