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große Dax-Konzerne haben dort ihre Zentralen eingerichtet. Insider bezeichnen Essen auch als das Entscheidungszentrum der deutschen Wirtschaft. Was hier beschlossen wird, beeinflusst das ganze Land.

      Doch der christlichen Kirche in Essen geht es nicht gut. Die Katholiken haben in den letzten fünfzig Jahren die Hälfte aller ihrer Mitglieder verloren. Und um die evangelische Kirche ist es auch nicht viel besser bestellt. Dort treten seit einer Dekade über tausend Menschen pro Jahr aus. So erzählen es mir die aktuellsten Statistiken.

      Wenn man nun darauf schließen möchte, dass die Freikirchen dafür einen großartigen Boom verzeichnen können, liegt man falsch. Die Mitgliederzahlen dieser von der Kirchensteuer unabhängigen Organisationen stagnieren im Ganzen gesehen ebenfalls. Bedeutet: Die Kirchenaustritte der zwei großen Konfessionen führen nicht zu einem zu erwartenden Wachstum der religiösen Konkurrenz, nämlich der kleineren Freikirchen.

      Diesen Vorgang, einen Mitgliederaustausch zwischen den Kirchen einer Stadt, nennt man übrigens auch spöttisch »Churchhopping«. Christen wechseln von einer Gemeinde in die andere, wodurch einzelne Kirchen für eine Zeit stark wachsen, andere schrumpfen. Jahre später zieht der Strom der »Churchhopper« dann weiter, nämlich zur nächsten neuen, hipperen Kirche. Auf diese Art findet kein echtes Wachstum der gesamten christlichen Welt statt, sondern eher ein Art Transferwachstum. Dieses Phänomen kann man übrigens auf der ganzen Welt beobachten.

      Es ist als freier Prediger selten, dass man im Dienst Menschen kennenlernt, die dann auch zu engen Freunden werden. Aber hier in Essen ist das der Fall. Martin Scott und ich hatten uns schon vor vielen Jahren zum ersten Mal getroffen und waren sofort »ein Herz und eine Seele«. So eine Art Seelenverwandtschaft verbindet uns, eine innere Verbundenheit, die man gar nicht in Worte fassen kann. Mit ihm muss ich nur einmal im Jahr ein Telefonat führen, aber es ist sofort eine einzigartige Nähe und Sympathie zueinander da. Seine ganze Art zu reden, die kritische Direktheit, gepaart mit echter Wertschätzung, das mag ich an ihm.

      Dazu ist Scott auch ein echter Visionär. Mit seinem Verein »Wunderwerke« entwickelt er kreativ neue Ideen für die Jugendarbeit und setzt diese auch fast immer erfolgreich um. Angestellt über einen freien Träger macht er eine hervorragende Jugend- und junge Erwachsenenarbeit, die seinesgleichen in Deutschland sucht.

      Angefragt werde ich nun, auf einem von ihm organisierten überregionalen Jugendgottesdienst die Predigt zu halten. Der Gottesdienst ist über die Grenzen Essens hinaus bekannt, und die Besucher fahren zum Teil lange Strecken, nur um diesen einen Event besuchen zu können. Scott arbeitet schon viele Jahre in der Jugendarbeit in dieser Region Deutschlands und kennt seine Leute daher sehr gut.

      Ansonsten erwartet mich in Essen eine in jeder Hinsicht ganz normale christliche Jugendveranstaltung. So eine, wie ich sie landauf und landab schon Hunderte Male erlebt habe. Der Ablauf folgt fast immer der gleichen schon geschilderten Blaupause. Es gibt eine Zeit für Ansagen, ein Anspiel, einen längeren Musikteil und natürlich eine Predigt. Hier und da wird gebetet, eine Erklärung abgegeben, das war es.

      Eine Besonderheit in Essen ist aber, dass dieser »Jugo«, die geläufige Abkürzung für Jugendgottesdienst, auch in einer alten Kirche veranstaltet wird. In Westdeutschland erlebe ich das immer seltener. Oft mieten sich die Gemeinden hier für Jugendveranstaltungen andere Räume im Ort, weil viele junge Menschen nicht mehr gerne in eine alte Kirche gehen wollen. Zum Beispiel die Stadthalle, eine größere Kneipe oder sogar eine Disco.

      Nachdem wir uns herzlich begrüßt haben, werde ich in den Mitarbeiterraum der Kirche geführt. Hier sitzen an die fünfzehn junge Erwachsene, die den Gottesdienst über viele Wochen minutiös geplant und vorbereitet haben. Ich mag diese Atomsphäre von Geschäftigkeit und Vorfreude sehr.

      Als eingeladener »Starprediger« spüre ich wieder so eine künstliche Distanz zu den Menschen vor Ort. Es gibt nach meiner Erfahrung unterschiedliche Kategorien, wie einem Prediger von außerhalb begegnet wird. Die einen Veranstalter verhalten sich extrem locker, sie versuchen, so auf mich zu wirken, als wären sie sehr entspannt. Vielleicht denken sie, dass man mir zeigen muss, wie frei man ist, weil ich das so erwarte. Da werden Sprüche geklopft, Witze gemacht, man schlägt mir mehrfach auf die Schulter, nur um locker auf mich zu wirken. Aber es fühlt sich auf meiner Seite eher künstlich an, nicht echt, unentspannt, verkrampft.

