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ich einen der wenigen Staus hinter mir habe, komme ich immer schneller voran. Der zäh fließende Verkehr hat sich endlich aufgelöst, und ich finde etwas Ruhe, um mich auf den Abend vorzubereiten. Der Pastor der Kirche hatte mir am Telefon etwas von seiner Arbeit erzählt. Vor Jahren kam sein Vorgänger auf die Idee, dass die große alte Kirche für Jugendliche umgestaltet werden müsse. Ihm wurde klar, dass junge Menschen in Chemnitz seine Kirche nicht besuchen würden, weil Kirche an sich einen schlechten Ruf hatte. Wer Spaß haben will, wer etwas erleben möchte, wer gerne seinen Horizont erweitert, der geht überallhin, aber nicht in die evangelische Kirche. Also gründete er mit einigen wenigen, aber motivierten Konfirmanden ein Team. Ziel war es, alle zwei Monate einen Jugendgottesdienst zu organisieren, der eine Ausstrahlung auf die ganze Stadt haben sollte. Zur Zeit meiner Einladung kommen bereits vierhundert Besucher zu der Veranstaltung. Der Gottesdienst wird nun heute zum fünften Mal gefeiert und immer wieder werden die Teilnehmerzahlen erneut getoppt.

      Das ist eine Geschichte, die ich auf meinen Reisen schon oft gehört habe: Manchmal braucht es nur einen einzigen Menschen, einen jungen Pastor, einen Jugendleiter, einen Diakon, der genug Feuer für eine Idee hat. Er oder sie muss nicht viel mitbringen außer eine richtig gute Vision, Begeisterung, die Sprachfähigkeit, die Vision auch anderen zu übermitteln, und der Rest entwickelt sich wie von selbst. Allerdings muss diese Person, egal, ob männlich oder weiblich, großes Durchhaltevermögen mitbringen. Denn in toten Kirchen dauert es eine ganze Weile, bis der harte Boden aufgemeißelt, umgegraben und neu bepflanzt werden kann. Immer wieder höre ich, dass Träume und Ideen für eine lebendige Jugendarbeit an einem verstockten, trockenen und gealterten Kirchenvorstand gescheitert sind.

      Der Pastor in Chemnitz hat zum einen die Begabung, seine Vision in Worte zu fassen, und auch das Durchhaltevermögen, diese neuen Ideen gegen alle Widerstände durchzusetzen. Und das Ergebnis lässt sich sehen.

      Endlich bin ich da. Langsam fährt mein Auto auf den Kircheninnenhof und ich kann schon eine Traube von Jugendlichen auf dem Vorplatz entdecken. Der Pastor begrüßt mich freundlich und führt mich, nachdem ich meinen Koffer abgestellt habe, in einen hinteren Raum der alten Kirche. Dort sitzen ca. zwanzig aufgeregte junge Menschen. Jeder will mich begrüßen und mir seine Geschichte erzählen. So viele freundliche Gesichter auf einem Haufen, das tut gut. An jeder Ecke kann ich erkennen, wie bis ins Detail diese Veranstaltung durchgeplant und vorbereitet wurde. Das ist definitiv nicht überall so. Auf einem großen Tisch in der Mitte des Vorraums stehen ausreichend Saft und Wasserflaschen. Dazu gibt es leckere belegte Schnittchen mit Lachs, Käse, Wurst und Fleischaufschnitt. Ein reges Treiben herrscht im Raum, da noch eine Menge Vorbereitungen anstehen.

      Der Pastor hat mir eine junge Frau zur Seite gestellt, die ein bisschen auf mich aufpassen soll. Ich erfahre, dass sie Lydia heißt, zwanzig Jahre alt ist und schon als kleines Kind Teil der Kirche war. »Meine Eltern haben mich hier getauft und konfirmieren lassen. Aber so richtig dabei bin ich erst, seitdem unser Pastor diesen Jugendgottesdienst ins Leben gerufen hat«, erzählt sie mir. Lydia hat ein umwerfendes Lächeln und ist wirklich sehr hübsch. Nach unserem kurzen Gespräch nutze ich die freie Zeit, um mir die Kirche einmal genauer anzuschauen.

      Ich schätze, dass es sich um ein Gebäude aus dem 17. Jahrhundert handelt. Diese großen alten Kirchen wirken auf mich immer etwas bedrückend. Überall hängen Bilder von verstorbenen Menschen, die vermutlich vor Hunderten von Jahren Geld für den Bau gespendet haben. Die hohen Decken und auch der oft monströse Altar flößen mir Respekt, aber auch eine undefinierbare Furcht ein. Vor Jahren hörte ich auf einer offiziellen Führung von einem Kirchenhistoriker, dass die Architekten von der damaligen Kirchenleitung angehalten wurden, die Gebäude so hoch wie möglich zu bauen, damit die Gläubigen in der Kirche Angst und Respekt vor der Größe Gottes hätten. Es ging also nicht darum, ein schönes und imposantes Gebäude zu errichten, um darin Gottes Größe zu feiern, sondern um eine Art Angsttheologie, die Furcht vor Gott in den Herzen der Menschen wecken sollte. Ein einfacher Christ sollte sich beim Betreten einer Kirche vor Gott fürchten, vor seiner starken Hand, vor seiner Macht, vor seiner unermesslichen Größe. Für die heutige Zeit ein völlig inakzeptables Konzept, finde ich. Ein Ort des Glaubens, der Angst und Ehrfurcht erzeugen soll? Aber damals hat das vermutlich so gepasst.

