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umgezogen. Sabine trug ein leichtes, braunes Leinenkleid, Stefanie einen blauen Jeansrock mit weißer Bluse; beide hatten, für den Fall, daß es kühl werden sollte, Strickjacken über die Schulter geworfen. Zuerst schlenderten sie in Richtung Rue de Mont Blanc. Der Geschäftsführer des Hotels hatte Sabine einen kleinen Stadtplan mit Veranstaltungskalender – »La semaine à Genève« – gegeben. Die Straße, die sie schon kannten, führte in der einen Richtung zum Bahnhofsplatz, in der anderen zum Pont Mont Blanc. Sie war eine typische Touristenstraße. Uhren- und Schmuckläden, Schokoladen- und Nippesgeschäfte lösten sich mit überfüllten Straßencafés ab. Hier gab es auch die unvermeidlichen Fast-food-Restaurants, von Jugendlichen aus aller Welt belagert. Die flanierende Menge wirkte kaum noch europäisch; Japaner, Amerikaner, Araber und Afrikaner beherrschten das Straßenbild.

      Stefanie staunte, und Sabine gefiel es.

      Vor einem imposanten Gebäude, zu dem eine breite Freitreppe hinaufführte, blieben sie stehen.

      »Was ist das?«fragte Stefanie. »Die Oper?«

      »Nein«, erwiderte Sabine nach einem Blick auf den kleinen Stadtplan, »nur die Hauptpost,«

      »Was für ein Aufwand!«

      Auch das Bahnhofsgebäude mit seiner klassizistischen Fassade wirkte beeindruckend. Darunter war eine Einkaufspassage mit luxuriösen Boutiquen angelegt. Mutter und Tochter warfen einen Blick hinein, verständigten sich aber rasch, daß sie sich diesen Bummel für heute schenken wollten. Sie wandten sich in Richtung See. Die Uferstraße, der Quai de Mont Blanc, war in beiden Richtungen hoffnungslos verstopft.

      »Das muß der Rückverkehr vom Wochenende sein«, meinte Sabine, »es wird bestimmt nicht immer so zugehen.«

      Schon bald sollte sich herausstellen, daß sie zu optimistisch gewesen war. Genf ist aufgrund seiner geographischen Lage für ein Verkehrschaos vorprogrammiert. Die Schweizer Stadt ist von zwei Seiten von Frankreich umschlossen. Jeder, der von Ferney nach Annemasse – das sind die beiden französischen Grenzsiedlungen – will, muß sie durchqueren. Außerdem arbeiten viele der benachbarten Franzosen als Grenzgänger – »frontaliers« – in Genf und müssen mindestens zweimal täglich die Grenze passieren. Zu allem Überfluß wird nahezu der gesamte Verkehr über den völlig überlasteten Pont Mont Blanc geleitet.

      Aber darüber machten sich Sabine und Stefanie an ihrem ersten Tag in Genf noch keine Gedanken. Sie bewunderten den Mont Blanc, dessen schneebedeckter Gipfel in der Ferne leuchtete, unwirklicher als auf dem Gemälde in ihrem Zimmer, und schlenderten die Uferpromenade entlang.

      Die Hitze des Tages war verschwunden, und viele Familien nützten die angenehme Kühle zu einem Spaziergang. Der hohe Anteil an Ausländern verschiedener Gesellschaftsschichten war auffallend. Indische und ceylonesische Frauen in bodenlangen Saris, tiefschwarze afrikanische Schönheiten mit ihren krausköpfigen Jungen und feingemachten, vielbezopften kleinen Mädchen und verschleierte Damen aus den Emiraten boten ein exotisches Bild. Aber auch Spanier, Marokkaner und Portugiesen, die vermutlich im Hotelgewerbe tätig waren, bevölkerten die Promenade. Stefanie kam aus dem Staunen nicht heraus.

      »Genf ist für seine Internationalität bekannt«, erklärte Sabine, »hier ist der Sitz der UNO und vieler anderer internationaler Organisationen.«

      »Ich weiß schon, aber so habe ich mir das doch nicht vorgestellt. Einfach toll. Endlich mal ’ne Stadt, wo niemand was gegen Ausländer hat.«

      Sabine dämpfte ihre Begeisterung. »Ganz so ist es nicht. Es heißt, die Schweizer seien ausgesprochen fremdenfeindlich.«

      »Das glaube ich einfach nicht.«

      »Wir werden es erleben. Natürlich ist ein Saudi, der sein Geld ausgeben will, überall willkommen. Bei einem armen Schlucker sieht das anders aus.«

