Скачать книгу

nicht groß kümmern und vielleicht erst tätig werden, wenn Jugendliche um 22:00 Uhr immer noch nicht in der Wohngruppe angekommen sind.

      Der Umstand, dass die Fachkräfte im Einklang mit den aus den strukturellen Rahmenbedingungen hervorgegangenen Regeln handeln, bedeutet aber nicht, dass sie diese Regeln wie Maschinen automatisch exekutieren. Das würde auch nicht funktionieren.

      Strukturellen Zwängen unterworfen zu sein, bedeutet für sie nicht, innerhalb dieses Rahmens keine eigenen Entscheidungen treffen zu können oder nur Anweisungen auszuführen. Zwar gibt es Routinen, und die Aufgabe von Routinen besteht darin, »Unregelmäßigkeit in Regelmäßigkeit« zu übersetzen (Luhmann 1971, S. 119). Doch damit werden Einrichtungen nicht zu bürokratischen Maschinenorganisationen, in denen die Professionellen präzise, stetig, diszipliniert, straff und verlässlich, also berechenbar arbeiten (Weber 1972, S. 123). Im Gegenteil, obgleich in allen Einrichtungen für das pädagogische Personal Handreichungen, Vorschriften und vor allem die Vorbildpraxis der ›Altgedienten‹ zeigen, wie mit den Adressat*innen umzugehen ist, müssen sie selbst Entscheidungen treffen. »Das System wird durch seinen Zweck, der zugleich die Abnahmefähigkeit seiner Entscheidungen definiert, im Großen und Ganzen am Seil geführt, aber doch nicht auf genau vorgezeichneter Spur. Es bleibt, um seiner spezifischen Eigenleistung und Verantwortung willen, relativ autonom« (Luhmann 1971, S. 119). Mit anderen Worten, der enge Zwang einer Organisation ist für die Fachleute in der Regel ein weiter Zwang, da sie über Handlungsoptionen verfügen. Aber handeln müssen sie.

      Diese spezifischen Eigenleistungen und die Verantwortung am Ende des Seils der Zwangsausübung übernehmen die Professionellen, da »Organisationen Rollenerwartungen niemals bis ins kleinste Detail vorgeben können« (Kühl 2014, S. 226). Daher ist »für den Träger einer Rolle die Darstellung als Person letztlich unvermeidlich« (ebd.). Diese Notwendigkeit, auch in stark an Regeln orientierten Einrichtungen als Person in Erscheinung zu treten, erleichtert es den Sozialarbeiter*innen, sich auch unter sehr rigiden Bedingungen, etwa einer freiheitsentziehenden Maßnahme, als eigenständig Handelnde zu verstehen und als solche verstanden zu werden.

      Dieses Handeln geschieht, gerade wenn enger struktureller Zwang dominiert, in einer »Indifferenzzone«, »innerhalb der sie zu den Befehlen, Aufforderungen Anweisungen und Vorgaben von Vorgesetzten nicht Nein sagen können, ohne die Mitgliedschaft in ihrer Organisation grundsätzlich infrage zu stellen« (ebd.). Das kann als eine Art »Generalgehorsam« bezeichnet werden, als Handlungskorridor, der nicht verlassen werden darf, innerhalb dessen jedoch eigenständige Entscheidungen getroffen werden können, ja müssen. Als feste Organisationsmitglieder entwickeln die Fachkräfte ihre Mitwirkungsbereitschaft innerhalb der Normalität der Organisation. Diese Normalität müssen sie, und das ist für sie die Voraussetzung, um ihrer Rolle überhaupt eine persönliche Note geben zu können, als vereinbar mit ihren professionellen Grundsätzen betrachten, als sinnvoll, angemessen und dem Wohl ihrer Adressat*innen entsprechend. Die Bereitschaft zur Mitwirkung entsteht dann im Zuge ihrer Organisationsmitgliedschaft: »Das (zugeschriebene) Handeln der Personen [ist] nur in dem organisatorischen Kontext, also mit Bezug auf die Systemreferenz Organisation, zu verstehen« (ebd., S. 37).

      Das bedeutet allerdings nicht, dass alle gleich handeln, im Gegenteil. Es wird immer Abweichungen und kleinere und größere persönliche Noten geben. Die Organisationsmitgliedschaft gibt die Möglichkeit, in der Rolle als Person erkennbar zu werden. Erst der Generalgehorsam, also die Orientierung an den Regeln der Organisation und ihren strukturellen Zwängen, ermöglicht die Personalisierung des Handelns (ebd., S. 226). Damit führt die Mitgliedschaft in einer Organisation zu einer Verantwortungsentlastung und ermöglicht dadurch Handlungsoptionen. Bestimmte Regeln sind klar, also kann darüber nachgedacht werden, wie sie ausgefüllt werden können, und zwar so, dass erkennbar wird, wer diese Regel umgesetzt hat.

