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Kirche ist Mission. Roland Hardmeier
Читать онлайн.Название Kirche ist Mission
Год выпуска 0
isbn 9783862567577
Автор произведения Roland Hardmeier
Жанр Документальная литература
Серия Edition IGW
Издательство Bookwire
1Die Rede ist von den so genannten radikalen Evangelikalen. Brian McLaren, einer der Hauptvertreter der Emerging Church in den Vereinigten Staaten, ist namentlich von radikalen Hauptvertretern wie Jim Wallis, Ronald Sider und René Padilla beeinflusst worden (McLaren 2006, 10; 227). Mehr zu den radikalen Evangelikalen in Kapitel 2 „Die radikale Anstiftung“.
2 | DIE RADIKALE ANSTIFTUNG
Die evangelikale Bewegung ist ein vielschichtiges Phänomen. In Europa werden die Evangelikalen als Segment in der Gesellschaft wahrgenommen, das traditionelle Werte vertritt. Die Evangelikalen stehen für konservative ethische Positionen und neigen zu einer konservativen politischen Haltung – sofern gesellschaftliche Fragen in ihrem Denken überhaupt eine Rolle spielen. Sie interessieren sich mehr für die Veränderung des Herzens als für die Umwandlung der Gesellschaft.
Dieses Bild trifft nicht auf alle Evangelikalen zu. Es ist wenig bekannt, dass sich in der weltweiten evangelikalen Bewegung in den 1970er Jahren ein radikales Segment gebildet hat. Seitdem am Kongress für Weltevangelisation in Lausanne 1974 eine Gruppe von sich reden machte, die sich „Radical Discipleship Group“ nannte, hat sich ein radikales Segment gebildet, das sich durch die Betonung der sozialen Verantwortung auszeichnet. Der Begriff „radikal“ besagt, dass diese Evangelikalen Jesus radikal nachfolgen und wie er sozial handeln wollen. Angestiftet durch diese radikale Gruppe hat sich in den auf Lausanne folgenden Jahrzehnten das Missionsverständnis der evangelikalen Bewegung auf Transformation hin verändert.
Die radikalen Evangelikalen treten nicht als gesonderte Gruppe in Erscheinung und sie sind auch nicht einer bestimmten Kirche oder Denomination zuzuordnen. Der Begriff charakterisiert vielmehr evangelikal gesinnte Christen, denen die soziale Verantwortung am Herzen liegt, weil nach ihrem Verständnis radikale Nachfolge zur Nächstenliebe führt. Der radikale Evangelikalismus ist am stärksten in der Zwei-Drittel-Welt verbreitet. In der südlichen Hemisphäre denkt der überwiegende Teil der Evangelikalen radikal. Das ist bedeutsam, weil durch das numerische Kräfteverhältnis zwischen Nord und Süd immer öfter Stimmen aus dem Süden auch im Norden gehört werden. Diese Stimmen werden unser Verständnis von Kirche und Mission in Zukunft prägen.
Den radikalen Kräften gehört die Zukunft. Wir tun gut daran, dieses Segment zu verstehen und darauf zu achten, wie seine Vertreter auf den Wandel der Welt reagieren. Das wird uns helfen zu verstehen, wie im weltweiten Leib Christi die gegenwärtigen Herausforderungen bewältigt werden. Es wird blinde Flecken in unserer Sichtweise aufdecken und so unseren Blick für unsere Aufgabe schärfen.
In diesem Kapitel werde ich die radikale Anstiftung, die in Lausanne ihren Anfang nahm, darstellen und den Prozess beschreiben, der zur Transformations-Orientierung der evangelikalen Mission geführt hat. Als Orientierungspunkt dienen die wichtigsten evangelikalen Missionskongresse von 1966 bis in die Gegenwart.
