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Kinder aus Ungarn in die Schweiz zu holen, um sie vor dem sicheren Tod zu retten. Sein Vorhaben scheiterte jedoch, weil ihn die Schweizer Gesandtschaft in Budapest wissen liess, dass Deutschland die Durchreise aller ungarischen Kinder gestatte, mit Ausnahme jener, die «jüdischer Rasse» seien. Im Juli 1944 trat das US-amerikanische State Department mit dem Wunsch an Pilet-Golaz heran, die Schweiz möge in Ungarn als Schutzmacht die Interessen von El Salvador und Honduras wahren. Die Idee dahinter wurde ihm offen mitgeteilt: ungarische Juden mit Dokumenten zu versehen, um sie zu zentralamerikanischen Bürgern zu machen. Pilet willigte ein, und der Schweizer Vize-Konsul Carl Lutz, Chef der Schutzmacht-Abteilung der Schweizer Gesandtschaft in Budapest, rettete mit der Verteilung von falschen Pässen Zehntausenden Juden das Leben.[63]

      Die diplomatischen Leistungen des Aussenministers und früheren Bundespräsidenten spielten sich hinter den Kulissen ab. Seine doppelbödige Rede wirkte jedoch nach, der Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die Schweizer Regierung war erschütternd. Pilet-Golaz war von breiten Bevölkerungsteilen zum Buhmann der Nation abgestempelt worden. Er mag zwar bisweilen mit dem Endsieg des Dritten Reichs gerechnet und defätistische Ideen gehegt haben, aber ein Nationalsozialist war er mitnichten. Er bot sich als Projektionsfläche von Ängsten und Ressentiments gegenüber den Achsenmächten an. Seine anpasserische Aussenpolitik, mit der er jede Reizung der Achsenmächte vermeiden wollte, stand ganz im Gegensatz zur Haltung seines Gegenspielers Henri Guisan, der als General entschieden für den Widerstand eintrat. Dass dieser 1934 noch voller Bewunderung für Mussolini war, ihn als einen Führer bezeichnete, der «alle Kräfte der Nation zu zähmen wusste», und sich mehrmals öffentlich für eine starke autoritäre Führung mit weniger Einfluss von Parlament und Parteien geäussert hatte, tat seiner Popularität keinen Abbruch. Er hielt sich klugerweise von den aussenpolitischen Entscheidungsprozessen der Regierung fern. Zur unangefochtenen Lichtgestalt avancierte er, nachdem er sämtliche höheren Schweizer Offiziere am 25. Juli 1940, also genau einen Monat nach Pilet-Golaz’ Rede, zum Rapport auf die Rütliwiese beordert hatte. Sein Tagesbefehl war unmissverständlich: «Solange in Europa Millionen von Bewaffneten stehen und solange bedeutende Kräfte jederzeit gegen uns zum Angriff schreiten können, hat die Armee auf ihrem Posten zu stehen!»[64]

      Pilet-Golaz stand auf verlorenem Posten. Durch seine elitär-arrogante Art war er auf die unterste Stufe der Beliebtheitsskala abgesunken. Seine Gegner nannten ihn abschätzig «Cervelat-Golaz», weil er sich in einer Ansprache zur widersinnigen und despektierlichen Aussage hinreissen liess, ein Arbeiter könne sehr gut mit einem Cervelat pro Tag überleben. Forderungen nach seinem Rücktritt wurden immer lauter. Doch 1943 erfolgte ein Stimmungsumschwung – seine Aussenpolitik wurde im Rückblick neu beurteilt und sein Ansehen in der Öffentlichkeit und im Parlament war wieder hergestellt; im Dezember wurde er erneut gewählt. Nachdem aber die Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen der Schweiz zur Sowjetunion Schiffbruch erlitten hatte, Pilet von Stalin als «Faschistenfreund» beschimpft wurde und von sozialdemokratischen Parlamentariern zum Rücktritt gedrängt worden war, demissionierte Pilet-Golaz im November 1944 und zog sich in sein Landhaus in Essertines-sur-Rolle am Genfersee zurück. Ohne sich für seine politische Haltung je erklärt zu haben, verstarb er 1958 in Paris.

      So bedenklich wie die Rede von Pilet-Golaz ist die lange Zeit vom Schweizerischen Bundesrat vernebelte «Eingabe der Zweihundert» vom 15. November 1940. Diese Petition zur Aufhebung der Pressefreiheit geht auf die Verbindung von Vertretern des «Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz» mit Georg Trump[65], Presseattaché der deutschen Gesandtschaft in Bern, zurück. Als Reichsminister Joseph Goebbels unentwegt über die Schweizer Medien lästerte, brachte Trump seine Schweizer Gesinnungsgenossen zum Handeln. Auffallend ist, dass die Mehrheit der insgesamt 173 Petitionäre bekannte Professoren, Ärzte, Anwälte, Offiziere und Unternehmer aus dem Establishment der Deutschschweiz waren. Mitunterzeichner aus den Westschweizer Kantonen und dem Tessin lassen sich indessen an einer Hand abzählen.[66] Die «Eingabe der Zweihundert» an den Schweizerischen Bundesrat forderte unter dem Vorwand der schweizerischen Neutralität, Rücksicht auf die freundschaftlichen Beziehungen zu den Nachbarstaaten (gemeint waren natürlich Deutschland und Italien) zu nehmen und kritische Journalisten und Beamte zu entlassen. Ausserdem sei der Völkerbund aus der Schweiz auszuweisen. In einem internen Papier des «Volksbundes» waren vorgängig die zu entlassenden Chefredaktoren der liberalen Neuen Zürcher Zeitung, des Berner Bunds und der Basler Nachrichten sowie der Weltwoche, der National-Zeitung und der Nation namentlich aufgeführt.

