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ein barbarisches Experiment. Er nahm Müttern ihre neugeborenen Kinder weg und ließ sie von gedrilltem Personal aufziehen, ohne dass die Kinder auch nur eine Form der Zuneigung durch Worte oder Berührung erfahren konnten. Die Ammen durften die Kinder nicht streicheln, nicht liebkosen, nicht mit ihnen sprechen. Sein Ziel war es herauszufinden, ob diese so behandelten Kindern in eine Art Ursprache zurückfallen, seine Vermutung war, es wäre Hebräisch. Doch das Ergebnis ist bis heute schockierend. Alle Kinder starben. Sie konnten ohne Zuneigung, ohne Liebe durch Worte oder Berührungen einfach nicht existieren. Babys ohne menschliche Liebe sterben.

      Ich glaube ganz fest, dass Gottesbilder entscheidend sind für das Lebensglück eines Menschen. Ich habe dazu sogar ein eigenes Buch geschrieben, als mir das bewusst geworden ist. Immer wieder stelle ich bei Christen fest, dass ihre Probleme unmittelbar damit zusammenhängen, dass sie ein ganz schlechtes Bild von Gott haben. Diese Vorstellung versteckt sich hinter frommen Masken, verkleidet mit schönen biblischen Floskeln. Aber es ist trotzdem ein krank machendes Gottesbild.

      Ende des 18. Jahrhunderts gab es einen weltweiten Aufbruch in der Christenheit, der im Rückblick den Namen »Heiligungsbewegung« bekam. Diese Bewegung machte sich im sogenannten Pietismus breit, im Rahmen von protestantischen Kirchen und Freikirchen. Das Gottesbild, welches hier propagiert wurde, war eindeutig. Gott ist ein heiliges, überirdisches Wesen, dem man nur begegnen kann, wenn der Christ ebenfalls heilig lebt. Darum Heiligungsbewegung. Mit heilig war ein moralisch einwandfreies Leben gemeint. Wer Gott begegnen wollte, musste in seinen Gedanken, Worten und Taten gemäß eines strikten Moralkodexes leben. Diesen Kodex nahmen die Christen aus Aussagen der Bibel, welche aber meist aus dem historischen und inhaltlichen Zusammenhang gerissen wurden.

      So wurde die Bibel zu einer Art Normenregister umgemünzt, zu einem moralischen Gesetzbuch, aber dieses auch nur in eine gewisse Richtung interpretiert. Lachen war Sünde. Alkohol trinken war Sünde. Musik war weitestgehend auch Sünde. In einigen Gottesdiensten im Pietismus durfte keine Musik ertönen. Denn, so glaubte man, Töne und Rhythmus waren weltlich und nicht geistlich, sie stammten aus einer säkularen Quelle und nicht aus einer himmlischen. Ich habe gehört, dass noch vor Jahren Schlagzeuge aus manchen pietistischen Gottesdiensten verbannt wurden, weil man glaubte, Trommeln kämen aus dem Bereich des Voodoo-Zaubers. Mit ihren Rhythmen würde man dunkle Geister anlocken. Gott mithilfe von Schlaginstrumenten zu lobpreisen war für diese Christen schlicht nicht denkbar.

      Auch wenn sich die meisten Gläubigen von diesem Bild befreit haben, steckt eine Vorstellung von einem strafenden, allzeit kontrollierenden Gott ganz tief in der DNA des Glaubens. Und die Kirche im Allgemeinen braucht stetig eine neue Revolution der Befreiung von diesen moralischen Normen, die wir uns immer wieder fälschlicherweise setzen. Es ist ein Wagnis, Normen zu hinterfragen. Eine Norm ist ja wie ein Wegweiser, wie eine Mauer, wie eine Begrenzung. Sie sagt uns, was wir tun dürfen und was nicht, und damit gibt sie eine Richtung vor und auch Sicherheit im Denken und Handeln. Hinterfragt man diese Norm, verunsichert das den Menschen. Es muss deshalb sofort eine neue Norm gefunden werden, wenn eine alte stirbt, sonst werden wir nicht glücklich.

      Abends denke ich noch viel über diesen Einsatz nach. Bei all dem, was ich im Glauben verstanden habe, ist doch so wenig in meinem Herzen gelandet. Ob ich wirklich der Richtige in diesem Dienst als Prediger bin? Braucht es nicht Menschen, die sich nicht ständig selbst hinterfragen, um diese Aufgabe gut zu erledigen? Ist mein Zweifel nicht auch ein Zeichen, dass ich aus dem Dienst aussteigen sollte? Ist es für den Job in der Verkündigung nicht elementar wichtig, dass man einen auf die Bibel gegründeten, theologisch nicht hinterfragbaren Kanon hat? Bei mir ist ständig etwas im Wandel. Ich weiß nicht, ob ich morgen das noch glauben kann, was heute meinen Glauben definiert. Diese ständige Ungewissheit macht mich krank. Vielleicht führt mein Weg eher aus dem Dienst heraus als in den Dienst hinein. Vielleicht werde ich in absehbarer Zeit aufhören zu predigen und Texte über den Glauben und das Christentum zu schreiben. Die Angst ist unerträglich und vermiest mir den Dienst ganz und gar. Solange ich diese Fessel um meinen Hals habe, macht mir das Predigen keine Freude. Vermutlich brauche ich auch eine Auszeit. Ob ich dann jemals wieder zurückkommen werde, ich weiß es nicht.

