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Panik-Pastor. Martin Dreyer
Читать онлайн.Название Panik-Pastor
Год выпуска 0
isbn 9783417269918
Автор произведения Martin Dreyer
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Ich überlege kurz, ob ich ihn jetzt verfolgen sollte. Von der Geschwindigkeit her müsste ich den jungen Mann einholen können mit meinen langen Beinen. Aber ich entscheide mich dagegen. Ich schau mich im Zimmer um. Es beherbergt eigentlich nur eine schwarze Matratze, die auf den Boden liegt und einen kleinen Tisch mit Stuhl. Der Raum ist sehr verdreckt, überall liegen leere Dosen mit ausgedrückten Zigaretten rum. Es riecht nach einem Gemisch aus altem Schweiß und Chemie. Auf dem Tisch kann man eine Menge kleiner Schnipsel von Aluminiumfolie erkennen, die sauber übereinandergelegt sind. Daneben liegt ein kleiner Spiegel zwischen mehreren kurzen Strohhalmen. »Wollen wir vielleicht noch in dem Zimmer beten?«, frage ich die in Tränen aufgelöste Mutter. Sie nickt still. Der Jugendleiter, die Mutter und ich fassen uns an den Händen und beten, was das Zeug hält. »Jesus! Befreie diesen Jungen von seiner Sucht«, bete ich. »Begegne ihm und schenke ihm ein neues Leben!« Nachdenklich fahren wir weiter, um noch rechtzeitig in die Kirche zu kommen. Der Jugendleiter und ich reden die ganze Strecke kein Wort. Vermutlich, weil wir beide etwas ratlos sind.
Der Jugendgottesdienst am Abend ist gut besucht, aber läuft relativ vorhersehbar. Dafür soll es am nächsten Morgen noch einmal zu einem kleinen Aufreger kommen.
Der Abschluss meiner Reise in Schneeberg findet, wie bereits erwähnt, im Sonntagmorgengottesdienst statt. Die einladende Freikirche feiert jeden Sonntag im zweiten Stock eines ehemaligen Wohnhauses ihre Gottesdienste. Überall stehen Stühle im Raum. In der Mitte ist ein langer Gang, der nach vorne zum Rednerpult führt. Dort steht bereits die Band, welche sich mit Schlagzeug, E-Bass und Gitarre auf den Gottesdienst einspielt. Der Raum fasst gut und gern 250 Menschen. Er füllt sich zusehends, selbst im hinteren Bereich der Freikirche gibt es keine Sitzplätze mehr. Nach dem wirklich guten, weil lebendigen Musikteil predige ich über ein neues Thema. Ich lese einen Abschnitt aus der Bibel im Johannesevangelium. Titel meiner Predigt ist: »Anleitung zum Glücklichsein«.
Ganz subjektiv habe ich das Gefühl, dass an diesem Morgen weit mehr von meiner Botschaft ankommt als an den Tagen zuvor. Ich spüre so eine Art Kraftwirkung beim Sprechen und der Aufmerksamkeitslevel scheint extrem hoch zu sein. Und ich habe nur sehr wenig Angst, die Panikattacke ist kaum zu spüren. Vielleicht ist da doch etwas Wahres an der Theorie, dass ein Mensch sein Adrenalin verbrauchen kann und dieses nicht so schnell wieder nachproduziert wird? Es macht mir heute Morgen sogar richtig Freude, mit meinen Worten eine ermutigende Botschaft an die Gemeinde zu richten.
Wenn ich in einer Predigtsituation drin bin und die Angst überwunden ist, erlebe ich das manchmal wie eine Art Rausch. Ich vergesse für eine Zeit, wo ich mich gerade befinde und was ich hier mache. Es zählt nur noch der Augenblick. Die Worte fließen einfach so aus mir heraus und jedes Nicken, jeder anerkennende Blick wirkt wie die Anfeuerungsrufe beim Fußballspiel aus der Westkurve. Auch ohne dabei großartig emotional zu werden, spüre ich, wie eine Energie von meinen Worten ausgeht und diese Energie zurückkommt. Ich empfinde, natürlich ganz subjektiv, dass Gott in diesem Moment sehr stark anwesend ist und dass er mich gebraucht, in dem Maße, wie ich es zulasse. Das ist schön.
Die Predigt verläuft in den folgenden Minuten außerordentlich gut. Viele der Gemeindemitglieder kenne ich ja nun mittlerweile. Ich schaue beim Sprechen in die Runde und nehme wahr, wie mich einige der Christen in Schneeberg freundlich anlächeln. Diese Gemeinde ist tatsächlich schon fast eine Art Familie für mich geworden. Zum Ende hin bringe ich noch einen Abschlusssatz. »Darum wäre es gut, wenn wir uns alle mehr auf dieses Abenteuer Glauben einlassen würden, wir sollten uns alle ganz auf unsere Beziehung zu Gott besinnen«, sage ich zum Schluss. Es folgt das obligatorische »Amen«.
