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Jenny geht mit weichen Knien hinüber in ihr Zimmer und holt aus der sorgsam verschlossenen Schublade ihres Schreibtisches das zerknitterte Papier hervor. Ein einfacher neutraler Geschäftsbogen, mit Maschinenschrift bedeckt.

      „Sehr geehrte gnädige Frau!

      Ich kenne den Hergang bei dem Tod Ihrer Schwester Graziella. Assessor König ist der Täter. Sie wissen ja wohl, dass er Fräulein Graziella wahnsinnig liebte. Auf der Autofahrt hat er ihr Liebesanträge gemacht. Sie hat ihn ausgelacht, gepeinigt, bis aufs Blut gereizt, bis er endlich die Besinnung verlor und sie — na, das ist Ihnen ja bekannt. Ich habe die Beweise in Händen, dass sein Alibi falsch ist. Er hat die Leute bestochen, dass sie für ihn aussagten. Noch weiss die Polizei nichts davon. Da ich weiss, dass König ein guter Freund von Ihnen ist und sie den Wunsch haben werden, zu verhindern, dass er für eine unbesonnene, aus Leidenschaft begangene Tat, an der Ihre Schwester letzten Endes selber schuld ist, mit seinem Kopf büssen muss, wende ich mich zunächst an Sie. Ich bin bereit, meine Beweise für mich zu behalten und Assessor König nicht der Polizei auszuliefern. Als Gegendienst verlange ich von Ihnen den Betrag von 10 000 RM. in Zwanzig- und Fünfzigmarkscheinen.

      Wenn Ihnen irgend etwas daran gelegen ist, dass König nicht zum Tode verurteilt wird, dann bringen Sie das Geld morgen abend um elf Uhr. Legen Sie es, in Papier eingewickelt, auf die Gartenmauer des Herderschen Grundstückes. Sie kennen es ja. Es liegt in der Amselallee, vier Häuser von Ihnen entfernt.

      Ich sage es Ihnen gleich, dass es keinen Zweck hat, wenn Sie jemand davon benachrichtigen oder jemand mitbringen. Man wird mich doch nicht sehen, und die Folge wäre, dass ich leider gezwungen bin, anonym meine Beweise gegen König der Polizei zur Verfügung zu stellen. Verlassen Sie sich darauf, sie genügen, ihn einen Kopf kürzer zu machen.“

      Die Buchstaben tanzen auf dem Papier vor Frau Jennys Augen. Eine Drohung! Ein Erpresserbrief! Ah, wenn es nur das wäre! Aber was der Unbekannte da schreibt — kann es nicht — wahr sein? Dass König in Graziella verliebt ist — hat sie das nicht selbst längst bemerkt? Hat es ihr nicht jedesmal einen leisen, ganz leisen Stich in der Brust gegeben, wenn er und die schöne, lustige Schwester so kameradschaftlich im gleichen Schritt und Tritt das Haus verliessen und nach Berlin zurückfuhren? Und Graziella war ein kleiner Teufel! Sie konnte unausstehlich sein, locken und lachen und dann wieder zurückstossen, quälen, peinigen. Heiliger Gott, wenn es wirklich so wäre! Wenn Werner König ...

      Und warum nicht? Er hat selber damals am Telefon gesagt, dass er mit Graziella heftig gestritten habe, dass sie ihn empörend behandelte! Er war bei ihr auf der Fahrt, von der sie nicht wiederkehrte! Geraubt hat man Graziella nichts. All ihre Wertsachen sind bei ihr gefunden worden. Wer in aller Welt sollte einen Grund gehabt haben, sie zu töten? Werner König? Er ist ein braver, anständiger Mensch, ja, das ist er. Aber — kann nicht auch ein solcher Mann in wilder Leidenschaft etwas tun, das ... Ah, Jenny, Jenny! Hast du nicht selbst in dunkler Nacht oft tolle, furchtbare Gedanken gehabt, damals, als du merktest, dass du Werner König liebtest! Als du die Hoffnungslosigkeit deiner Liebe einsahst! Gedanken, vor denen du nachher am hellichten Tage selber erschrocken bist!

      Ein Erpresserbrief! Irgendwo erinnert Jenny sich, einmal gelesen zu haben, dass man Erpresserbriefe ohne weiteres der Polizei übergeben soll. Wenn es sich um sie selber handelte — vielleicht würde sie das auch resolut tun. Aber es handelt sich ja um König! Kann sie, darf sie diesen Brief der Polizei zeigen? Wenn es nun ... wahr ist, was darinnen steht! Die arme Graziella ist tot. Nichts in der Welt kann das Geschehene ungeschehen machen. Soll Werner Königs Kopf unter dem Henkerbeil fallen für eine Tat, die er sicherlich nur im besinnungslosen Rausch der Leidenschaft und Wut begangen hat?

      Nicht durch mich — jammert es in Frau Jennys Seele. Mag die Gerechtigkeit, die Polizei ihn finden und überführen, wenn Gott es will. Aber nicht ich! Nein, nicht ich will sein Richter sein!

