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nach unterschiedlichen Merkmalen und Formen unterscheiden (Höhler 2009). Diese Differenzierung ist für die Analyse und Reflexion der Praxis ebenfalls relevant, da sie im Fachdiskurs geläufig ist. Wir konzentrieren uns bei der Vorstellung zunächst auf grundlegende Unterscheidungen von Zwangsanwendungen in der Praxis der Sozialen Arbeit. Vor diesem Hintergrund entwickeln wir unsere Systematik und fassen die im Weiteren verwendeten Differenzierungen und Begriffe in einem Schaubild (image Abb. 2) zusammen. Anschließend (image Kap. 2.5) gehen wir auf Zwangskontexte der Sozialen Arbeit als eine Sonderform ein, da organisatorische Kontexte zwar Zwangsmaßnahmen und Zwangsanwendungen ermöglichen, selbst aber keine Zwangsmaßnahme im engeren Sinn darstellen.

      2.4.1 Zwangsmomente und Zwangselemente

      Eine erste wesentliche Unterscheidung für die Anwendung von Zwang ist die zwischen spontaner Zwangsausübung und geplanter, konzeptionell oder strukturell verankerter Zwangsausübung. In der Terminologie folgen wir Schwabe (2008, S. 24ff), der zwischen Zwangsmomenten und Zwangselementen unterscheidet, wobei wir im Gegensatz zu ihm beide Formen in der institutionellen Praxis der Sozialen Arbeit verorten.

      Zwangsmomente finden spontan und ungeplant statt. Damit bezeichnen wir unmittelbare und in der Regel wenig durchdachte, aber subjektiv als notwendig empfundene Reaktion. Ein Beispiel ist das Festhalten eines Kindes durch eine Erzieherin, weil das Kind gerade vor ein Auto laufen will, oder auch der Rauswurf aus der Küche, wenn die Pädagogin in der Wohngruppe (image Beispiel 3) beim gemeinsamen Kochen mit dem Verhalten einer Jugendlichen überfordert ist. Zwangsmomente zeichnen sich vor allem dadurch aus, dass sie »zeitlich und inhaltlich« (ebd., S. 27) nur einen Moment in der Erziehungspraxis darstellen. Wenn es passiert, haben die Zwangsunterworfenen damit nicht gerechnet, und die Zwingenden setzen ihre spontane Handlung nicht systematisch und wiederholt ein. Es sind Handlungen im Augenblick.

      Allerdings kann das Verweisen aus dem Raum, wenn es konzeptionell verankert und geplant ist, auch ein Zwangselement in dieser Wohngruppe sein. Dann ist es keine spontane Reaktion, sondern »eine vorher geplante und konzeptionell verankerte Maßnahme« (ebd.) und damit ein Zwangselement. Die Handlung geschieht dann nicht spontan, sondern regelhaft, erwartbar und angebbar. Sie ist als Maßnahme begründet und reflektiert, möglicherweise sogar schriftlich in der Konzeption festgehalten. Aber auch nicht konzeptionell verankerte Handlungen, die als inoffizielle Routinen Praxis geworden sind, können den Zwangselementen zugeordnet werden. So kann das gemeinsame Einnehmen der Mahlzeit auch eine von einem Großteil des Personals getragene Regel sein, die im Konzept des Trägers gar nicht auftaucht und vielleicht nur innerhalb dieser bestimmten Wohngruppe bekannt ist und gilt. Ebenso sind ein Time-Out-Raum oder eine komplette Freiheitsentziehung durch den Einschluss in dem eigenen Zimmer in einer geschlossenen Wohngruppe Zwangselemente. Diese Unterscheidung zwischen Moment und Element ist hilfreich, sagt aber noch nichts über die Qualität des Zwangs aus.

      Diese Qualität des Zwangs kann in drei Gruppen unterteilt werden: Erstens in physischen, also körperlichen bzw. »körpergestützten« Zwang (Höhler 2009, S. 90), zweitens in einen psychischen Zwang, also einen »Zugriff auf die ›Seele‹« (Schwabe 2008, S. 20) und drittens in einen strukturellen bzw. organisatorischen Zwang, zu dem wir den Freiheitsentzug zählen. In anderen Systematiken wird der Freiheitsentzug hingegen gesondert aufgeführt oder auch als »Zwangskontext« bezeichnet (image Kap. 2.5).

      Physischer bzw. körpergestützter Zwang umfasst nicht nur direkte Gewalt, etwa Schläge, Festhalten oder das handgreifliche Wegnehmen einer Sache, sondern »jegliche Form des Einwirkens […], das auf der körperlichen Überlegenheit der PädagogIn beruht« (Höhler 2009, S. 90).

