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Panik-Pastor. Martin Dreyer
Читать онлайн.Название Panik-Pastor
Год выпуска 0
isbn 9783417269918
Автор произведения Martin Dreyer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Schließlich höre ich, wie mich das Mädchen nach vorne bittet. »Und jetzt kommt Martin Dreyer und hält seine Predigt!« Sofort packe ich meine Bibel unter den Arm, renne durch die Sakristei direkt auf die Bühne. Uff. Schritt für Schritt gehe ich auf das Rednerpult zu und mit jedem Schritt wird das Gefühl der Angst größer. Ich spüre ein Pochen in meinem Hals, das Blut steigt in meinen Kopf, mir wird warm. Auch wenn ich am liebsten wegrennen will, etwas zwingt mich weiterzugehen, weiter nach vorne. Ich möchte niemanden enttäuschen, die Jugendlichen haben sich so viel Mühe gemacht. Ich spüre die erwartungsvollen Blicke der Gottesdienstbesucher. Ein Rückzug ist unmöglich, ich muss da jetzt durch. Also gehe ich weiter in Richtung Mikrofon und Rednerpult. Jetzt stehe ich vorn.
In der Kirche ertönt lauter Beifall. Sehr ungewöhnlich und es fühlt sich auch etwas komisch an. Aber auch nicht schlecht, es dämpft meine Angst ein wenig. Das Mädchen stellt mir einige gute Fragen, die Jugendliche vor dem Gottesdienst auf einen Zettel schreiben und in eine Box werfen konnten. Da stehen solche Fragen drauf wie: »Was ist deine Lieblingsband?« (Kraftklub). Oder: »Wie sah dein schönstes Erlebnis aus?« (die Geburt meiner Tochter). Oder: »Was ist dein Fußballverein?« (St. Pauli). Ich merke, dass mit dem Interview meine Angstattacke langsam abschwillt. Das ist gut. Nachdem unser Gespräch vorbei ist, geht das Mädchen von der Bühne, und der Schweinwerfer fällt auf mein Lesepult. Also kann ich mit meiner Predigt beginnen. Der Pastor hat vorher eng mit mir abgestimmt, zu welchem Thema ich sprechen soll. Ihm ist es wichtig, eine Predigt über die Konsequenzen zu hören, die jeder tragen muss, wenn er Christ sein will. Dazu habe ich mir passend ein Gleichnis von Jesus als Bibelstelle ausgesucht, in der Christus die Radikalität der Glaubensnachfolge aufzeigt. Ich lese aus der Bibel die Stelle aus dem Matthäusevangelium im 13. Kapitel ab Vers 14 vor. Dort vergleicht Jesus das Himmelreich mit einem Schatz, der in einem Acker versteckt liegt. Er beschreibt, wie jemand diesen Schatz zufällig entdeckt und so begeistert davon ist, dass er seinen ganzen Besitz verkauft, nur um diesen einen Acker zu erwerben, in dem der Schatz verborgen ist. Das Lesen fällt mir nicht schwer, egal, wie groß mein Lampenfieber ist, vorlesen kann ich immer.
»In diesem Gleichnis von Jesus stecken eigentlich nur zwei Aussagen. Aber die haben es in sich!«, rufe ich den Jugendlichen zu. »Die erste Aussage benenne ich so: Das Leben mit Gott ist wie ein unheimlich wertvoller Schatz! Es macht dich reich, es ist das Beste, was dir passieren kann. Viele Leute glauben das nicht! Immer wieder höre ich, dass Menschen denken, Christsein wäre unheimlich mühsam, es würde das Leben einschränken, es wäre dumm, es wäre langweilig, es wäre nicht attraktiv. Es würde dich arm machen. Aber Jesus sagt hier genau das Gegenteil. Der Glaube ist ein riesengroßer Schatz! Wer diesen Schatz einmal entdeckt hat, der will ihn nie wieder hergeben. Er ist das Wertvollste, was ein Mensch jemals in seinem Leben finden kann. Es gibt nichts Besseres, glaubt mir. Wisst ihr das? Glaubt ihr das?« Ich schaue in die Runde und habe das Gefühl, die meisten der Jugendlichen hören mir zu. In der ersten Reihe sehe ich einige Gesichter, die mich freundlich lächelnd anschauen. Das ist der Durchbruch. Jetzt ist meine Aufregung plötzlich komplett verschwunden. Ich fühle mich erleichtert und frei. Es braucht eine positive Reaktion, um mit meiner Panikattacke umgehen zu können, das ist interessant.
