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im bretonischen St. Ilan bei Saint-Brieuc, um Missionar zu werden. Dort reifte sein Entschluss, den Tyrannenmord zu vollziehen.

      Mit 600 Franken und einer geladenen Damenpistole (Kaliber 6,35 mm) in der Tasche reist der 22-jährige Priesterseminarist nach Deutschland. In der Hoffnung, Hitler zu Gesicht zu bekommen und erschiessen zu können, verfolgt er in der Presse dessen geplante Auftritte und pendelt mehrmals zwischen München und Berchtesgaden. Am Münchner NS-Gedenkmarsch vom 9. November 1938 marschiert der «Führer» mit seinen Gefolgsleuten auf die Feldherrnhalle zu. Bavaud steht in der ersten Reihe der Tribüne vor dem Alten Rathaus und sichtet ihn. Doch die Schussentfernung zum «Führer» ist zu gross. Die Pistole bleibt deshalb in Bavauds Manteltasche stecken. Vier Tage später fährt der verhinderte Attentäter mit lediglich 1,52 Reichsmark in der Tasche in Richtung Schweiz zurück. Vor Augsburg ertappt ihn der Zugschaffner ohne gültige Fahrkarte und überstellt ihn deshalb der Bahnpolizei. Da es sich um einen bewaffneten Ausländer handelt, wird die «Geheime Staatspolizei (Gestapo)» aufgeboten, die ihn eine Woche lang ununterbrochen verhört. Bavaud hält dem Druck nicht stand und gibt sein vereiteltes Vorhaben zu. Man überführt ihn zum Volksgerichtshof nach Berlin, wo er am 18. Dezember 1939 vom Zweiten Senat zum Tode verurteilt wird. Maurice Bavaud rechtfertigt seinen Attentatsversuch mit der Erklärung, dass er fest davon überzeugt gewesen sei, mit der Ermordung Hitlers «der Menschheit und der gesamten Christenheit einen Dienst zu erweisen». Nach dem Geheimprozess lässt man Bavaud über dreissig Monate in der Gefängniszelle sitzen. Während dieser langen Haftzeit engagiert sich weder das Eidgenössische Politische Departement (EPD) noch die diplomatische Vertretung der Schweiz zugunsten des Gefangenen. Der in Berlin-Tiergarten prunkvoll residierende Schweizer Gesandte, Hans Frölicher, pflegt exzellente Beziehungen zu den Nazigrössen. Er verweigert jede Hilfestellung für Bavaud und hält es nicht einmal für nötig, dessen Eltern über sein Los zu informieren. «Auch muss sich die Gesandtschaft mit Rücksicht auf die verabscheuungswürdigen Absichten des Verurteilten begreiflicherweise eine gewisse Zurückhaltung bei der Vorbringung ihrer Begehren auferlegen. Ich halte es deshalb nicht für angebracht, um einen Besuch bei dem Verurteilten nachzusuchen»,[55] schreibt Frölicher nach Bern und schliesst seine diplomatische Note mit der Floskel «Mit deutschem Gruss». Maurice Bauvauds verzweifelter Vater schlägt den Bundesbehörden vor, seinen Sohn gegen einen in der Schweiz inhaftierten deutschen Spion auszutauschen. Der Vorschlag wird abgelehnt; das Militärdepartement hat sein Veto eingelegt – die Staatsräson verbiete den Austausch.[56] Am 14. Mai 1941 wird Maurice Bavaud in Berlin-Plötzensee enthauptet.

      1955 wird der vierzehn Jahre zuvor hingerichtete Neuenburger in einem ersten Revisionsprozess in Deutschland posthum wegen versuchten Mordes zu fünf Jahren Gefängnis und zu fünf Jahren Verlust der bürgerlichen Ehren verurteilt. Dieses unsinnige Urteil wird damit begründet, dass «das Leben Hitlers in gleicher Weise als geschütztes Rechtsgut anzuerkennen ist wie das Leben eines jeden anderen Menschen.» Erst ein Jahr später folgt in einem zweiten Prozess der Freispruch.

