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      Soziale Zwänge wie das Drängen des Arbeitgebers oder der Nachbar*innen und Zwangskontexte stehen in diesem Buch jedoch ausdrücklich nicht im Fokus. Im Zentrum stehen die Praxen des Zwangs, die Zwangsmittel, die in der Sozialen Arbeit von Sozialarbeiter*innen konzeptionell und geplant oder auch spontan eingesetzt werden: eben ihr eigenes Handeln. Es geht uns um diese konkreten Zwänge oder Zwangsformen sowie die institutionellen Settings, etwa die geschlossene Tür, die den Adressat*innen die Freiheit nimmt. Wir wollen einladen, darüber nachzudenken, was die einzelne Fachkraft tut, wie sie mit diesem »Berufsschicksal« und diesem zentralen Rollenkonflikt umgeht. Ihre konkreten Zwänge und Zwangsformen treten im Alltag und der Selbstbeschreibung häufig in den Hintergrund. Sie werden als ungeliebte Nebeneffekte nach Möglichkeit ausgeblendet, weil sie das professionelle Selbstbild gefährden. Soziale Arbeit will gemäß ihrer Selbstbeschreibung zum selbstständigen und selbstbestimmten, zum freien Handeln anleiten, sie will ermöglichen und ermächtigen. Das verträgt sich nicht mit Zwang. Doch ist Zwang ein sozialer Tatbestand, und die Negation des Zwangs beseitigt ihn nicht, »ähnlich wie die Luft nicht an Gewicht verliert, wiewohl wir ihre Last nicht mehr fühlen« (Durkheim 1895/1961, S. 108).

      Das ist jedoch nur eine Seite der Medaille, nur ein Teil der sozialarbeiterischen Wirklichkeit und ihrer Diskurse. In der Praxis und zunehmend auch in der Methoden- und Fachliteratur werden Zwang und Zwangsmittel teilweise als konstitutiver Teil von Erziehung und Sozialer Arbeit beschrieben. Dabei dominiert allerdings ein diffuser Zwangsbegriff, bei dem die bereits angesprochenen Trennlinien (Sozialer Zwang, Zwangskontexte und Zwangsmittel) verwischt und unscharf werden. Unterschiedliche Formen und Begriffe von Zwang werden unzulässig vermischt: vom Einschluss bzw. der Entziehung von Freiheit über körperliche und gewaltförmige Beschränkung der Handlungsoptionen und Sanktions- bzw. Privilegiensysteme bis hin zur Abwendung von akuter Selbst- bzw. Fremdgefährdung (Nothilfe und Notwehr). Auch gemeinsam vereinbarte Regeln und Verpflichtungen gehören dazu.

      Die bisherigen Veröffentlichungen, die ausdrücklich den Zwangsbegriff in der Sozialen Arbeit in den Mittelpunkt stellen, beziehen sich meist auf die Handlungsfelder der Jugendhilfe und deren Formen von Zwang bzw. Gewalt (bspw. Forum Erziehungshilfen 4/2019; Häbel 2016; Menk et al. 2013; Huxoll/Kotthaus 2012; Schwabe 2008) sowie einen neuen Autoritarismus (Widersprüche, Heft 154). Mit Blick auf Strafen und freiheitsentziehende Maßnahmen als spezifische Form des Zwangs existiert ein größeres Spektrum an Literatur, weil hier die Zwangsmaßnahmen Teil der Intervention sind. Einen allgemeiner angelegten Zugang zu Zwang und Praktiken des Zwangs in der Sozialen Arbeit finden wir eher in Zeitschriften, Tagungsberichten und ähnlichen Publikationen (bspw. Baumann 2019; Jugendhilfe 1/2018; SozialExtra 5/2017; Lindenberg/Lutz 2014; Lutz 2011; ZJJ [Zeitschrift für Jugendkriminalrecht und Jugendhilfe] 4/2007; Widersprüche, Heft 106 und Heft 113). 2018 hat sich der Deutsche Ethikrat (vgl. kritisch: Rosenbauer/Wölfel 2019) übergreifend, d. h. in unterschiedlichen Bereichen der Sorge- und Sozialarbeit, mit dem Thema »Hilfe durch Zwang« befasst und gefragt, inwiefern und unter welchen Voraussetzungen Zwang als »wohltätig« (und damit als legitim) gelten könne, oder ob wir eine »Renaissance des Zwangs« (Nickolai/Reindl 1999) und repressiver Tendenzen (bspw. Dollinger/Schmidt-Semisch 2011) erleben. Dieser neuere Diskurs um die Legitimität von Zwang als Erziehungsmittel (pädagogisch und rechtlich) in den letzten beiden Dekaden ist ein zentraler Anlass für dieses Buch. Die bestehende Kontroverse darüber und die Relevanz für die Praxis zeigen sich auch rechtlich, etwa an der Novellierung des § 1631b BGB im Jahr 2017. Mit dieser Novellierung wurden freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe einerseits durch die Einführung einer gerichtlichen Genehmigung begrenzt. Andererseits verdeutlicht diese Regelung, dass Handlungsbedarf durch das Vorhandensein solcher bisher von den Personensorgeberechtigten genehmigten Zwangsmaßnahmen besteht. Die Novellierung eröffnet durch den Bezug auf den unbestimmten Rechtsbegriff des Kindeswohls die Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen rechtssicher zu stellen. Insofern begrenzt diese gesetzliche Normierung Zwangsmaßnahmen nicht nur, sondern ermöglicht sie zugleich, indem sie Legalität schafft. Dies gibt den Fachkräften und ihren Trägern die rechtlich unterfütterte Möglichkeit, Zwangsmaßnahmen und -mittel auch pädagogisch zu legitimieren (Lindenberg/Lutz 2017; image Kap. 4; image Kap. 5).