      Stundenlang hat Frau Jenny ihren armen Kopf zergrübelt über diesen Brief, und zuletzt war sie sogar etwas ruhiger geworden. „Am Ende ist es alles gar nicht wahr“, hat sie ganz nüchtern überlegt. „Ein schlechter Scherz oder eine dumme Drohung. Es ist ja zu grässlich. Werner König kann das nicht getan haben. Wenn es ein anderer wäre ... aber Werner?“

      Da ist diese Vorladung gekommen und hat alle schrecklichen Gedanken von neuem aufgewühlt. Ist es doch so? Weiss die Polizei schon alles? Will man ihr mitteilen, dass Werner König der Täter ist? Oder gar sie ausfragen über ihn?

      Morgen vormittag um 11 Uhr! Wenn es doch soweit wäre! Wenn man Gewissheit hätte!

      Hugo Nerger ist in Berlin. Er kommt erst gegen drei Uhr nachts nach Hause. Frau Jenny liegt mit offenen, brennenden Augen, aber sie hört es kaum, dass ihr Mann draussen leise seine Schuhe auszieht und in sein Schlafzimmer geht. All ihre Gedanken sind bei dem Morgen. Um elf Uhr also!

      *

      Höchstens fünfundzwanzig, hübsch, ohne eine ausgesprochene, langweilige Schönheit zu sein, fein geschnittenes, bewegliches Gesicht, geschmackvolle Kleidung, — stellt Dr. Dykke im Handumdrehen fest, als ein Kriminalbeamter Frau Jenny in sein Dienstzimmer führt. „Warum ist sie bloss so aufgeregt? Na ja, der Tod ihrer Schwester ...“

      „Dykke“, stellt er sich erhebend vor und zieht zuvorkommend einen Stuhl heran. „Bitte, nehmen Sie Platz, gnädige Frau. Ich habe Sie bitten lassen in der traurigen Angelegenheit Ihrer Schwester ...“

      „Ja?“ Atemlos, mit zitternden Lippen, starrt Frau Jenny den Herrn an, der gar nicht so aussieht, wie sie sich einen Kriminalkommissar vorgestellt hat. Der menschenkundige Hotelportier würde ihn nicht anders rubrizieren können als unter dem Begriff „Gentleman“. Er könnte ebensogut Kaufmann wie Arzt, Ingenieur, Verwaltungsbeamter oder Offizier sein. Nur auf etwas Besonderes, Ausgefallenes würde kein Mensch raten, weder auf einen Kriminalisten oder einen harmlosen Onkel aus der Provinz. Dr. Dykke hat nichts Besonderes an sich, und das ist seine Stärke. Es laufen Zehntausende umher, die ihm ganz ähnlich sehen.

      Auch seine Art, zu fragen, hat nichts Inquisitorisches oder auch nur Bürokratisches. Er spricht mit seiner Besucherin nicht anders, als ein Gentleman mit einer Dame plaudert, ruhig, oberflächlich, mit einem Unterton taktvollen Beileids über den traurigen Anlass des Besuches. Und doch fühlt Frau Jenny bei jedem Satz ein neues, heftiges Zittern in ihren Gliedern. Es ist klar, — es geht um Werner König! Der Beamte nennt ihn respektvoll „Herr Assessor König“ und erwähnt, dass er selber persönlich mit ihm bekannt ist. Aber er spricht den Namen zu oft aus für Frau Jennys angstvoll geschärftes Ohr, will zu viel wissen von ihm, Dinge, die doch wirklich nichts mit Graziellas Tod zu tun haben könnten, wenn nicht ... dieser Verdacht ... gegen Werner König bestände.

      „Die helle Angst sitzt ihr ja in den Augen“, denkt Kommissar Dykke still während der Vernehmung. „Möcht ich nur wissen, warum sie so furchtbar aufgeregt ist.“

      Eine farblose Stenotypistin tritt ein und macht stumm eine kleine Schreibmaschine bereit. Dr. Dykke lehnt sich ein wenig in seinen Sessel zurück und lächelt Frau Jenny ermunternd zu. „Es geht schnell und schmerzlos, liebe gnädige Frau. In einer Viertelstunde sind Sie von mir erlöst. Wollen nur schnell noch einmal rekapitulieren. Bitte, unterbrechen Sie mich nur, wenn ich etwas unrichtig ausdrücke.“ Und Dr. Dykkes beginnt zu wiederholen, was Frau Jenny gesagt hat, formt kurze, klare Sätze, wirft nur hier und da einen fragenden Blick auf seine Besucherin. Unaufhörlich klappert die kleine Schreibmaschine.

      „Stimmt das, gnädige Frau?“

      Jenny Nerger nickt gequält und sieht sich nach einem Federhalter um. Sie würde unterschreiben, was immer man von ihr will. Nur fort von hier! Hinaus auf die Strasse! Denken! Überlegen!

      „Einen Augenblick noch“, lächelt Dr. Dykke höflich. „Lesen Sie bitte mal vor, Fräulein.“

      Merkwürdig, was das farblose, unpersönliche Mädchen an der Schreibmaschine für eine helle, freundliche Stimme hat — denkt Frau Jenny, „wie kann eine so helle Mädchenstimme nur Tag für Tag so entsetzliche Dinge vorlesen!“

      Vernehmung.

      In der Mordsache Holm

      erscheint vorgeladen Frau Jenny Nerger und gibt auf

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