      Einer der Wortführer der Initianten war Hans Brändli, Direktor und späterer Verwaltungsrat des Rüstungsunternehmens Contraves AG. Er titulierte die Journalisten in einem Schreiben als «Rudel wirklicher Windhunde». Mit folgenden Worten, die aus dem Munde Mussolinis stammen könnten, postulierte er das sozialdarwinistische «Recht des Stärkeren»: «Man geht bei uns mit der Bemitleidung alles Schwachen, allen Unglücks und alles Übels entschieden zu weit. Die Individualität eines Verrückten ist nicht gleich derjenigen eines leistungsfähigen, brauchbaren Menschen».[67] Bundesrat von Steiger versicherte der Öffentlichkeit, die rechtsextremen Forderungen abzulehnen. Gleichzeitig empfing er aber eine Delegation der Petitionäre und gab ihnen die Zusicherung, ihre Anliegen ernst zu nehmen und weiter zu verfolgen.

      Am 19. November 1940 verbot der Bundesrat die «Nationale Bewegung der Schweiz (NBS)», die für einen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland einstand, und 1943 verschwand die letzte Frontenbewegung aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit.

      Zur Ruhe kam die Schweiz nach Kriegsende aber lange nicht. Die restriktive Flüchtlingspolitik des Bundes erhitzte die Gemüter bis etwa 1950.

      Ein Armutszeugnis für die Schweiz

      1956 / 57 erhellte der an der Universität Basel lehrende Bündner Jurist Carl Ludwig in seinem über die «Flüchtlingspolitik der Schweiz» erstellten Bericht[68] die abweisende Einwanderungspolitik der Schweiz gegenüber Juden, Sinti und Roma. Demnach schafften es 1938 / 39, trotz Einreisesperre mit einer unmenschlichen Rückweisungspraxis, an die zehntausend Hilfesuchende aus Deutschland und Österreich in die Schweiz zu gelangen. Auf der anderen Seite sind allermindestens zehntausend Flüchtlinge durch die an der Grenze erfolgten Rückweisungen in die todbringende Nazi-Maschinerie zurückgeschickt worden. Diese Zahl blieb aber insofern umstritten, als die Ludwig-Kommission in ihrer Forschung behindert wurde und deshalb mit Schätzungen Vorlieb nehmen musste.[69] Ein Teil der Rückweisungsprotokolle war nämlich anfang der 1950er Jahre, möglicherweise auf Veranlassung von Alt-Bundesrat von Steiger, aus dem Bundesarchiv verschwunden.[70] Der Ludwig-Bericht setzte unbewusst auch eine Unwahrheit in Umlauf, wonach Heinrich Rothmund, seit 1929 amtierender Chef der Polizeiabteilung im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement, von den deutschen Behörden gefordert hätte, die Pässe ihrer nichtarischen Bürger zu kennzeichnen, um ihnen die Einreise in die Schweiz verwehren zu können. Diese Mär wurde darauf auch in seriösen Geschichtsbüchern immer wieder kolportiert. Fakt ist aber, dass die Stigmatisierung von Flüchtlingen mit einem «J»-Stempel im Pass eine Initiative der Nazis war, um die Schweiz davon abzuhalten, eine Visumspflicht für reichsdeutsche Bürger einzuführen. Rothmund war wohl ein Antisemit, aber kein Nazi. Er war aus politischen Gründen gegen die Kennzeichnung der Pässe. Die Verantwortung für diese unsägliche administrative Massnahme lag deshalb beim Gesamtbundesrat, und nicht alleine beim Polizeichef. Einen grossen Einfluss übte hinter den Kulissen der St. Galler Anwalt Dr. Max Ruth aus, dessen Rechtsverständnis von Überfremdungsängsten geprägt war. Von 1920 bis 1944 wirkte er als erster Adjunkt der Polizeiabteilung im Justiz- und Polizeidepartement, wo er in Sachen Flüchtlingspolitik tonangebend war. Die «Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» unter dem Präsidium von Professor Jean-François Bergier schätzte die von Carl Ludwig gemutmasste Zahl von abgewiesenen Flüchtlingen mindestens auf das Doppelte und gab dafür eine einleuchtende Erklärung: «Es ist […] davon auszugehen, dass die Schweiz während des Zweiten Weltkriegs über 20 000 Flüchtlinge an der Grenze abgewiesen oder aus dem Land ausgeschafft hat. Zwischen 1938 und November 1944 wurden zudem um die 14 500 Einreisegesuche abgelehnt, die Schutzsuchende bei den Schweizer Vertretungen im Ausland stellten. Wie viele dieser Personen dennoch die Flucht in die Schweiz versuchten und in der Statistik der aufgenommenen oder an der Grenze weggewiesenen Flüchtlinge enthalten sind, ist ungewiss.»[71]

      Jene

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