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und Zwangsmittel bieten dafür keine Hilfe oder Unterstützung.

      Wir wollen mit diesem Band zum Nachdenken über den Zwang in der Sozialen Arbeit einladen: Über den Begriff und Formen des Zwangs, vor allem über Hürden und Konflikte im beruflichen Alltag, aber auch über Handlungsmöglichkeiten im Berufsalltag sowie auf der konzeptionellen und institutionellen Ebene. Denn oft halten wir Sozialarbeiter*innen uns für machtloser und begrenzter als wir es sind. Überall ist Zwang. Doch ausgeliefert sind wir ihm nicht.

      Michael Lindenberg und Tilman Lutz

      1 Zwang als verdrängtes Thema in der Sozialen Arbeit – zur Einführung

      Im öffentlichen Bewusstsein üben Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter einen helfenden Beruf aus. Sie werden vor allem als Unterstützer*innen wahrgenommen. Damit gelten sie zunächst als unverdächtig, Zwang auszuüben. Ihre Dienstleistungen mögen vielleicht als zu teuer und zu wenig effektiv empfunden werden, und oft sind sie auch schwer zu erklären. Aber in einer funktional differenzierten Welt entstehen immer neue Berufe, von denen wir nichts weiter verstehen müssen. Gerade das ist das Ziel der Arbeitsteilung: Ein*e jede*r konzentriere sich auf ihr*sein Arbeitsfeld.

      Allerdings ist es auch so, dass wir, obwohl wir von den beruflichen Gepflogenheiten der Menschen in den vielen Berufen nichts wissen, es uns dennoch häufig nicht nehmen lassen, kritisch mit ihnen umzugehen. Und das häufig zu Recht: Banker*innen können sich mit Hilfe ihres Insiderwissens bereichern, Rechtsanwält*innen können ihre juristischen Kenntnisse nutzen, um zu eigenen Gunsten rechtliche Lücken auszuspähen, Polizist*innen schlagen bei Demonstrationen über die Stränge, Ärzt*innen können zu willfährigen Agent*innen der Pharmaindustrie werden. Nichts davon trifft auf den helfenden Beruf der Sozialen Arbeit zu. Sie helfen. Wer hilft, ist unverdächtig. Zudem ahnen alle, dass dieser Berufsstand auch zur Entlastung des eigenen Lebens beitragen kann. Diese Fachkräfte kümmern sich, wo wir anderen uns nicht kümmern können, wollen oder dürfen.

      Wer hilft, hat augenscheinlich keine oder wenig Macht und übt sie auch nicht aus und Zwang schon gar nicht. Auch viele Beschäftigte in der Sozialen Arbeit mögen das so sehen. Macht können sie auch deshalb nicht haben, weil sie, so ihr eigener Eindruck, selbst nur kleine Rädchen im Getriebe einer Sozialbürokratie sind, in der die Entscheidungen über Art, Umfang und Ausgestaltung der Hilfen durch viele Hände gehen müssen. Vielleicht ist das einer der Gründe dafür, weshalb sich nicht wenige in ihrer beruflichen Tätigkeit für tendenziell machtlos halten. Und wer sich als machtlos sieht, kann offensichtlich keinen Zwang ausüben. Diese Haltung kann selbst auf jene zutreffen, die in Eingriffsverwaltungen arbeiten, etwa dem Jugendamt oder gar im Strafvollzug. Beschäftigte in Freizeitheimen, in der Jugendsozialarbeit und in Einrichtungen der Offenen Kinder- und Jugendarbeit definieren Machtferne und damit Zwangsfreiheit und die Freiwilligkeit ihrer Angebote als zentrales Arbeitsprinzip und Alleinstellungsmerkmal. Auch Beschäftigte in stationären Wohnformen können ihre Position so deuten, dass sie selbst keinen Zwang auf Menschen ausüben, sondern ausschließlich selbst Zwängen unterliegen: denen der bewilligenden bzw. zuweisenden Behörde, denen der eigenen Organisationen, des gesetzlichen Auftrags, des Konzepts und der Arbeitsplatzbeschreibung, dem Zwang der Dienstanweisungen und der Ansagen der Vorgesetzten. Allen diesen Zwängen haben sich die Fachleute und – durch sie vermittelt – die Adressat*innen zu unterwerfen. Da bleibt wenig Raum, sich selbst als machtvoll zu erleben, als eine Person, die mit Zwangsmitteln ausgestattet ist. Das Verdrängen des selbst ausgeübten Zwangs ist in allen Arbeitsfeldern geradezu endemisch. Zwang gehört nicht zum beruflichen Selbstverständnis. Fachkräfte der Sozialen Arbeit haben gelernt zu helfen, nicht zu zwingen. Das Zwingen übernehmen andere Berufsgruppen und Institutionen.