      Die Stimmung in dem Vorraum lockert sich immer mehr auf. Ich kann bestimmt über vierzig Mitarbeiter zählen, die sich alle dort versammelt haben. Schließlich ruft der Pastor alle zusammen, um den Ablauf des Gottesdienstes noch einmal durchzusprechen. In jedem Jugendgottesdienst gibt es ein paar immer wiederkehrende Programmpunkte. Dazu gehört neben der Begrüßung, den Ansagen, einem Anspiel, einem Musikteil und einem Gebet natürlich auch die Predigt. Für Letzteres bin ich heute zuständig.

      »Liebe Leute, heute haben wir einen Gastsprecher bei uns, den Martin Dreyer«, begrüßt mich der Pastor freundlich. »Schön, dass du da bist!« Ich freue mich auch und sage noch ein paar Sätze zur versammelten Mannschaft. Dabei merke ich, wie unlocker und verkrampft ich an diesem Abend wieder bin. Warum das so ist, weiß ich gar nicht genau. Mir wird klar, dass unser Vorbereitungsteam mich als so eine Art Stargast im Programm vorgesehen hat. Vielleicht ist das der Grund für meine Angst. Die ganze Werbung, Flyer, Poster: Überall ist mein Name dick und breit aufgedruckt, inklusive Foto. Martin, der christliche Star. Martin, der große Prediger. Martin, die Rampensau. Vielleicht ist das der Grund für meine innere Verkrampfung, denn ich mag diese Rolle nicht. Sicher hat das in einem Jugendgottesdienst einen Effekt, aber ich kann mich selbst nicht als einen christlichen Star definieren. Ich kenne mich nur zu gut. Ich habe so viele Fehler. Ich habe so tiefe Abgründe. Und ich habe so eine Angst.

      Manchmal frage ich mich, was wohl wäre, wenn jeder meine dunkelsten Gedanken lesen könnte, wenn alle von meinen Schwächen und von meinem Angstproblem wüssten. Ich denke, niemand würde mit mir zu tun haben wollen, niemand würde meiner Predigt zuhören.

      Dazu kommt, dass ich noch nie mit hohen Erwartungen an mich angemessen umgehen konnte. Die Rolle des Underdogs gefällt mir dagegen sehr. Wenn keiner etwas von mir erwartet, dann bin ich angespornt, besonders gute Leistung zu bringen und alles zu übertreffen. Formuliert aber einer eine konkrete Erwartung an mich, schnürt es mir die Kehle zu, ich fühle mich unter Druck und dieser Druck erzeugt Angst. Angst, den Maßstab nicht zu erreichen, die hoch gelegte Latte nicht überspringen zu können. Sicher ist das nicht sehr professionell, aber so ist es nun mal.

      Schließlich geht der Gottesdienst los. Die Mitarbeiter setzen sich auf ihre Plätze und auch ich gehe auf einen für mich reservierten Platz in der ersten Reihe. Als ich mich umdrehe, stelle ich fest, wie voll die Kirche ist. Heftig. Überall sitzen die jungen Menschen. Sogar der Mittelgang ist mit Jugendlichen belegt, die sich auf ihre Jacken auf den Fußboden gesetzt haben. »Herzlich willkommen zum ersten Jugo in diesem Jahr«, sagt ein sehr junges Mädchen vorne am Mikrofon. Ich schätze sie auf vielleicht zwölf Jahre, sie macht die Moderation schüchtern, ohne große Gestik, aber auch sehr charmant, und vermutlich ist jeder im Raum sofort auf ihrer Seite. Das Mädchen stellt den Ablauf des Gottesdienstes vor und sagt auch, dass ich heute als Gast da bin und wann ich mit der Predigt drankomme.

      Als nächster Programmpunkt wird ein kleines Theaterstück aufgeführt. Die Idee, mit solchen kurzen Vorführungen einen Gottesdienst einzuleiten, kommt von einer Gemeinde aus den USA. Willow Creek, so heißt sie, hat mit ihrem Konzept des »gästesensitiven Gottesdienstes« auf der ganzen Welt etwas Neues ins Leben gerufen. Überall wird dieses Konzept mittlerweile kopiert. Im Groben geht es darum, einen Gottesdienst auf die Gäste auszurichten und nicht auf die Gemeindemitglieder oder eine alte Kirchentradition. Musik, Anspiel, Ansagen, Videosequenzen, alles soll in einer lockeren Art vorgetragen werden, sodass Gäste sich wohlfühlen. Eine Maxime ist, dass jeder fromme Part immer wieder neu erklärt werden muss. Ein gästesensitiver Gottesdienst soll davon ausgehen, dass es immer wieder Besucher gibt, die zum ersten Mal da sind.

      Ich bin heute viel zu aufgeregt, um mir das ganze Stück anzuschauen. Ich rutsche auf meinen Platz hin und her. Immer wieder diese Nervosität vor jeder Predigt, immer wieder diese Angst. Wird das denn nie besser? Zu guter Letzt spielt

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