      Der Bundesrat laviert

      Während der junge Neuenburger im bitterkalten Winter 1940 in der Todeszelle sass, erliess Hitler am 18. Dezember die «Weisung Nr. 21» an das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), den Krieg gegen die Sowjetunion unter dem Decknamen «Fall Barbarossa» vorzubereiten. Polen war im Vorjahr gefallen; Frankreich und Grossbritannien hatten dem Dritten Reich den Krieg erklärt. Der darauf folgende, nahezu ereignislose Sitzkrieg («la drôle de guerre») zwischen Deutschland und Frankreich währte neun Monate lang. Am 10. Mai 1940 erfolgte der Startschuss der Wehrmacht zum Westfeldzug («Fall Gelb» genannt). Vorerst wurden die neutralen Benelux-Staaten überrollt und besetzt; alsdann begann die Schlacht um Frankreich («Fall Rot» genannt), die am 14. Juni mit der Besetzung von Paris für die Deutschen praktisch entschieden war. Der acht Tage später zwischen dem Dritten Reich und Frankreich geschlossene Waffenstillstand von Compiègne kam de facto einer Kapitulation der Grande Nation gleich. Nur die naivsten Schweizer glaubten, damit sei die Gefahr eines Angriffs auf ihr Land gebannt. Zwei Tage nach Inkrafttreten des Waffenstillstands war in Italien der Teufel los. Am 10. Juni 1940, Punkt 18.00 Uhr, zeigte sich in Rom Mussolini auf dem Balkon des Palazzo Venezia in der schwarzen Uniform des Ersten Ehrenkorporals der Miliz (Primo Caporale d’Onore della Milizia). Auf der Piazza wogte eine riesige Menschenmenge und jubelte ihm zu. Der Duce plusterte sich kurz auf und donnerte los: «Kämpfer zu Lande, zur See, in der Luft! Schwarzhemden der Revolution und der Legionen! Männer und Frauen Italiens, des Imperiums und des Königreichs Albanien. Hört zu! Eine vom Schicksal bestimmte Stunde schlägt im Himmel unseres Vaterlandes. Die Stunde der unwiderruflichen Entscheidungen. Die Kriegserklärung wurde den Botschaftern ausgehändigt.»[57] Diese Geschehnisse lösten im Bundeshaus vorerst eine Schockstarre aus, und der Bundesrat hüllte sich in Schweigen. Endlich, am 25. Juni, meldete sich die Regierung zu Wort. Doch statt der Öffentlichkeit vertrauensbildende Informationen zur Aussenpolitik zu geben, brachte der freisinnige Waadtländer Bundespräsident Marcel Pilet-Golaz die Nation mit einer höchst anrüchigen Ansprache in Aufruhr. Die Vorbereitungen dieses an die Schweizer Bevölkerung zu richtenden Appells traf er allerdings nicht im Alleingang. Am Vorabend hatte er den Redeentwurf mit seinen Ratskollegen Philipp Etter und Rudolf Minger in seiner Wohnung lange erörtert und die Schlussversion erstellt.[58] Etter, der später erklärte, man habe in puncto Inhalt und Argumentation völlige Einigkeit erzielt, redigierte sie und besorgte eine schwülstig geratene deutsche Übersetzung. Am nächsten Tag verlas er sie über den Landessender Radio Beromünster:[59]

      «Frankreich hat soeben den Waffenstillstand mit Deutschland und Italien abgeschlossen. Welches auch die Trauer sein mag, die jeden Christ angesichts der angehäuften Ruinen und Menschenverluste erfüllen mag, so bedeutet es doch für uns Schweizer eine grosse Erleichterung zu wissen, dass unsere drei grossen Nachbarn nun den Weg des Friedens beschritten haben […] Bevor Europa zum Aufstieg gelangen kann, muss es ein neues Gleichgewicht finden, welches zweifellos sehr verschieden vom bisherigen und auf anderen Grundlagen aufgebaut sein wird als auf jenen, die der Völkerbund trotz seiner vergeblichen Bemühungen nicht zu erreichen vermochte […] Dies kann nicht ohne schwere Opfer geschehen […] Der Blick muss sich nun entschlossen nach vorwärts wenden, um mit allen unseren bescheidenen […] Kräften mitzuwirken an der im Umbruch begriffenen Welt. Der Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt ist gekommen. Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen […] Schliesst Euch zusammen hinter dem Bundesrat!»[60]

      Die magistrale Rede war nebulös und mehrdeutig. Statt Orientierung und Zusammenhalt zu schaffen, bewirkte sie genau das Gegenteil – sie verunsicherte und polarisierte die Öffentlichkeit. In der Deutschschweiz löste sie umso grössere Wellen aus, als Etters pathetischer Vortragsstil in keiner Weise goutiert wurde. Pilet-Golaz diskreditierte sich zusätzlich, als er am 10. September 1940 den Schweizer Nazi-Schriftsteller Jakob Schaffner in Begleitung von Max Leo Keller, Führer der «Nationalen Bewegung der Schweiz (NBS)», und dessen Parteigenossen Ernst Hofmann zu einer eineinhalbstündigen Audienz empfing. Das Trio witterte Mogenluft und erhoffte sich einen zweiten Frontenfrühling. Nicht genug: Eine Woche später, an einem Sonntag, hiess Pilet-Golaz den Frontisten Max Leo Keller, der kurz vor einer Reise nach Deutschland stand, in aller Diskretion bei sich zuhause willkommen. Dieser hatte dem Bundespräsidenten für seine Intervention, patriotische Beweggründe vorgaukelnd, in Aussicht gestellt, sich bei der deutschen Führungsspitze für die Anliegen der Schweiz zu verwenden. Im «Reich» wurde Keller vom Führer-Stellvertreter Rudolf Hess tatsächlich empfangen und erwirkte, dass die NBS von Deutschland als «repräsentative» nationalsozialistische Organisation der Schweiz anerkannt wurde.[61]

      Beschämend für den damaligen Bundesrat ist auch die widersprüchliche Haltung von Bundesrat Pilet-Golaz in Sachen Asylpolitik gegenüber den von den Nazis verfolgten Juden. Dies kommt einerseits in seinem Brief vom 16. September 1942 an Eduard von Steiger, Chef des Justiz- und Polizeidepartements, zum Ausdruck. Dieser hatte schon einen Monat vorher eine totale Grenzsperre für jüdische Flüchtlinge erlassen, die etwas später vom Gesamtbundesrat bestätigt wurde. Pilet-Golaz bekundet in seinem ominösen Schreiben, dass zwar keine ausländische Regierung auf ihn Druck ausgeübt habe, den Flüchtlingen die Tore zur Schweiz zu verschliessen. Das Gegenteil sei der Fall gewesen: Bestimmte Diplomaten hätten gewünscht, den Flüchtlingen die Grenzen zu öffnen. Auf innenpolitischer Ebene, meinte Pilet, würde jedoch das Risiko bestehen, dass der Zustrom von jüdischen Flüchtlingen

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