Wheaton und Berlin (1966)
Im April 1966 versammelten sich knapp 1000 Delegierte in Wheaton, in den Vereinigten Staaten, zu einem bedeutenden Missionskongress. Es war die Zeit, in der Billy Graham der evangelikalen Bewegung durch seinen Dienst neuen Aufschwung gab. In seiner Person repräsentierte sich die so genannte neue evangelikale Bewegung, die sich aus dem Pessimismus des Fundamentalismus hatte lösen können und durch ihre Weltoffenheit Kräfte für die Evangelisation freisetzte. In Wheaton stand die Evangelisation im Vordergrund des missionarischen Auftrags. Gleichzeitig wurde bedauert, dass man sich zu wenig um soziale Fragen gekümmert hatte. In der Wheaton-Erklärung heißt es:
Wir haben schlimm gesündigt. Wir sind einer unbiblischen Isolation von der Welt schuldig geworden, die uns nur zu oft davon abgehalten hat uns ehrlich mit den Angelegenheiten der Welt zu befassen … Während die Evangelikalen im 18. und 19. Jahrhundert führend in der sozialen Verantwortung waren, haben viele im 20. Jahrhundert die biblische Perspektive verloren und sich einzig darauf beschränkt, ein Evangelium der individuellen Erlösung zu predigen ohne sich genügend ihrer sozialen und gemeinschaftlichen Verantwortung hinzugeben. (Wheaton Declaration 1966)
Diese Passage macht deutlich, dass das soziale Gewissen der Evangelikalen erwacht war. Man wollte an das sozialethische Erbe der frühen evangelikalen Bewegung anknüpfen und Versäumtes aufholen. Dieses Bestreben war zu einem beträchtlichen Teil dem Einfluss der Delegierten aus der Zwei-Drittel-Welt zu verdanken. Das ist erstaunlich, denn aus Afrika, Asien und Lateinamerika nahmen nur etwa 50 Personen am Kongress teil.1
Im selben Jahr fand in Berlin ein Weltkongress über Evangelisation statt. An diesem Kongress begannen erstmals Theologen aus der Zwei-Drittel-Welt Kritik am Westen zu üben und der Westen verschloss sich dieser Kritik nicht (Steuernagel 1988, 99). Zum ersten Mal konnte davon gesprochen werden, dass die Teilnehmer aus dem Westen und aus den übrigen Ländern als gleichberechtigte Partner teilnahmen, und zum ersten Mal erkannte man, wie wichtig der Beitrag dieser Länder für die Weltevangelisation ist (Johnston 1984, 158).
Der Kongress in Berlin befasste sich nur am Rande mit der sozialen Aufgabe. Billy Graham sprach sich für die Priorität der Evangelisation aus: „Die sozialen, psychologischen, moralischen und geistlichen Nöte und Bedürfnisse der Menschen werden zu einer brennenden Motivation für die Evangelisation. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die Kirche einen viel größeren Einfluss auf die sozialen, moralischen und psychologischen Bedürfnisse der Menschen haben würde, wenn sie zu ihrer Hauptaufgabe zurückkehrte, das Evangelium zu verkündigen und Menschen zu Jesus Christus zu bekehren“ (Johnston 1984, 162–163).
Nach Wheaton und Berlin wurde die soziale Frage für die Evangelikalen zu einem wichtigen Thema. Am stärksten wurde sie in der Zwei-Drittel-Welt diskutiert. An einem Kongress über Evangelisation in Bogotá 19692 sagte Samuel Escobar: „Jede Evangelisation, die den sozialen Problemen keine Beachtung schenkt und die das Heil und die Herrschaft Christi nicht in dem Kontext verkündigt, in dem die Zuhörer leben, ist eine mangelhafte Evangelisation; sie verrät die biblische Lehre und folgt nicht dem Beispiel, das Jesus Christus, der uns als seine Botschafter hinaussendet, uns gegeben hat“ (Escobar 2002, 249).
Escobars Aussage unterscheidet sich von Billy Grahams Position dadurch, dass er die soziale Verantwortung nicht als bloße Brücke zur Evangelisation betrachtet. Er forderte, dass wir in der Evangelisation dem Beispiel Christi folgen. Escobar begründete die Zuwendung zur Welt christologisch und gab der sozialen Verantwortung damit einen eigenständigen Wert. Die Schlusserklärung des Kongresses zeigt, dass in Lateinamerika ein neues Verständnis von Kirche und Mission entstanden war:
Wir haben zusammen die Notwendigkeit erkannt, das christliche Leben in seiner ganzen Fülle zu führen und dem lateinamerikanischen Menschen das ganze Evangelium im Kontext seiner zahlreichen Bedürfnisse zu verkündigen … Der Prozess der Evangelisierung muss in konkreten menschlichen Situationen stattfinden. Soziale Strukturen beeinflussen die Kirche und diejenigen, die das Evangelium empfangen. Wo diese Tatsache nicht erkannt wird, wird das Evangelium verraten, und das christliche Leben verarmt. Für uns Evangelikale ist die Zeit gekommen, unsere soziale Verantwortung ernst zu nehmen. Dabei müssen wir auf ein biblisches Fundament bauen, zu welchem eine evangelikale Lehre sowie das konsequent weitergedachte und verwirklichte Beispiel Christi gehören. Das Vorbild Jesu Christi muss in der gefährlichen Situation Lateinamerikas, die von Unterentwicklung, Ungerechtigkeit, Hunger, Gewalt und Verzweiflung gekennzeichnet ist, inkarniert werden. Der Mensch ist nicht in der Lage, das Reich Gottes auf Erden zu bauen. Aber das Handeln der Evangelikalen wird zur Schaffung einer besseren Welt beitragen, die das Reich vorausahnen lässt, für dessen Kommen wir täglich beten. (Escobar 2002, 250–251)
Vereinzelt machten auch im Westen ähnliche Vorstöße von sich reden. 1973 fand in Chicago ein Treffen über die soziale Verantwortung der Evangelikalen statt.3 In der Chicago Declaration of Evangelical Social Concern bekannten sich die Teilnehmer der Vernachlässigung der sozialen Verantwortung