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er die spezifische Geschichte der einzelnen faschistischen Bewegungen und Regimes in jeder Entwicklungsstufe. Er kommt zum Schluss, dass nur jene faschistischen Bewegungen das Stadium der Machtergreifung erreichen konnten, denen es gelungen ist, mit den «traditionellen Eliten» ein Bündnis einzugehen. Paxtons Synthese kommt einer Definition gleich, wonach der Faschismus eine Form des politischen Verhaltens sei, das sich in obsessiver Weise mit Niedergang, Demütigung oder Opferrolle einer Gemeinschaft beschäftigt und dies durch Kulte der Einheit, Stärke und Reinheit kompensiert. Wenn Paxton meint, dass das Mussolini-Regime in einen konservativen Autoritarismus abgedriftet sei, derweil sich die Nationalsozialisten in Richtung einer grenzenlosen Machtausübung radikalisiert hätten, unterschätzt er möglicherweise den mörderischen Weg der italienischen Faschisten.

      Werden diese zahlreichen Interpretationsmuster als Fragestellungen zu bestimmten Problemen herangezogen, mögen sie durchwegs hilfreich und klärend sein. In diesem Zusammenhang ist dann allerdings die Frage nach dem Verhältnis des Faschismus zu den gegenwärtigen besorgniserregenden politischen Entwicklungen in verschiedenen Ländern von besonderer Aktualität.[18]

      Die gespaltene Schweiz

      Man vergegenwärtige sich die Zwischenkriegszeit in den einschlägigen Medien. Schlagzeilen und Bilder in zeitgenössischen Ausgaben der Schweizer Illustrierten Zeitung (SIZ) oder in der L’illustré führen uns die prekäre politische und soziale Lage dieser Epoche vor Augen. Arbeiter streiken, hungernde Menschen drängen sich in die öffentlichen Suppenküchen, verzweifelte Mütter demonstrieren vor dem Zürcher Rathaus, Grippekranke liegen in überfüllten Lazaretten. Das Leid ist gross. Arbeitslosigkeit, Versorgungsengpässe, Krawalle, Krankheit und Wohnungsnot kennzeichnen die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg.

      Brot wurde schon im Oktober 1917 rationiert. Ab März 1918 müssen für den Kauf von Butter, Fett und Öl und im Juni auch für Käse Bezugsmarken eingelöst werden. In Bellinzona stürmen wütende Bürger eine Milchzentrale und plündern sie. Das Fass zum Überlaufen bringt die Milchrationierung ab 1. Juli. Der Literpreis von 40 Rappen ist für viele Stellenlose unerschwinglich. Während 1914 in Bern ein Kilo Kartoffeln noch 12 Rappen kostete, steigt der Preis bis 1918 auf 27 Rappen. Auch der Brotpreis verteuert sich in dieser Zeit etwa um die Hälfte. Deshalb formieren sich in Zürich und Luzern Tausende von Frauen zu Hungermärschen und protestieren gegen den Milchwucher und die Lebensmittelhamsterei. Teuerungsdemonstrationen werden auch in Bern, Basel, Genf und La-Chaux-de-Fonds abgehalten. Die Lohnabhängigen beklagen die harten Arbeitsbedingungen – die 65-Stunden-Woche mit elf Arbeitsstunden pro Tag und zehn Stunden am Samstag sind noch die Regel. Über 15 Prozent der Bevölkerung, in grösseren Städten sogar ein Viertel aller Einwohner, ist auf Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen. Die Zahl der «Notstandsberechtigten» erreicht im Juni 1918 mit 692 000 Personen den Höchststand. Von der Krise weitgehend verschont bleibt hingegen die Landwirtschaft, die von den hohen Lebensmittelpreisen profitiert. «Alles wird beständig teurer. Aber schlimmer als alle tatsächliche Teuerung wirkt jene rücksichtslose industrielle Gewinnsucht», schreibt die bürgerlich-liberale Neue Zürcher Zeitung am 28. April 1918. Gemeint waren vor allem Vertreter der Rüstungsindustrie und andere Kriegsgewinnler, die ihren Reichtum schamlos zur Schau stellten und für erhebliche soziale Spannungen sorgten.

      Die Grippe-Katastrophe

      Die Lage der von den wirtschaftlichen Folgeerscheinungen des Ersten Weltkriegs gebeutelten Bevölkerung verschlimmert sich durch die rasante Verbreitung der Spanischen Grippe – in der Schweiz die grösste demografische Katastrophe des Jahrhunderts. Zwischen Juli 1918 und Juni 1919 fordert die Pandemie in drei Wellen weltweit fast 50 Millionen Todesopfer[19] – mehr als der Erste Weltkrieg. In der Schweiz werden insgesamt 24 449 Todesopfer beklagt, wobei die Mortalität unter Männern zwischen 20 und 40 Jahren überdurchschnittlich häufig ist. Weil die Pandemie der Wirtschaft und Verwaltung bisweilen etwa die Hälfte aller Arbeitkräfte entzieht, funktioniert auch der Service public nicht mehr so, wie er sollte. Telefonische Notrufe sind zeitweise nicht möglich, weil das massiv reduzierte Personal des Fernmeldedienstes überfordert ist. Taxifahrer weigern sich aus Angst vor Ansteckung, Patienten ins Krankenhaus zu fahren. Da auch immer mehr Ärzte und Pflegepersonen erkranken, lässt die medizinische Versorgung viel zu wünschen übrig. Die Spitäler sind hoffnungslos überfüllt, sodass zum Beispiel die Genfer Kaserne von Les Vernets oder die Tonhalle Zürich als Lazarette umgestaltet werden.

