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und des*der Aufzunehmenden selbst. Dafür gibt es rechtliche Grundlagen im SGB VIII. Aber diese gesetzliche Grundlage wird in der Praxis jeweils unterschiedlich ausgefüllt. Es geht eher darum, was die Beteiligten für legitim, also vertretbar, vernünftig, berechtigt und moralisch einwandfrei halten. Unterschiedliche Personen werden in diesem Prozess sehr häufig zu unterschiedlichen fachlichen Einschätzungen kommen. Diese fachlich gelenkte Aufnahme hat zur Folge, dass die Vorbereitungen sehr lange dauern: Es wird ein Hilfeplangespräch geben, Vorgespräche mit den Personensorgeberechtigten, den Jugendlichen oder auch anderen sozialen Diensten. Es werden Schriftstücke ausgetauscht und Telefonate geführt. Am Ende dieses Verfahrens und auch nach Abklärung mit der Wohngruppe, die den Jugendlichen unterstützen soll, wird dann die Aufnahme erfolgen. Für die Jugendlichen kann dieses Verfahren die Ausprägung eines weiten oder auch eines engen Zwanges annehmen. Um einen weiten Zwang handelt es sich für sie dann, wenn sie selbst gefragt werden und auch noch andere Optionen angeboten bekommen, etwa eine alternative Wohngruppe, die Weiterführung einer ambulanten Hilfe oder einen Schulwechsel. Ein enger Zwang liegt dann vor, wenn das rechtlich verbriefte Wunsch- und Wahlrecht (§ 5 SGB VIII) missachtet und der Einzug in eine bestimmte Wohngruppe festgelegt wird oder wenn die Aufnahme in diese Wohngruppe damit verbunden ist, Haft zu vermeiden, oder wenn sie als eine Reaktion der Jugendhilfe auf Straftaten erfolgt und vom Gericht angeordnet ist. Wenn die Eltern diese Hilfe nicht wollen und sie ablehnen, kann der Entzug des Sorgerechts drohen. Dann kann von engem Zwang gesprochen werden. Enger und weiter Zwang vermischen sich sehr häufig, was sich auch darin verdeutlicht, dass die Aufnahmewege sehr viel komplizierter und auch unsichtbarer bzw. uneindeutiger ablaufen als etwa ein Haftantritt (die Ladung zum Strafantritt gibt genau an, bis wann die Aufnahme zu erfolgen hat, sonst droht ein Haftbefehl) oder die Aufnahme in eine Kita (Kita, Eltern und Kinder haben sich in der Regel darauf geeinigt). Durch die Beteiligung der Betroffenen bei der Aufnahme in eine Wohngruppe entsteht dagegen der Eindruck, der Einzug sei Gegenstand partnerschaftlicher Aushandlung. Das kann auch so sein, doch hier kann auch immer enger Zwang drohen.

      Auch im Alltag der Wohngruppe selbst kann es engen und weiten Zwang geben. So kann es üblich und Bestandteil der Regeln sein, dass die Fachkräfte mit den Jugendlichen jeden Abend kochen. Das wäre weiter Zwang, denn es kann durchaus sein, dass ein*e Jugendliche*r entschuldigt oder unentschuldigt fehlt, aber verhalten wird er*sie sich zu dieser Anforderung jedenfalls müssen. Zudem werden die Beschäftigten darauf achten, dass die Essenspläne eingehalten werden, die Jugendlichen sich an den Vorbereitungen beteiligen und anschließend gemeinsam abgewaschen wird. Und darauf achten heißt: Sie werden bei Nichterfüllung dieser Erwartung durch die Jugendlichen weiten oder engen Zwang ausüben, sei es, indem sie Jugendliche auf ihrem Zimmer aufsuchen und dort bleiben, bis sie*er sich beteiligt, oder sie*ihn (auch körperlich) daran hindern, den Raum zu verlassen, wenn sie*er anschließend den Abwasch verweigert. In manchen Einrichtungen können sie den jungen Menschen in einen Auszeitraum verbringen und ihm über einen bestimmten Zeitraum die Freiheit entziehen. Das wären jeweils Zwangsmittel, also enger Zwang. Sie könnten aber auch ihr Missfallen lediglich verbal ausdrücken, in einen Aushandlungsprozess eintreten oder nur die Stirn runzeln und nichts weiter tun. Dann würden sie auf engen Zwang verzichten und das Fernbleiben zwar als Fehlverhalten markieren, es zunächst aber hinnehmen, um es vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt aufzugreifen, zu verzeihen oder zu vergessen. Das sind verschiedene Reaktionen mit sehr unterschiedlichen Auswirkungen, in denen bereits unterschiedliche Formen von Zwang bzw. Zwangsmitteln deutlich werden – körperlicher Zwang, psychischer Zwang und Zwang durch Freiheitsentzug (image Kap. 2.4.2).