Also rede ich weiter: »Aber Jesu sagt noch eine zweite Sache: Wenn du diesen Schatz haben willst, musst du vorher alles verkaufen, was du hast. Der Schatz ist nicht billig. Er ist nicht kostenlos, er ist kein Spiel. Er ist nichts zum Wegwerfen, zum einmal Gebrauchen und dann in den Müll. Er kostet dich etwas, nämlich alles.« Im Kirchenschiff wird es still. Der nächste Abschnitt ist dafür da, den Jugendlichen klarzumachen, was das für sie praktisch bedeuten könnte. »Nur von Samstag in der Jugendstunde bis Sonntag im Gottesdienst Christ zu sein bringt es nicht wirklich. Erst wenn du deinen Glauben auch im Alltag lebst, sieben Tage die Woche, dann kann er seine ganze Kraft entfalten. Dieser kraftvolle Glaube kostet etwas, er durchdringt alle Entscheidungen, er bestimmt letztendlich das ganze Leben. Aber wenn er das tut, dann gibt es auch nichts Besseres. Christ zu sein hat eine unheimlich hohe Qualität, und viele Nichtchristen beneiden Menschen, die an Gott glauben können. Das wird mir immer wieder erzählt.«
Jetzt bin ich so richtig in Fahrt und habe völlig vergessen, wie spät es eigentlich ist und auch, was der Pastor mir vorher im Briefing an Regeln gesagt hatte. In einigen Kirchen ist es ausdrücklich erwünscht, dass man nach einer Predigt auch einen Aufruf macht. Aufruf ist ein Fachbegriff aus der evangelikalen Szene. Es bedeutet, dass man den Zuhörern eine Möglichkeit gibt, durch eine öffentliche Geste auf die Predigt zu reagieren. Diese Geste oder dieser Schritt nach vorne ist dabei immer mit einem Gebet verbunden. Das kann bedeuten, dass die Zuhörer, wenn sie sich angesprochen fühlen, nach einem Aufruf von ihren Plätzen zum Gebet aufstehen. Oder auch dass sie aufstehen und sogar nach vorne zum Altar kommen, um dort für sich beten zu lassen. In anderen Kirchen möchte das der Leitungskreis oder auch der Pastor ausdrücklich nicht, weil sie es als manipulativ und unecht empfinden. Wie ich es hier in Chemnitz machen sollte? Ich habe es in dem Augenblick vollkommen vergessen. Ich bin voll im Flow und lasse mich von meinen Gefühlen leiten. Also gehe ich einfach weiter mit meinen Gedanken.
»Gibt es hier jemanden, der heute alles verkaufen will, was er hat, um Christus ganz zu gehören? Wenn das jemand möchte, so soll er doch bitte als Zeichen vor Gott aufstehen!«, höre ich mich sagen. Ich bin nicht gut im Schätzen von Zahlen, aber ich denke, mindestens hundert junge Leute stehen sofort auf. Das haut mich in dem Augenblick einfach um. Dass junge Menschen in diesem Teil des Gottesdienstes reagieren, ist sehr ungewöhnlich, besonders in der Pubertät. Ich hätte mich über fünf Reaktionen übermäßig gefreut. Bei zehn Leuten wäre ich innerlich fast geplatzt. Aber dass es so viele, sind, erlebe ich kaum noch.
Völlig begeistert lade ich die Stehenden zu einem Gebet ein und alle beten laut mit. Danach kommt noch einmal die Band nach vorne und spielt ein paar Lieder. Schließlich ist der Gottesdienst vorbei und einige junge Menschen verlassen die Kirche. Viele bleiben aber noch, reden miteinander oder kommen mit einem aus dem Seelsorgeteam ins Gespräch.
Ich bin jetzt total erschöpft und möchte am liebsten schnell in mein Apartment gehen. Auch wenn es nur eine Ansprache ist, die über dreißig Minuten geht, bin ich danach innerlich oft sehr kaputt und ausgelaugt. Aber da sehe ich schon in einem Augenwinkel, dass mindestens ein halbes Dutzend Jugendliche noch vorne auf mich wartet, um mit mir zu sprechen. Das Zuhören und gleichzeitige Mitdenken in solchen Seelsorgegesprächen kosten mich unheimlich viel Kraft, besonders nachdem ich eine Predigt gehalten habe. Ich habe auch den Eindruck, dass der Kampf mit meinem Lampenfieber dazu erheblich beiträgt. Es ist sehr anstrengend, dagegen anzugehen, und kostet einiges an Energie. Aber ich kann jetzt auch nicht verschwinden.
Also setze ich mich mit dem ersten jungen Mann am Rand auf die vorderste Kirchenbank, auf der er mir sein Leid erzählen will. Nun kommt eine Geschichte, die ich in unterschiedlichen Varianten immer wieder hören muss. Er berichtet mir, schon viele Jahre eine »Sucht nach Pornografie« entwickelt zu haben und einfach nicht davon loszukommen. »Egal, was ich mir vornehme, es passiert immer wieder, dass ich stundenlang Pornos im Internet anschaue. Es ist zum Verzweifeln. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll«, erzählt er mir mit Tränen in den Augen. »Letzte Woche habe ich mir ein Tapetenmesser gekauft und wollte mir meinen Penis abschneiden. Aber der erste kleine Schnitt hat schon so wehgetan, dass ich es nicht ganz geschafft habe.«
Mir gefriert das Blut in den Adern. »Hey, mach das nicht!«, rufe ich dem Jugendlichen ins Gewissen.