      WAS ICH VON DIESER REISE MITGENOMMEN HABE

      Ich will mir merken, dass äußere Gegebenheiten nicht über mein Selbstwertgefühl entscheiden können. Dieser Gott hat mich so angenommen, wie ich bin, darüber predige ich und das gilt natürlich auch für mich. Dass meine Angst vollkommen unbegründet war, ist nichts Neues. Aber ich muss lernen, nicht zu sehr auf die Reaktionen der Zuschauer achtzugeben, sondern mehr in meinem eigenen Gedankenfluss bleiben. Dass ich mit Lampenfieber in der Kirche zu kämpfen habe, wusste ich bereits. Aber dass es auch ein Problem in der Schule werden kann, musste ich bei meinem nächsten Einsatz in Schneeberg ganz hart erleben.

      Nachtrag: Einen Tag nach meinem Einsatz in Essen erzählt mir der Veranstalter, dass die Jugendlichen, die den Gottesdienst vorzeitig verlassen hatten, aus einer stationären Jugendeinrichtung kamen. Diese liegt fünfzig Kilometer entfernt, sodass sie den letzten Bus erwischen mussten, um einigermaßen rechtzeitig nach Hause zu kommen. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt so lange geblieben sind.

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      SCHNEEBERG

      Juni 2012

      Angst auf einem Schuleinsatz in Schneeberg, ein Tagesseminar mit der Jugend und wie ich dem Satan übergeben wurde

      Die Zugfahrt nach Schneeberg ist mal wieder ein Genuss. Grüne Landschaften, wunderschöne Waldstücke, bis man endlich die ersten Gipfel vom Erzgebirge erkennen kann. Ich freue mich schon sehr auf die Zeit bei den alten Freunden. Die freie evangelische Gemeinde Schneeberg lädt mich nun schon über einige Jahre immer Ende Januar für ein ganzes Wochenende ein. Ich weiß gar nicht mehr, wie der erste Kontakt zustande kam. Aber mittlerweile habe ich das Gefühl, es ist so, als käme ich nach Hause. In all den Jahren sind richtiggehend tiefe Freundschaften entstanden. Ein wenig hat mich die Gemeinde adoptiert und umgekehrt auch ich die Gemeinde. Die drei Tage in Sachsen sind jedes Mal sehr intensiv. Meist fangen wir bereits am Freitag mit einer Veranstaltung in der Schule an, abends gibt es ein Treffen mit den Leitern der Jugend. Samstag wird ein Tagesseminar angesetzt mit einem überregionalen großen Abschlussgottesdienst in der Kirche. Und Sonntagmorgen darf ich zum Abschluss noch einmal im Gottesdienst der Erwachsenen der Gemeinde predigen. Meine Veranstaltungen in Schulen haben immer mit meiner Volxbibel zu tun, die ich Anfang des neuen Jahrtausends schreiben durfte. Damals arbeitete ich in einem städtischen Jugendzentrum, und mir fiel auf, dass viele biblische Begriffe für junge Menschen eine vollkommen andere Bedeutung bekommen hatten. Sünde war etwas Positives geworden, der Heilige Geist ein anderes Wort für Schnaps und bei den Zehn Geboten gab es Assoziationen zur Straßenverkehrsordnung. Darum habe ich versucht, die ganze Bibel in einer Art Straßensprache zu übertragen, mit Worten und Bildern aus der heutigen Zeit. Mein Bibelbuch wurde von konservativen Kreisen damals stark kritisiert, war aber auf der anderen Seite ein richtig großer Verkaufshit. Es landete sogar in der säkularen Bestsellerliste unter den Top 20.

      Der Pastor hat die Kirche in Schneeberg nicht selbst gegründet, er kam erst später dazu. Dennoch steckt er mit seinem ganzen Herzen mitten in der Arbeit.

      Endlich kommt mein Zug am Bahnhof an und der Pastor begrüßt mich wie immer sehr herzlich. Seine Kinder hatten zufällig schon in jungen Jahren Kontakt mit den »Jesus Freaks«, daher gibt es schnell ein gutes Einstiegsthema. Für ihn ist es eine positive Entwicklung, dass seine Kinder mit meinem geistlichen Werk zu tun haben. Schon bei einem unserem ersten Zusammentreffen vor vielen Jahren erzählte er mir, dass nach seiner Einschätzung die Töchter wohl nichts mehr mit dem Glauben an Gott zu tun haben würden, wenn es nicht die »Jesus Freaks« gegeben hätte. Das finde ich schön.

      Nach einer längeren Fahrt kommen wir in der Mittelschule in

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