      Das andere Extrem ist aber wesentlich anstrengender. Das sind die Menschen, die denken, sie müssten mit solch einem christlichen Semipromi wie mir besonders kalt umgehen. Vermutlich wollen sie nicht dabei mitmachen, wenn dem »Star des Abends« gehuldigt wird, deswegen tun sie genau das Gegenteil. Ich werde unfreundlich begrüßt, missachtet, in der Ecke stehen gelassen, gemieden, angeschwiegen, wie Luft behandelt, so als hätte ich das verdient. Dabei zeugt es nur von der großen Unsicherheit dem Prediger gegenüber, weiter nichts. Das Gleiche erleben übrigens bekannte christliche Musiker und Künstler. Ich würde mir stattdessen eine natürliche Begegnung auf Augenhöhe wünschen. Wir kennen uns nicht, aber wir haben eine gemeinsame Veranstaltung vor, die wir nicht allein stemmen können. Es ist eine Art Zweckgemeinschaft, in der man sich mit Respekt und Freundlichkeit begegnen sollte.

      Ich kann wirklich nicht sagen, woran es liegt, aber ich bin schon Stunden vor Beginn wieder extrem aufgeregt und angespannt. Ich kann meine Gefühle nicht verstecken. Mich plagt wieder die Angst vor Menschen, die Angst, auf einer Bühne zu stehen, und wenn es nach mir ginge, würde ich jetzt am liebsten auf den Hacken umdrehen, kehrtmachen und mich ins Bett legen. Wenn das Adrenalin kommt, werde ich auch immer müde. Der Botenstoff verursacht den Wunsch in mir, mich hinzulegen, die Decke über den Kopf zu ziehen und zu schlafen. Aber das geht nun mal heute nicht.

      Für diesen Abend habe ich mir versuchsweise aus einem Bioladen so eine Art Naturmedikation mitgebracht, die bei Angstzuständen besonders gut helfen soll. In meiner Hosentasche befinden sich vier kleinere Kapseln, die ich vor dem Gottesdienst einnehme. In den Kapseln sollen Baldrian, Melisse und zahlreiche andere Naturprodukte vorhanden sein, die gegen Angstzustände wirken.

      Schließlich beginnt die Uhr zu ticken, die Jugendlichen strömen in die Kirche und es ist, bereits fünfzehn Minuten vor Beginn, sehr voll. Ich gehe noch einmal auf die Toilette und mein Adrenalinspiegel scheint extrem hoch zu sein. Im Spiegel sehe ich plötzlich wieder diese tiefroten hektischen Flecken an meinem Hals, die jetzt sogar bis auf die Wangen hochgehen. Das schockiert mich sehr. Liegt das an den Biotabletten oder woher kommt der überproportionale Ausschlag diesmal? Eigentlich sollte das Mittel doch genau gegenteilig wirken. Die Flecken steigern meine Angst nur noch weiter. Ich sehe am Hals so rot aus wie ein wild gewordener Truthahn. Aber ich muss jetzt in den Kirchenraum, der Gottesdienst geht gleich los. Wie grausam.

      Die Ansage ertönt durch den Lautsprecher: »… und jetzt kommt Martin Dreyer und hält eine Predigt!« Mein Pulsschlag steigt immer weiter, schweren Schrittes komme ich hinter dem Altar auf die Bühne, in der rechten Hand meine Bibel, in der linken meine schriftlichen Notizen. Vor lauter Aufregung vergesse ich dummerweise, die Teilnehmer zu begrüßen, und beginne sofort mit der Bibellesung. Ein Anfängerfehler.

      Es ist diesmal ein Text aus einem Brief des Paulus, den wir ganz am Ende der Bibel finden. Er heißt Kolosserbrief und enthält zentrale Aussagen über Jesus Christus. Für viele Jahre war er mein Lieblingstext aus der Bibel, weil er fast schon euphorisch über Jesus berichtet. Paulus war ein Jesusfan und ich bin es auch.

      Ich beginne zu lesen. »In ihm haben wir die Erlösung, die Vergebung der Sünden. Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene aller Schöpfung. Denn in ihm ist alles in den Himmeln und auf der Erde geschaffen worden, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Gewalten oder Mächte: Alles ist durch ihn und zu ihm hin geschaffen; und er ist vor allem, und alles besteht durch ihn. Und er ist das Haupt des Leibes, der Gemeinde. Er ist der Anfang, der Erstgeborene aus den Toten, damit er in allem den Vorrang habe« (Kolosser 1,15-18). Dann schließe ich meine Bibel, atme einmal tief durch und wende mich den Zuhörern zu.

      »Jesus ist das Zentrum im Universum!«, rufe

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