Скачать книгу

deutsche Agent und Publizist Dr. Wilhelm Grosse äusserte sich am 1. Oktober 1934 in einem streng geheimen Bericht an das Auswärtige Amt in Berlin zum «gegenwärtigen Stand der schweizerischen Erneuerungsbewegungen unter besonderer Berücksichtigung der verschiedenen ‹Fronten› und ‹Bünde›». Zum BVH meinte er: «[…] darf dem ‹Bund für Volk und Heimat› (B.V.H.), der von den Gegnern nicht ganz zu Unrecht ‹Bund vornehmer Herren› getauft wurde, die wichtigste und einflussreichste Rolle zugesprochen werden. Obwohl er es vermeidet, öffentlich aufzutreten, übt er hinter den Kulissen den allergrössten Einfluss auf das politische und wirtschaftliche Leben der Schweiz aus, was sich unschwer aus der Herkunft seiner Mitglieder erklärt. Es sind die massgebenden und führenden Persönlichkeiten aus der Grossindustrie, der Hochfinanz und den Grossbanken und nicht zuletzt eine Anzahl hoher Offiziere; die Masse der Bevölkerung steht nicht hinter ihnen.» Das Gesamturteil von Grosse über die Vielzahl der Schweizer Erneuerungsbewegungen war vernichtend: «Gerade in der letzten Zeit bieten sich einzelne Angehörige dieser Gruppen an, für Deutschland und den deutschen Nationalsozialismus in der Schweiz zu wirken, wofür sie selbstverständlich in allererster Linie einmal Geld haben wollen. Es sind in den letzten vier Monaten über ein Dutzend derartiger Angebote nachgeprüft worden, mit dem Ergebnis, dass sich vierfünftel der betreffenden Persönlichkeiten als vollkommen unfähige Schwätzer, zum Teil sogar übelste Gauner entpuppten, die den Namen des Nationalsozialismus nur für ihre persönlichen Geschäfte benutzen wollten.»[47]

      In den durchweg rechtsbürgerlichen Erneuerungsbewegungen spielten sich auch immer wieder faschistisch gesinnte Akteure auf, die ihre Organisationen in Misskredit brachten, zumal ihnen ein autoritärer Korporatismus nach italienischem Muster vorschwebte und sie auch vor einer Zusammenarbeit mit den nationalsozialistischen Frontisten nicht zurückschreckten. Anderseits weist Christian Werner in seiner Lizenziatsarbeit über Erneuerungsbewegungen und bürgerliche Interessensgruppen[48] darauf hin, dass die mit fast religiösem Eifer beschworene föderalistische Ordnung ein vollständiges Abdriften des rechten politischen Spektrums der Bewegungen in den Faschismus verhinderte, weil der gepredigte schweizerische Föderalismus mit dem System der zentralistisch geführten Regime in Italien und Deutschland nicht vereinbar war. Er hebt aber auch hervor, dass in den Pressure-Groups Elemente mit widersprüchlichen Einstellungen vertreten waren: Manchesterliberalismus versus Antimaterialismus, Antietatismus versus autoritäre Staatsführung, Anpassung an das «neue Europa» versus Entschlossenheit zum militärischen Widerstand. Dennoch blieben im rechten Bürgerblock erzreaktionäre Vorstellungen en vogue. Kategorisch abgelehnt wurden von zahlreichen Akteuren der Erneuerungsbewegungen die moderne Staatsform, der Parlamentarismus und die Errungenschaften der Französischen Revolution wie die Abschaffung der Ständegesellschaft, der Geburtsprivilegien und der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte.

      Die einflussreichste Pressure-Group war die in den Krisenjahren in Zürich gegründete «Aktionsgemeinschaft Nationaler Wiederaufbau (ANW) / Redressement national», die sich als Kampforganisation gegen Verstaatlichung und Zentralisierung verstand und für den Abbau der Demokratie eintrat. Ihre wirtschaftspolitische Rolle wurde ihr in den 1960er Jahren von der «Gesellschaft zur Förderung der schweizerischen Wirtschaft» streitig gemacht, die später in die «economiesuisse» überging. Seit 2001 wird die ehemalige ANW unter dem Namen «Liberale Aktion» weitergeführt und nimmt für sich in Anspruch, die Interessen des Mittelstands zu vertreten.