      Aus Sicht der jungen Menschen mag die Regel, am gemeinsamen Essen teilzunehmen, an den meisten Tagen gar nicht als Zwang erscheinen. Die gemeinsame Mahlzeit kann auch als Selbstverständlichkeit, als Ausdruck der Fürsorge, als Ort der Gemeinschaft und des Austauschs oder auch als lästiges Übel erscheinen, das in Kauf genommen werden muss. Aus unserer Sicht ist das dann ein weiter Zwang, der als solcher gar nicht von allen wahrgenommen werden muss. Erst wenn sie nicht daran teilnehmen wollen – etwa weil sie eine Verabredung haben oder weil sie im Streit mit anderen Jugendlichen liegen – wird diese Regel für die jungen Menschen als enger und damit bemerkbarer Zwang relevant, denn dann geschieht es gegen ihren Willen. Ob es dazu kommt, ist von drei Voraussetzungen abhängig): auf der Mikro-Ebene, ob die Sozialarbeiter*innen sich dazu entscheiden, die Regel mit engen Zwangsmitteln durchsetzen zu wollen, auf der Meso-Ebene, ob sie dabei die Unterstützung ihrer Kolleg*innen haben und gegen die Jugendlichen engen Zwang anwenden, und schließlich auf der Makro-Ebene, ob Zwangsmittel konzeptionell und strukturell verankert sind, etwa in Form eines abschließbaren Raumes (image Abb. 1).

      Vielleicht ist mit diesen Beispielen die grundlegende Unterscheidung zwischen weitem und engem Zwang etwas deutlicher geworden: Weiter Zwang ist die Einwirkung von außen auf ein Individuum. Durch ihn wird sein Handlungsspielraum in unterschiedlichem Ausmaß beschnitten bzw. eingeschränkt. Weiter Zwang kann auch selbst gewählt bzw. aufgrund des eigenen Willens wissentlich in Kauf genommen werden – etwa, dass Studierende Referate halten müssen oder dass Eltern ihr Kind zur Kita bringen müssen, womöglich noch in einem begrenzten Zeitfenster.

      Der enge Zwang bedeutet dagegen, den eigenen Willen gegen den Willen einer Person durchzusetzen, die Wahlmöglichkeiten des Gezwungenen auf null zu reduzieren und dabei gegebenenfalls Zwangsmittel anzuwenden.

      Wichtig für die weitere Argumentation ist, dass weiter Zwang allgegenwärtig ist. Auf ihn stellen wir uns ein und häufig bemerken wir ihn so wenig wie die Luft zum Atmen. Und so wenig wir auf Atemluft verzichten können, so wenig kann in einer Gesellschaft insgesamt von diesem weiten Zwang abgesehen werden. Darauf haben wir eingangs mit Norbert Elias hingewiesen. Ihm zufolge zeigt sich dieser Zwang in den »Interdependenzen«, womit er wechselseitige Abhängigkeiten und das Angewiesensein aufeinander bezeichnet. Diesen unterliegen wir, und zugleich verbinden sie uns miteinander. Zum anderen haben wir Pierre Bourdieu (1985, S. 10) herangezogen, der sich auf den Sozialen Raum als Ensemble unhintergehbarer Kräfteverhältnisse bezieht. Die damit erzeugten Zwänge lassen sich jedoch weder auf die Absichten oder Haltungen der beteiligten Akteure noch auf deren direkte Interaktionen zurückführen.

      Auch Soziale Arbeit vermittelt Interdependenzen und wirkt auf den Sozialen Raum ein, übt also Zwang im weiten Sinne aus, indem sie Entscheidungsfreiheiten und Handlungsmöglichkeiten einschränkt. Gleichzeitig ist sie selbst nicht völlig frei in ihren Entscheidungen, steht also selbst unter Zwang, wodurch sie wiederum Zwang erzeugt, etwa wenn ein Jugendlicher wiederholt nicht am gemeinsamen Essen teilnimmt (image Beispiel 3).

      So greift unsere Unterscheidung zwischen einem weiten und einem engen Zwang auf, dass mit Zwang ganz verschiedene Phänomene bezeichnet werden: einerseits die alltagspraktischen und interdependenten Bedingungen menschlichen Lebens insgesamt (weiter Zwang), andererseits ausdrückliches und gewaltförmiges Eingreifen in das menschliche Leben (enger Zwang). Diese Unterscheidung wird von uns im Folgenden sowohl mit Blick auf die verwandten Begriffe (Macht, Erziehung, Strafe, Paternalismus, image Kap. 4) als auch mit Blick auf den Diskurs um die Legitimität von Zwang in der Sozialen Arbeit immer wieder aufgegriffen. Bei der umstrittenen Frage der Legitimität von Zwang geht es uns primär um den engen Zwang, um bewusst eingesetzte Zwangsmittel und -maßnahmen. Hier ist das Feld der Auseinandersetzung, in das wir mit unseren Überlegungen eintreten. Denn wir werden nicht müde zu wiederholen: weiter Zwang ist überall. Weiter Zwang kann aber keine Rechtfertigung oder Begründung für den tatsächlich und bewusst ausgeübten oder unterlassenen engen Zwang sein.

      Die Zwangsmaßnahmen und Zwangsmittel in der Sozialen

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