Als Nächstes habe ich vor, die Gemeinde gemeinsam beten zu lassen. Ich möchte die Christen dazu anleiten, Gott um einen Durchbruch zu bitten in dem Thema, um das es in meiner Predigt ging.
Urplötzlich erhebt sich ein älterer Herr von seinem Platz aus der hinteren Reihe. Er drängt sich zum Mittelgang, stürmt mit großen Schritten nach vorne auf mich zu. Der recht groß gewachsene Mann baut sich direkt vor der Bühne vor mir auf und blickt mich mit dunkelbraunen Augen ganz fest an. Dann streckt er seine Hände in meine Richtung. Mit lauter und durchdringender Stimme schreit er mir wutentbrannt und voller Aggression folgenden Satz entgegen:
»MARTIN DREYER! HIERMIT ÜBERGEBE ICH DICH DEM SATAN! DEINE SEELE SOLL IN DER HÖLLE VERBRENNEN!!!«
Danach dreht sich der ältere Herr auf seinen Hacken um und verlässt mit schnellen Schritten die Kirche, genauso überraschend, wie er gerade nach vorne gekommen ist.
Und ich? Ich bin sprachlos. Ich bin konsterniert. Ich bin getroffen. Mir kullern Tränen die Wangen runter. Irgendwie habe ich in diesem eigentlich geschützten Augenblick mit allem gerechnet, aber nicht mit so etwas. Dieser Christ hat mich gerade dem Satan übergeben! Mein Herz, meine Seele ist in dem Moment vollkommen ungeschützt. Ich habe mich ganz für die Gemeinde und meinen Dienst an den Menschen geöffnet und alle Schutzwälle runtergelassen. Mir fehlen spontan die Mittel, um mich hinreichend für so einen Angriff zu schützen. Wumm, das hat gesessen.
Sofort stehen die Ältesten der Gemeinde auf. Fünf Christen stellen sich in einem Kreis um mich herum und beginnen zu beten. »Herr, segne Martin«, sagt einer. »Wir brechen diesen Fluch in Jesu Namen«, ein anderer. »Danke für Martin und seinen Dienst«, sagt eine ältere Dame. Sosehr die ersten Worte wehtaten, desto stärker tun mir die zweiten Worte gut. Ich nehme jede Umarmung dankbar an. Schließlich ist der Gottesdienst vorbei.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen bringt mich der Pastor wieder zum Bahnhof. Ich bin überrascht, wie nahe wir uns in den zwei Tagen gekommen sind. Ein wirklich toller Pastor, so wie man sich einen Gemeindeleiter wünscht.
Auf dem Rückweg in der Bahn denke ich noch lange über diesen Moment im Gottesdienst nach. Wie können Menschen nur so etwas tun? Sich vor jemanden stellen, den sie gar nicht kennen, und ihn laut dem Satan übergeben? Dieser Mann muss ja ganz bewusst extra in den Gottesdienst gefahren sein, nur um genau das zu tun. Er hatte es sich vorher vorgenommen, er war nur dort, um mich zu verfluchen. Das war keine spontane Handlung, das war geplant. Der Pastor versichert mir später, dass dieser Mensch in der Gemeinde gänzlich unbekannt ist. Aber was für eine Motivation steckt dahinter, wenn ein Christ, der an den gleichen Gott der Liebe glaubt wie ich, sich genötigt sieht, einen anderen Christen in die Hölle zu wünschen, nur weil er theologisch andere Einsichten hat als er? Vermutlich gehört dieser Mann zu der Front der Kritiker, die auch meine Übertragung der Volxbibel verdammen. Diese Gruppe von Christen gehen zum Teil auch im Internet recht militant gegen Andersdenkende vor. Ihr Motiv ist dabei eigentlich nur Angst. Es gibt ein Heer von angstbesetzten Christen, die hinter jeder Ecke einen bösen Dämon vermuten. Und Angst war noch nie ein guter Ratgeber.
Tatsächlich gibt es auch einige Prediger, die mit dieser Angst arbeiten, die eine Angst vor der Hölle und vor dem Satan schüren. Alles Negative wird dem Satan zugeschrieben, alles Positive Gott. Nur: so einfach ist das Leben nicht. Und auch die Bibel kennt viele Grautöne zwischen Schwarz und Weiß.
Ich bin nur froh, dass ich so viel Bestätigung für meinen Dienst bekomme, dass diese schlimme Form der Kritik, bis hin zum Aussprechen von Flüchen, mich nicht mehr im Tiefsten treffen kann. Auch wenn ich mich selbst als einen sehr unsicheren Menschen erlebe – dass Gott mich in seinen Dienst gerufen hat, dessen bin ich mir gewiss. Nicht alles, was ich in seinem Auftrag getan habe, war gut. Im Rückblick würde ich vieles anders machen und anders sagen. Aber dass Gott mich berufen hat und gebrauchen konnte, das habe ich zu oft und zu unzweifelhaft erlebt. Also: Geh weg, Satan, du hast mich nicht bekommen.
WAS ICH VON DIESER REISE MITGENOMMEN