      1.2 Ziele und Aufbau

      Die Beiträge aus der Disziplin und aus der Praxis reflektieren sowohl die unterschiedlichen Begriffsdefinitionen und Bezugspunkte als auch die Erkenntnis, dass Zwang in der Sozialen Arbeit existiert und praktiziert wird. Zwang scheint, wie bereits ausgeführt, ein nicht zu hintergehender Bestandteil der Sozialen Arbeit zu sein. Dafür soll in diesem Buch ebenso ein Bewusstsein geschaffen werden wie für die Diffusität des Begriffs in den Konzepten, Methoden und alltäglichen Praxen. In diesen Praxen erfahren Zwang und insbesondere die hier im Zentrum stehenden Zwangsmittel seit einigen Jahren eine Renaissance: Die Platzzahlen in der geschlossenen Unterbringung und andere freiheitsbeschränkende Maßnahmen steigen ebenso an wie strikte Systeme von Privilegien und Sanktionen (Kunstreich/Lutz 2015; Degener et al. 2020), das »Lob der Disziplin« (Bueb 2006) und die Forderungen nach Möglichkeiten, mehr Druck auszuüben und zu sanktionieren, durchdringen auch die Praxis (Mohr/Ziegler 2012; Mohr 2017). So konstatiert der 14. Kinder- und Jugendbericht die Dominanz eines »Risiko-, Schutz- und Kontrolldiskurs[es]« (BMFSFJ 2013, S. 353). Dollinger (2011, S. 26) spricht vom »Eindruck eines – in welcher Form auch immer – rigider bzw. ›härter‹ werdenden Umgangs mit erwartungs- und normwidrigem Verhalten.«

      These

      Unsere These ist, dass sich auch in den Institutionen der »Schwäche und Fürsorge«, zu denen etwa die Jugendhilfe gehört, eine Zwangsbereitschaft durchsetzt, die in den Institutionen »Verbrechen und Strafe« (zur Unterscheidung der Begriffe vgl. Cremer-Schäfer/Steinert 2014) wie etwa Polizei, Justiz und den Gefängnissen, aus Sicht der Sozialen Arbeit zwar immer umstritten, aber als grundlegend betrachtet wurde (Cornel et al. 2018; Zobrist 2018).

      Vor diesem Hintergrund wollen wir verdeutlichen, dass es unumgänglich ist, sich stets über den eigenen Umgang mit dem tatsächlich vorhandenen Zwang und den Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit selbstvergewissernd und -reflexiv zu befassen. Um dies zu erreichen, werden zunächst ausgehend von Beispielen die grundlegenden Begriffe geklärt sowie die Verquickung von Zwang und Sozialer Arbeit aufgezeigt, um sodann eine historische Einordnung des Zwangs in der Soziologie und der Pädagogik vorzunehmen. In einem dritten Schritt wird die Begriffsklärung dahingehend vertieft, dass mit Zwang verwandte Begriffe (Macht, Paternalismus, Gewalt, Strafe und Erziehung) diskutiert werden. Mit diesen drei Schritten soll mehr Klarheit in die Diffusität gebracht werden: sowohl bezüglich der unterschiedlichen Füllungen und Facetten des Begriffs als auch der damit verbundenen Handlungsunsicherheiten und vermeintlichen Handlungssicherheiten. Denn beides, Sicherheit und Unsicherheit, ist durch die Verwendung des Begriffs »Zwang« in der jüngeren Fachdebatte und den entsprechenden Konzepten erzeugt worden, und zwar sowohl in den Plädoyers für eine Enttabuisierung bzw. Renaissance von Zwang und Zwangsmitteln in der Sozialen Arbeit als auch in den Kritiken an solchen Konzepten.

      Der Zwangsbegriff in der heutigen Sozialen Arbeit und die Rahmungen der angesprochenen Debatten werden in einem vierten Schritt mit Blick auf die sozialpolitischen Entwicklungen eingeordnet. Zu dem Anspruch der Selbstvergewisserung und deren Nutzung im beruflichen Alltag gehört es sodann zwingend, alternative Handlungsmöglichkeiten im Umgang mit Adressat*innen zu verdeutlichen. Dabei konzentrieren wir uns auf Praxen des Verzeihens und Verständigens, die dahinter liegenden Menschenbilder und Erziehungsverständnisse sowie die organisatorischen Kontexte und Voraussetzungen. Davon ausgehend setzen wir uns abschließend mit Fragen der Haltung auseinander. Wir beschäftigen uns insbesondere mit der Partizipation als Leitbild einer aushandelnden Sozialen Arbeit, die die Würde des Menschen unbedingt achtet, sowie den prinzipiellen Handlungsmöglichkeiten und -notwendigkeiten: Wissen, was wir tun.

      Unsere zentrale Unterscheidung von Zwang als allgegenwärtige »soziale Tatsache«, wie Durkheim es formuliert (hier verwenden

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