      Ganz offensichtlich trifft das jedoch nicht zu. Alle Beschäftigten in der Sozialen Arbeit sind mit Macht ausgestattet und verfügen deshalb auch über Zwangsmittel. Über den Grad lässt sich streiten, ihr Vorhandensein ist allerdings unbestreitbar. In bestimmten Gebieten sind diese Zwangsmittel sichtbar und klar normiert, etwa durch das Strafvollzugsgesetz, das Jugendgerichtsgesetz (JGG), in der Arbeitsverwaltung durch das SGB II und III, durch das SGB XII für die Bezieher*innen von Grundsicherung. Die in diesen Feldern beschäftigten Fachkräfte werden sich damit befassen müssen. Dabei ist die gedankliche Grundoperation folgende: Die Adressat*innen verfügen über Grundrechte hinsichtlich ihrer Freiheit und ihres Anspruchs auf das Führen eines menschenwürdigen und selbstbestimmten Lebens. Diese Grundrechte jedoch können unter bestimmten Bedingungen gesetzlich legitimiert eingeschränkt bzw. entzogen werden. Das ist Zwang – auch in der Sozialen Arbeit, wie sich am SGB VIII verdeutlichen lässt: Dabei handelt es sich um ein Leistungsgesetz, das Ansprüche auf Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe normiert. Trotzdem sind die Fachkräfte gezwungen, dauerhaft und ständig Einschätzungen zu treffen, ob diese Leistung zusteht oder nicht, aber auch, ob sie angeboten oder aufgezwungen werden soll – mit mehr oder weniger sanftem Druck oder per Gerichtsbeschluss. Denn die nach diesem Gesetz zustehende Leistung ist häufig nicht gewollt. So können die Fachkräfte den Entzug der elterlichen Sorge beantragen oder damit drohen, um so die Leistung gegen den Willen der Adressat*innen durchzusetzen. Dann ist aus dem Anspruch auf eine Hilfe der Zwang geworden, sich einer Hilfe zu unterwerfen. Aus einem individuellen Recht wird dann eine staatliche Zwangsmaßnahme.

      1.1 Zwang in der Sozialen Arbeit?

      Zwang ist eine nicht selten verdrängte Wirklichkeit in der Sozialen Arbeit. Es ist die Regel, dass Tätigkeiten der Sozialen Arbeit mit der Einschränkung von Handlungsfreiheiten ihrer Adressat*innen verbunden sind. Diese Einschränkungen sind meist nicht das erklärte Ziel, aber sie finden statt. Wenige Ausnahmen bestätigen diese Regel. Jemand mag aus freien Stücken wegen seines Alkoholkonsums in eine Beratungsstelle gehen. Das ist eine Ausnahme, denn vielleicht ist das keine Bedingung des Arbeitgebers oder seines sozialen Umfelds. Spätestens, wenn die Einweisung in eine Suchtklinik bevorsteht, wird er*sie sich jedoch Zwängen unterwerfen müssen, sie*er muss gegen den eigenen Willen bestimmte Dinge tun oder unterlassen. Jemand mag aus freien Stücken eine Erziehungsberatung aufsuchen. Doch spätestens, wenn daraus eine Hilfe zur Erziehung werden soll, weil die Fachkraft das vorgeschlagen hat, wird sich diese Person Zwängen unterwerfen müssen. Für die Beschäftigten in einem helfenden Beruf mag das eine ungeliebte Tatsache sein, aber es bleibt eine Tatsache: Durch die Soziale Arbeit werden die Handlungsoptionen von Menschen eingeschränkt, zum Teil werden sie auch dazu gebracht, gegen ihren eigenen Willen etwas ganz bestimmtes zu tun oder zu unterlassen. Das geschieht im Strafvollzug genauso wie in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Der Unterschied besteht zunächst lediglich darin, dass im ersteren Fall der Eintritt selbst unter Zwang erfolgt, im zweiten Fall nicht. Dieses Faktum des Zwangs ändert sich auch nicht, wenn er im Alltag unbemerkt bleibt oder zu verschwinden scheint:

      »Wenn mit der Zeit dieser Zwang nicht mehr empfunden wird, so geschieht dies deshalb, weil er nach und nach Gewohnheiten und innere Tendenzen zur Entstehung bringt, die ihn überflüssig machen; aber sie ersetzen ihn nur, weil sie ja von ihm herstammen« (Durkheim 1961 [1895], S. 108).

      Die Einschränkungen der Handlungsfreiheit wie z. B. die Durchsetzung des eigenen Willens gegen den Willen einer anderen Person werden in Praxis und Fachliteratur regelhaft im so genannten »Doppelten Mandat« und/oder im »Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle« (Böhnisch/Lösch 1973; Thieme 2017, image Kap. 5.1.3) betrachtet und bearbeitet und auf das konkrete Handeln und Interagieren von Fachkräften mit ihren Adressat*innen bezogen. Daneben ist der Begriff des »Zwangskontexts« (image Kap. 2.5) geläufig, mit dem zunächst beschrieben wird, dass Angebote nicht freiwillig in Anspruch genommen werden. Als Zwangskontext werden »alle nicht von den Klient/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der sozialen Arbeit« (Deutscher Verein 2017, S. 1013; Trenzcek 2009, S. 128ff; Kähler 2005) definiert. Zwang bedeutet dann, dass Menschen durch gesetzliche Vorgaben zur Inanspruchnahme Sozialer Arbeit gebracht werden, etwa durch staatliche Eingriffe bei Kindeswohlgefährdung oder durch das mehr oder weniger

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