      Da damit auch die Macht durch die körperliche Überlegenheit sowie die Androhung des Einsatzes von körperlicher Gewalt gemeint sein kann, ist die Grenze zum psychischen Zwang fließend bzw. nur anhand der konkreten Situation klar zu ziehen. Psychischer Zwang kann über explizite Drohungen oder auch den Entzug von Zuwendung ausgeübt werden und setzt in der Regel eine hohe Macht der zwingenden Person bzw. eine große Abhängigkeit der Zwangsunterworfenen voraus. So könnte – je nach Abhängigkeit – bereits das Stirnrunzeln oder das Hochziehen einer Augenbraue einen solchen engen Zwang bewirken, weil sich der Jugendliche dadurch gezwungen sieht, nun gegen seinen Willen den Abwasch zu erledigen. Anderen mag es dagegen gleichgültig sein, wie häufig der*die Sozialarbeiter*in die Augenbrauen hochzieht, das hängt von dem Macht- und Abhängigkeitsverhältnis sowie den damit verbundenen unausgesprochenen Drohungen zusammen.

      Fallbeispiel Kita

      Ein Beispiel für Zwang durch angedrohten Zuwendungsentzug ist die Äußerung einer Fachkraft gegenüber einem Kita-Kind, das als letztes noch auf dem Spielplatz ist und dort noch eine Weile bleiben will. Die Erzieherin ruft: »Ich gehe jetzt! Tschüss!«. Das ist ein Beispiel für die Kaschierung von engem Zwang. Jeder Mensch weiß, dass das nicht geschehen wird, und dass das Kind mitkommen muss. So wird vorgetäuscht, den engen in weiten Zwang umzuwandeln: »Du kannst selbst entscheiden, ob du nun mitkommst oder nicht.«

      Auch der Entzug von Privilegien im Rahmen eines Phasenmodells, etwa der Erlaubnis, mit den anderen Jugendlichen sprechen zu dürfen, kann als psychischer Zwang bewertet werden. Er beruht aber auf dem strukturellen Zwang auf der Makro-Ebene, da jede Phase mit bestimmten Handlungsfreiheiten bzw. deren Einschränkung verbunden ist, die durch den organisatorischen und konzeptionellen Rahmen definiert werden. So können Jugendliche, die sich in den Augen des Personals ordentlich verhalten haben, mit dem größeren Zimmer in einem besseren Haus mit mehr Freiheiten oder der Erlaubnis belohnt werden, ihre Eltern anzurufen, wenn sie eine Stufe aufgerückt sind.

      Der strukturelle bzw. organisatorische Zwang auf der Makroebene ist deshalb von besonderer Bedeutung, da er auch Personal selbst betrifft. Zunächst beschreibt struktureller Zwang, wie das Beispiel des Strafvollzugs (image Beispiel 1) verdeutlicht, einen Zwang, der nicht in direkter Interaktion ausgeübt wird, aber zu bestimmten Interaktionen führt. Der Entzug der Freiheit ist dafür das deutlichste Beispiel. Aber auch sehr rigide Regeln können dieser Zwangsform zugerechnet werden, etwa die so genannten Stufenmodelle in der Heimerziehung, in denen die Handlungsmöglichkeiten der Adressat*innen durch ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten Phase bestimmt werden. Dieser strukturelle Zwang hat für die Jugendlichen dann Folgen für den Kontakt zu Außenstehenden, für die Teilnahme an wünschenswerten Aktivitäten oder für den Zugang zu einem Telefon und anderem mehr (Kunstreich/Lutz 2015). In solchen Settings eines dominierenden strukturellen Zwangs gehen die Handlungsbeschränkungen der Adressat*innen immer auch mit Handlungsbeschränkungen der Fachkräfte einher. Wenn die Adressat*innen wenig dürfen und stark beschränkt werden, dann darf auch das Personal nur ganz bestimmte Reaktionen in einem engen Handlungskorridor zeigen. Diesen engen Handlungskorridor muss es dann ausfüllen. Darauf kommen wir in folgendem Exkurs zu sprechen.

      Exkurs 1: Struktureller Zwang als Zwang für die Fachkräfte

      Die Fachkräfte sind in allen Organisationen angehalten, sich im Einklang mit den Regeln der Organisation zu verhalten. In freiheitsentziehenden Maßnahmen etwa müssen sie dafür sorgen, dass die Jugendlichen das Zimmer

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