      Unter den Gründungsmitgliedern der ANW gab es drei prominente Romands: den Freiburger Bundesrat Jean-Marie Musy, den Waadtländer Grossrat, Nationalrat und Gemeinderat von Lausanne Pierre Rochat[49] sowie den Genfer Théodore Aubert. Der Letztere war auch beim Aufbau der illegalen, aber von den Behörden geduldeten Genfer Bürgerwehrbewegung führend, die sich 1918 als Kampfverband gegen den Landesstreik formiert hatte.[50] 1923 nahm Aubert als Abgeordneter der von ihm gegründeten rechtsbürgerlichen «Union de défense économique» einen Sitz im Genfer Kantonsparlament ein, und 1935 schloss er sich Georges Oltramares faschistischen «Union nationale» an. Mit seiner im gleichen Jahr veröffentlichten Schrift Nationale Erneuerung schuf der Genfer Politiker gewissermassen das geistige Fundament der ANW. Zur Bekämpfung des Staatssozialismus forderte er eine schlagkräftige Aktion, «um damit dem Staat seine sittliche Autorität […] wiederzugeben und unserem Volk die gesunde vaterländische Gesinnung zu erhalten, die es augenblicklich zu verlieren scheint, weil es im Staat nur noch einen Mechanismus zur Verteilung von Subventionen sieht».[51] «Schliesslich», so Aubert, «muss unser Volk zu den Grundsätzen sittlicher Ordnung zurückkehren, die in der Vergangenheit seine Kraft ausmachten, die leider heute durch Verstaatlichung und den Sozialismus untergraben werden, durch die es aber allein mit der Prosperität seine Lebenskraft und seinen sittlichen Wert wieder gewinnen wird».[52] Aubert wirkte bis 1940 als erster Westschweizer Sekretär des rechtsbürgerlichen «Redressement National», der 1936 als Koordinationsstelle für Abstimmungskämpfe in Zürich gegründet wurde. Sein Nachfolger war der Genfer Jurist Raymond Deonna-Vernet, der 1957 Vizepräsident wurde. Im Mitgliederverzeichnis[53] figuriert auch Christoph Blocher, der 1980 ebenfalls zum Vizepräsidenten der Aktionsgemeinschaft erkoren wurde.

      Keiner Erneuerungsbewegung gelang es, ihre korporatistischen Ideen auf überregionaler Ebene ganzheitlich durchzusetzen. Anliegen und Forderungen der Berufsorganisationen zeigten ansatzweise dennoch eine breite Akzeptanz, die sich in der öffentlichen Meinungsbildung zu nationalen Reformen und Errungenschaften zielführend niederschlug. Zum einen gehört das Friedensabkommen dazu, das die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften der Maschinen- und Metallindustrie am 19. Juli 1937 unterzeichnet hatten und zu Gesamtarbeitsverträgen (GAV) in vielen Wirtschaftsbereichen führte. Der darin festgehaltene Verzicht auf Kampfmassnahmen wie Streiks oder Aussperrungen sowie die Vereinbarung, Interessenskonflikte fortan auf dem Verhandlungsweg zu lösen, wäre ohne korporatistische Vorarbeit möglicherweise nie zustande gekommen. Zum anderen hat die Gründung der obligatorischen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), deren Gesetz am 6. Juli 1947 vom Stimmvolk angenommen wurde, ebenfalls korporatistische Wurzeln. Nicht zuletzt kann auch die heutige Konkordanzdemokratie als Ausfluss der Auseinandersetzung mit den Erneuerungsbewegungen gesehen werden. Dazu gehören die dank der lateinischen Schweiz vom Souverän am 6. Juli 1947 unter der Bezeichnung «Revision der Wirtschaftsartikel» angenommenen Verfassungsbestimmungen des Bundes, die das seit dem Ersten Weltkrieg geltende Notrecht mit seinen die Handels- und Gewerbefreiheit einschränkenden Bestimmungen ausser Kraft setzten, sich gleichzeitig aber interventionistische Massnahmen zur wirtschaftlichen Landesversorgung und zur Agrarpolitik vorbehielten. Ein eindeutig korporatistisches Element, das in der «Revision der Wirtschaftsartikel» übernommen wurde, war das Mitspracherecht von Berufsverbänden bei vorparlamentarischen Entscheidungsprozessen und bei Vollzugsaufgaben des Bundes, die die allgemeinverbindliche Erklärung von Gesamtarbeitsverträgen betrafen.

      In gewissen liberalen Kreisen herrschte die Ansicht vor, dass der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit auch dem Korporationismus zu verdanken sei, der den Kapitalismus in geordnete Bahnen zu lenken vermochte.

      Einen deutlichen Nachhall der rechtsbürgerlichen Bewegungen der Zwischenkriegszeit bildete die «Aktion für freie Meinungsäusserung», die den Kampf gegen die aus ihrer Sicht linke Unterwanderung der Medien, den Wohlfahrtsstaat und den Defätismus der Pazifisten aufnahm. Initiant dieser Aktion war der radikal wirtschaftsliberal orientierte Nationalrat Robert Eibel, Vorstands- und Ehrenmitglied des «Redressement National», Mitglied des «Bundes der Subventionslosen» und Mitbegründer des «Gotthard-Bundes». Als Propagandamittel dienten ihm die in einer Auflage von rund achtzehntausend Exemplaren verbreitete Zeitschrift Trumpf Buur sowie ein unter dem gleichen Titel geführter Leitartikeldienst, der von 1947 bis 1991 regelmässig Werbeanzeigen in den bürgerlichen Zeitungen schaltete.

      Bavauds missglücktes Hitler-Attentat

      Wie in jeder Organisation gab und gibt es auch in den rechtsextremen Parteien einzelne Personen, deren Motivation zur Mitgliedschaft unklar ist. So bleiben auch die Beweggründe des jungen Neuenburger Theologiestudenten Maurice Bavaud zu seiner kurzzeitigen Mitgliedschaft in der «Nationalen Front (NF)» umso rätselhafter, als er die Ermordung Adolf Hitlers geplant hatte. War die Nähe dieses tiefgläubigen Katholiken zu den Frontisten ein Tarnmanöver, um seine Attentatspläne zu vernebeln, oder war er einem fanatischen Antijudaismus verfallen? Diese Frage löste heftige

Скачать книгу