Скачать книгу

Kolosserbrief Vers für Vers auszulegen. Ich erzähle davon, dass mit Jesus alles angefangen hat, die Weltgeschichte und auch das Leben eines jeden Einzelnen, der gerade hier im Raum sitzt. »Wenn es stimmt, dass Jesus der ›Erstgeborene aller Schöpfung‹ ist, war er ja auch von Anfang der Welt an dabei. Und wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, muss es auch bedeuten, dass Christus bei der Geburt von jedem Einzelnen dabei war. Daraus leite ich ab, dass jeder Mensch so gewollt ist, wie er ist, und dass wir uns deswegen selbst lieben können. Legt man diese Stelle weiter aus, ist jeder Mensch auch für ihn geschaffen worden. Das heißt, jeder Mensch auf dieser Erde hat einen Auftrag, eine Berufung, wir sind für Gott geschaffen worden, wir sollen für ihn leben.«

      Mitten in meiner Predigt entsteht plötzlich eine große Unruhe im Saal. Ich verstehe nicht, warum, und es verunsichert mich. Plötzlich steht mitten in meinem Satz fast die komplette erste Reihe auf, wendet sich Richtung Ausgang und geht. Die Jugendlichen verlassen mitten in meiner Predigt den Saal, ohne ein Wort zu sagen! Es ist wie ein stiller Protest. Hinten rechts sehe ich ebenfalls ein paar junge Menschen, die gerade aufstehen, ihre Jacken anziehen, und gehen.

      Das Blut schießt in meinen Kopf, ich werde noch roter als rot, die Angst ist voll da. Total perplex schießen mir tausend Fragen durch den Kopf. Was habe ich nur falsch gemacht? Warum gehen die Jugendlichen, noch während der Gottesdienst läuft? Habe ich etwas Peinliches gesagt? Ist es mein Äußeres, fettige Haare, falsche Kleidung? Oder ist meine Predigt einfach viel zu langweilig? In meinen Gedanken rotiert es, aber ich finde keine Antwort auf meine Fragen. Dabei versuche ich natürlich weiter Sätze zu formulieren und meinen Vortrag so gut es geht fortzuführen. Die Angstattacke hört aber nicht auf, sie wird sogar immer heftiger. Mit knallrotem Kopf stehe ich vorn und versuche krampfhaft mein Programm durchzuziehen. Auf meiner Stirn steht der Angstschweiß, und ich bin mir sicher, jeder kann es sehen. Jeder. Satz um Satz ringe ich mit meiner Fasson. Langsam beginnt auch meine Stimme zu zittern, die Worte bleiben mir buchstäblich im Halse stecken. Irgendwie komme ich zum Ende, unterlasse es aber, einen Aufruf zum Gebet zu machen, obwohl das vorher abgemacht war, und verlasse, schweißgebadet und innerlich vollkommen zerstört, die Bühne. Noch ein Abschlusslied, dann ist der Gottesdienst endlich vorbei.

      Nach einer relativ kurzen Verabschiedung von den Veranstaltern vor der Kirche mache ich mich umgehend auf den Rückweg. Schließlich sitze ich in der Bahn und versuche das Geschehene irgendwie zu analysieren. Mich lässt die Frage nicht mehr los: Was habe nur ich falsch gemacht? Warum sind die jungen Menschen plötzlich aufgestanden? Was habe ich nur gesagt, dass so viele Jugendliche den Saal verlassen haben? Krampfhaft überprüfe ich Satz für Satz mein gesamtes Manuskript, kann aber keine kompromittierende Stelle finden. Es gibt nichts, was so eine Reaktion hätte erklären oder rechtfertigen können. Ich komme zu dem Schluss, dass es nicht an der Auswahl meiner Worte gelegen haben kann. Auch vom Inhalt her war eigentlich alles in Ordnung. Es kam nichts zur Sprache, was jemanden derart vor den Kopf hätte stoßen können, dass er den Gottesdienst aus Protest verlassen muss. Es ist mir ein Rätsel.

      Die bohrenden Fragen, die ich von vielen anderen Diensten her kenne, lassen mich auf der gesamten Zugfahrt nicht los. Wenn es nicht gut gelaufen ist, überströmt mich der Selbstzweifel. Nach einer Predigt erlebe ich immer einen Kampf mit mir selbst, der begleitet wird von kritischen Fragen an mich. Tue ich diesen Dienst für die Menschen oder tue ich ihn für Gott? Oder tue ich ihn doch nur für mich und mein eigenes Ego? Es ist eine Frage nach meiner Motivation. Im Grunde ist es doch so, dass ich mich meist viel zu wichtig nehme. Es geht zu sehr um mich und zu wenig um Gott, um seine Sache und auch um die Zuhörer. Ich will diesen Dienst für Gott tun, aber mein Ego steht mir immer wieder im Weg. Es bläht und plustert sich auf wie ein Gockel, der sich wichtiger nehmen will, als er eigentlich ist. Wenn ich mich selbst nicht so ernst nehmen würde, hätte ich vermutlich auch keine Angst. Aber die Angst hat mich diesmal fast umgebracht. Es war der reine Horror.