      »Vermies mir nicht den ganzen Spaß, Maman! «

      »Das hatte ich auch nicht vor, Liebling. Ich wollte dich nur darauf aufmerksam machen, daß der Schein auch trügen kann.«

      Stefanie blieb stehen. »Sieh mal, da ist ja unser rosa Zuckerbäckertempelchen von vorhin! Schau doch, bitte, was in deinem schlauen Buch darüber steht!«

      Sabine blätterte in ihrem Heftchen. »Das muß das Grabmal des Herzogs von Braunschweig sein.«

      »Wirklich? Der ist hier begraben?«

      »Scheint so.«

      »Begreif ich nicht.«

      »Der gute Herzog hat sich das Recht auf diese prominente Grabstätte durch Spenden an die Stadt Genf erkauft«, erklärte Sabine.

      »Da haben wir es wieder: Geld regiert die Welt! Aber da hat er wohl eine Menge blechen müssen.«

      »Anzunehmen.« Sabine zog ihre Strickjacke über.

      »Wird dir nicht auch kalt, Liebling?«

      »Ich friere überhaupt noch nicht. Sieh mal da drüben!« Sie lenkte die Aufmerksamkeit ihrer Mutter auf ein hohes modernes Gebäude aus Stahl mit dunkel getönten Fenstern. »Noga Hilton Hotel Casino« war in riesigen Lettern auf seiner Front zu lesen. »Ob das ein echtes Casino ist – wie in Monte Carlo?«

      »Sehr wahrscheinlich«, meinte Sabine.

      »So ein Luxus, das hältst du im Kopf nicht aus. Das müssen wir uns aus der Nähe anschauen, ja?«

      »Nicht gerade heute«, wehrte Sabine ab, »ich möchte lieber weitergehen.«

      Schon bald hatten sie die Menge der abendlichen Spaziergänger hinter sich gelassen. Eine schmale Landzunge, die an ihrer Spitze von einem Leuchtturm und einer mächtigen Platane beherrscht wurde, ragte ungefähr hundert Meter in den See hinein.

      »Bains de pâquis«, las Stefanie mühsam und mit deutscher Aussprache, »Entrée cinquante centimes.«

      »Scheint sich um ein Freibad zu handeln«, erklärte Sabine, »der Eintritt kostet…« Sie sprach es richtig aus. »….cinquante centimes. Aber was soll ›Pâquis‹ heißen? Ich kenne nur ›Pâques‹, und das heißt Ostern.«

      »Sehr beruhigend, daß du auch mal passen mußt, Maman.«

      Später sollten sie erfahren, daß Pâquis der Name des Viertels war, das sich unterhalb des Bahnhofes bis zum See hin erstreckte.

      Hier draußen, so nahe am Wasser, war es wirklich frisch geworden, und Stefanie zog sich jetzt auch ihre Jacke an.

      Es wurde allmählich dämmrig, und sie beschlossen, zum Hotel zurückzukehren, aber nicht am See entlang, sondern durch die Stadt. Sie wollten sich ein nettes Lokal suchen.

      Schon bald, an der Place de Navigation, wurden sie fündig. Das Restaurant »Tamaris« pries seine türkische Küche an. Sie traten ein. Außer einem Herrn um die fünfzig waren sie die einzigen Gäste. Anscheinend wurde in Genf um diese Zeit noch nicht zum Abendessen gegangen.

      Gemeinsam studierten sie die Speisekarte, bestellten sich Salat mit Ziegenkäse und Oliven und als Hauptgericht Fleischspießchen. Ein schwarzgelockter junger Kellner servierte, ein weißes Tuch um die Hüften geschlungen. Es schmeckte köstlich; der Salat war frisch und knackig und die Fleischstücke scharf gewürzt. Sabine gönnte sich ein Glas Rotwein und Stefanie eine Cola. Während des Essens plauderten sie halblaut und angeregt über ihr ersten Eindrücke von Genf.

      Gerade als Sabine die Rechnung verlangen wollte, kam der Herr vom Nebentisch zu ihnen herüber; er trug einen weißen Leinenanzug und, um den Hals, ein hellblaues Seidentüchlein. Sein kahler runder Kopf war gleichmäßig gebräunt.

      »Würden die Damen mir die Freude machen, sich zu einem Minzetee einladen zu lassen?« fragte er mit einer Verbeugung in fast akzentfreiem Deutsch.

      »Wirklich, das ist sehr liebenswürdig, aber wir wollen gerade aufbrechen «, stotterte Sabine verwirrt und merkte zu ihrem Entsetzen, daß sie rot wurde.

      »Aber, gnädige Frau, das können Sie mir nicht antun! Orientalische Gastfreundschaft darf man nicht abschlagen.«

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