      So muss die Sozialarbeiterin im oben erwähnten Beispiel nicht darüber nachdenken, ob sie die Jugendlichen zum abendlichen Kochen zusammenruft. Von dieser Entscheidung ist sie entlastet, das ist der strukturelle Zwang der Organisation. Wie sie dies konkret umsetzt, bleibt ihr überlassen – ob mit weitem oder engem Zwang, mit oder ohne Handlungsspielräume. Die jungen Menschen werden sie nicht danach beurteilen, ob sie die Regel umsetzt, gemeinsam zu essen. Davon gehen sie ohnehin aus. Für die Adressat*innen ist sehr viel bedeutsamer, ob sie dies freundlich, unfreundlich, distanziert oder mit Lust am Kochen macht, ob sie alle gleichbehandelt, ob sie verlässlich und korrekt ist, ob sie begründete Ausnahmen zulässt oder ob sie die Regel mit allen Mitteln um der Regel Willen durchsetzt. Je mehr es ihr gelingt, diesen strukturellen Zwang mit ihrer persönlichen Note zu verbinden, desto eher wird sie es schaffen, die Jugendlichen davon zu überzeugen, dass es Sinn ergibt, gemeinsam zu kochen, zu essen – und schließlich auch abzuwaschen.

      Um die Unschärfen bei der Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Zwang bei der Analyse der Praxis zu bearbeiten, schlagen wir eine Systematik vor, die diese häufig verwendete Differenzierung ausblendet und damit analytisch klarer wird. Wir unterscheiden mit Blick auf die Anwendung von Zwang in der Sozialen Arbeit zwischen

      1. direktem und unmittelbarem Zwang, den Fachkräfte in Interaktionen einsetzen,

      2. mittelbarem Zwang, der über die Gestaltung von Räumen und Bedingungen ausgeübt wird, bspw. das zeitweise Abschließen der Küche in einer stationären Wohnform, und

      3. strukturellem Zwang, der organisatorisch gestaltet wird.

      Wie in der folgenden Abbildung deutlich wird (image Abb. 2), kann diese Unterscheidung sowohl für den weiten Zwang als auch für den engen Zwang angewendet werden. Sie steht also genauso wie die von uns problematisierte, ›üblichere‹ Unterscheidung zwischen physischem, psychischem und strukturellem Zwang neben der aus unserer Sicht für die Soziale Arbeit zentralen Differenzierung zwischen engem und weitem Zwang.

Images

      Als Zwangskontexte gelten »alle nicht von den Klient/innen selbst ausgehenden Einflüsse zum Aufsuchen von Einrichtungen der sozialen Arbeit« (Deutscher Verein 2017, S. 1013). Zwangskontexte lassen sich daher als eine spezifische Form des Zwangs von dem hier im Zentrum stehenden Zwang in der Alltagspraxis unterscheiden, also von erstens einzelnen, situativen Zwangsmomenten (Festhalten eines Kindes, bevor es über die Straße läuft) und zweitens von konzeptionell verankerten Zwangselementen und -maßnahmen (etwa ein Time-Out-Raum, eine Zwangsbehandlung oder eine freiheitsentziehende Unterbringung). Zwangskontexte rahmen jedoch die Alltagspraxen. In unseren Eingangsbeispielen zur Unterscheidung von weitem und engem Zwang haben wir diesen Zwangskontext als ein Strukturmerkmal von Organisationen jeweils beleuchtet (image Kap. 2.3).

      Die hier verwendete, weithin geteilte Definition von Zwangskontexten (u. a. Trenzcek 2009, S. 128ff; Schwabe 2008, S. 29) ist für unsere weitere Auseinandersetzung mit dem Zwang in der Alltagspraxis ein bedeutsamer Hintergrund. Da der Begriff in den letzten Jahren an Prominenz gewinnt und vermehrt diskutiert und weiterentwickelt wird (etwa: EthikJournal 2/2015; Kähler/Zobrist 2013; Zobrist/Kähler 2017), gehen wir auf die aktuelleren Diskussionen und die damit entstehenden Unschärfen in einem Exkurs am Ende dieses Kapitels ein.

      Zwangskontexte beschreiben in der Sozialen Arbeit »von außen initiierte oder fremdinitiierte Kontaktaufnahmen« (Kähler 2005, S. 7, Herv. i. O.). Im Kern wird damit betont, dass die Adressat*innen Soziale Arbeit oft nicht freiwillig in Anspruch nehmen. Wie bei dem Blick auf Strafvollzug, die Kita und die Jugendwohngruppe (Beispiele in image Kap. 2.3) deutlich wurde, können auch Zwangskontexte nach

Скачать книгу