      Das Grippevirus erfasst die 76 000 Einwohner der Stadt Genf in besonderem Mass. Zwischen dem 1. Juli 1918 und dem 30. Juni 1919 werden 24 392 Grippefälle registriert, 1 550 Erkrankte sterben. Effektiv dürften aber rund siebzigtausend Personen vom Virus infiziert worden sein. Die Regierung sieht sich zu radikalen Massnahmen veranlasst. In Genf, Lausanne und anderen Städten werden öffentliche Veranstaltungen zeitweilig verboten; Lichtspieltheater, Konzert- und Ballsäle müssen kurzerhand geschlossen werden und Feiern wie die Genfer Escalade oder die Basler Fasnacht werden aufgehoben. Selbst Gottesdienste werden untersagt.

      Ausgerechnet zum Zeitpunkt, als man in Mitteleuropa die höchste Inzidenzrate der Spanischen Grippe verzeichnet, wird die Schweiz durch schwere soziale Unruhen erschüttert.

      Landesstreik aus Verzweiflung

      In La-Chaux-de-Fonds geht am 20. Mai 1917 eine wütende Volksmenge auf die Barrikaden und befreit den seit zwei Tagen wegen Beleidigung der Armee inhaftierten Sozialdemokraten Ernest-Paul Graber. Er büsst dafür, dass er in der sozialdemokratischen Tageszeitung La Sentinelle Übergriffe von Offizieren auf einen kranken Soldaten angeprangert hat.

      Der Lebenskostenindex steigt laufend und die Reallohneinbussen sind unerträglich. Besonders hart betroffen sind die ohnehin schlecht bezahlten Bankangestellten.[20] In Zürich begehren sie auf. Nachdem ihre Forderungen zur Kompensation der Reallohneinbussen von den Direktionen abgelehnt wurden, stellen sie ihre Arbeit am 30. September 1918 für zwei Tage ein und gehen auf die Strasse. Die Arbeiterschaft solidarisiert sich mit ihnen, und wenig später streikt eine Viertelmillion Arbeitnehmende und Gewerkschafter. Zum Jahrestag der Russischen Revolution planen sie Feierlichkeiten und Demonstrationen. Das geht General Ulrich Wille entschieden zu weit; er setzt sich beim freisinnig dominierten Bundesrat durch und beordert den Einsatz von insgesamt hundertzehntausend Mann starken Ordnungstruppen. Diese besetzen sogleich das Bundeshaus und bewachen den Bahnverkehr sowie strategisch wichtige Institutionen und Anlagen. In Zürich marschieren achttausend Kavalleristen und Infanteristen ein, was von den Streikenden als ungeheure Provokation empfunden wird.

      Auf dem Zürcher Münsterhof lassen, trotz Verbot, etwa siebentausend Jugendliche die ein Jahr zuvor erfolgte Russische Oktoberrevolution hochleben. Die bürgerliche Öffentlichkeit sieht in dieser Feier ein Vorspiel zur Revolution nach russischem Vorbild. Es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen kriegsmässig ausgerüsteten Soldaten und Demonstranten. Ein junger Mann stirbt, am Boden liegen 28 Verletzte. Am folgenden Tag lässt der rechtsextreme Platzkommandant Major Emil Sonderegger – späterer Generalstabschef der Schweizer Armee – Handgranaten an seine Truppen aushändigen und erteilt den Befehl, die Schusswaffen gegen widerspenstige Zivilisten einzusetzen. Kurz darauf wird eine ausserordentliche Session der Bundesversammlung einberufen; der Bundesrat erlässt ein neues Truppenaufgebot und unterstellt das Bundespersonal der Militärgesetzgebung.

      Das brutale Eingreifen der Armee fordert das «Oltener Aktionskomitee (OAK)» heraus, das sich am 4. Februar 1918 unter dem sozialdemokratischen Nationalrat Robert Grimm zu einem Exekutivausschuss von Partei und Gewerkschaft formiert hat. Dieser ruft für Samstag, den 9. November, zu einem 24-stündigen Proteststreik in den Industriezentren auf. Weil sich die Armeespitze weigert, die Ordnungstruppen abzuziehen, führt die «Zürcher Arbeiterunion» den Streik weiter. Das «Oltener Aktionskomitee» steht unter Druck und ruft für «Montag, den 11. November 1918, 24.00 Uhr» einen unbefristeten schweizweiten Generalstreik aus, der sich einerseits gegen die Armeebesetzung und anderseits gegen die misslichen Lebensbedingungen der lohnabhängigen Bevölkerung richtet. Über eine Viertelmillion Frauen und Männer folgen dem Aufruf. Im Vergleich zur Deutschschweiz wird der Appell in der Romandie nur zögerlich befolgt. Die Streikleitung fordert unter anderem eine sofortige Neuwahl des Nationalrats auf der Basis des unlängst eingeführten

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