      Ich glaube, dass kaum ein Prediger frei von diesem Kampf um Anerkennung ist. Man kann sie ja vorne gut beobachten, die Männer und Frauen Gottes. Mir ist noch keiner untergekommen, bei dem ich das Gefühl hatte, er wäre komplett selbstlos. Niemand steht da vorne auf der Bühne und ist frei von den Reaktionen, die aus der Menge kommen. Spätestens wenn der Prediger oder die Predigerin kritisiert wird, kann man sehen, wie weit es um die Selbstlosigkeit des Agierenden steht. Wer sich selbst immer wieder krampfhaft verteidigt, steht nicht gut da. Und ich bin einer davon.

      Natürlich gibt es Ausnahmen in der Kirchengeschichte. Franz von Assisi, vielleicht sogar der neue Papst, wer weiß. Aber die Regel ist: Jeder Mensch, der sich auf einer Präsentationsfläche exponiert, darstellt, etwas von sich preisgibt, braucht auch positive Rückkopplungen und Resonanzen. Nur jemand mit masochistischen, also krankhaften Neigungen kann daran Gefallen finden, wenn er versagt, kritisiert, ausgebuht oder einfach nur ignoriert wird.

      Ich glaube, dass es auch eine krankhafte Form der Sehnsucht nach Bestätigung durch andere gibt, und ich befürchte, dass ich nicht frei davon bin. Es ist faktisch so, dass ein Misserfolg immer sehr stark an meinem Selbstwertgefühl nagt. Kaum ist der Dienst beendet, dränge ich förmlich danach, positives Feedback zu bekommen. Nicht unbedingt in Form von Händeklatschen oder Jubelrufen. Aber doch so, dass der Veranstalter mir eine nette Rückmeldung geben muss, sonst fühlt es sich nicht gut an. Er muss mir sagen, wie gut es war, was alles passiert ist, wie großartig Gott gewirkt hat, sonst hänge ich emotional in der Luft.

      Diese groteske Anspannung nach einer Veranstaltung ist für mich manchmal kaum auszuhalten. Als ich noch in Köln gelebt habe, sind meine Frau und ich regelmäßig in einen Gottesdienst nach Remscheid gefahren. Dort habe ich auch mehrfach in einer Gemeinde predigen dürfen. Die Rückfahrt war für mich immer wie ein großer Selbstwerttest. Trotz zahlreicher Andeutungen, dass ich gerne hören würde, wie ich war, meine Frau wollte partout nicht bei meinem Predigerbeweihräucherungsspielchen mitmachen. »Na, wie fandest du den Gottesdienst heute?«, kam die vorsichtige Frage meinerseits. Und wenn die Antwort zu allgemein ausfiel, musste ich nachhaken. »Und? Wie fandest du die Predigt?« Dieses Spiel haben wir unendlich oft gespielt. Keine Reaktion zu bekommen hieß für mich, ich hatte grandios versagt.

      Meine eigene Einschätzung von meinem Dienst liegt immer im Negativen. Nie bin ich zufrieden. Es könnte stets mehr sein. Die mir selbst gelegte Latte liegt immer höher als meine Möglichkeit, sie zu überspringen. Ganz fromm könnte ich auch sagen, dass meine Erwartungen an Gott, meine Hoffnungen, ja, mein Glaube sehr groß sind. Und diese zu hohen Erwartungen werden dann oft von der Realität bitter eingeholt. So laufe ich auch stets mit einer Enttäuschung von Gott herum. Er handelt nicht in dem Maße, wie ich es mir von ihm erbeten haben. Fast immer.

      Die Angst war diesmal wieder sehr schlimm. Vor allem ausgelöst durch das plötzliche Aufstehen der Gruppe von Jugendlichen in der Mitte der Predigt.

      In der nachfolgenden Zeit hängt mir dieser Gottesdienst noch lange nach. Es muss mir gelingen, das zu leben, was ich auch selbst predige, wovon ich überzeugt bin. Gott ist Liebe. In diesen drei Worten ist das ganze Evangelium zusammengefasst. Alles muss sich dem unterordnen. Jede Forderung, jedes Gesetz, jede Moral. Denn diese Liebe Gottes ist für uns bedingungslos. Und wenn sie bedingungslos ist, dann muss das auch bedeuten: Gott liebt mich, selbst wenn ich versage. Seine Liebe ist an keine Leistung geknüpft und auch nicht an den Erfolg oder Misserfolg einer Predigt. Die Zuneigung Gottes zu mir ist so groß, dass sie jedes Versagen aufsaugen und eliminieren kann. Sie hat die Kraft, mich frei zu machen. Frei von mir selbst, frei von meinem Ego und auch frei von der Angst. Ich muss dahin kommen, dass ich diese Liebe wirklich an mich ranlasse. Sie muss mich ausfüllen und von innen heraus verändern. So steht es doch in der Bibel, oder? Diese biblischen Worte wirken von außen und innen, fast so wie Medikamente. Sie können helfen, aber in diesem Fall sind sie nie ganz tief bis in mein Herz vorgedrungen. Wenn Gott mich liebt, brauche ich eigentlich keine Affirmation von Menschen mehr, so einfach ist das. Und doch ist es so sauschwer umzusetzen und zu glauben.

      Im Übrigen braucht jeder Mensch Liebe von anderen Menschen. Das lehrt uns die Psychologie schon viele Jahrhunderte. Wenn ein Mensch keine Zuneigung bekommt, dann wird er

Скачать книгу