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Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Erwin Breitenbach
Читать онлайн.Название Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik
Год выпуска 0
isbn 9783170362161
Автор произведения Erwin Breitenbach
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Vergangenheit und Zukunft oder das Unwirkliche und die Beziehung zum gegenwärtigen Lebensraum ist für Lewin (1969) ebenfalls eine zu klärende Frage. Möchte ein Kind beim Ausmalen von unterschiedlichen Formen besonders exakt arbeiten und mit den Farbstiften möglichst nicht über die vorgegebenen Begrenzungslinien hinausfahren, um von seiner Erzieherin gelobt zu werden, so ist dieses Ziel als psychologisches Faktum für Lewin (1969) zweifellos ein gegenwärtiges, das einen wesentlichen Bestandteil des momentanen Lebensraumes ausmacht. Dagegen ist der Inhalt des Zieles, nämlich das exakte Ausmalen als solches und das sich daran anschließende Lob, ein zukünftiges Ereignis und somit außerhalb des gegenwärtigen Lebensraumes. Eine ähnliche Differenz der Zeitbestimmung für das psychische Faktum und seinen Inhalt besteht auch im Zusammenhang mit Vergangenem, also z. B. der Erinnerung an die Scham über zurückliegende Ereignisse. Die gesamte Lebenssituation sowie Vergangenes und Zukünftiges sind daher wesentliche Bestandteile des Lebensraumes. Sowohl Aspekte aus der bisherigen Lern- und Lebensgeschichte als auch Ziele und Wünsche, die in die Zukunft weisen, bestimmen den Lebensraum. Durch die förderdiagnostische Fragestellung wird die zu untersuchende Lernsituation und damit der spezifische Lebensraum ausgewählt und bestimmt. Je nach gewählter Momentsituation muss die gesamte Lebenssituation, müssen Ereignisse aus der Vergangenheit oder Vorstellungen über die Zukunft mehr oder weniger stark bei der Beschreibung des Lebensraumes berücksichtigt werden.
Eine weitere mit der Zeitbestimmung in gewisser Weise verwandte Frage ist für Lewin (1969) die Frage nach der Bestimmtheit oder Klarheit von psychologischen Fakten. Das Berufsziel eines 14-jährigen Jungen kann noch völlig vage und unklar sein. Erwartungen an eine andere Person oder Situation können sehr bestimmt und klar formuliert werden. Die zunehmende Orientierung in einer neuen Umgebung bringt eine Abnahme im Grad der Unklarheit. Bestimmtheit oder Unbestimmtheit spielen eine große Rolle für Entscheidungen oder auch für die Klarheit und Festigkeit eines bestimmten Verhaltens. Es handelt sich hierbei für Lewin (1969) um eine wesentliche Eigentümlichkeit jeder Situation, und damit auch des Lebensraumes.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man den Lebensraum eines Kindes nur erfassen kann, wenn man sich in ein Kind hineinversetzt, die kindliche Perspektive einnimmt und versucht, die Lebens- und Momentsituation eines Kindes mit dessen Augen zu betrachten. Das Konzept des Lebensraumes macht deutlich, dass nur diejenigen Gegebenheiten zur psychologischen Person und zur psychologischen Umwelt zählen, die für die aktuelle zu analysierende Situation aus der Perspektive des Kindes bedeutsam sind. Nicht jedes Lern- und Verhaltensproblem in der Schule erfordert automatisch eine weitgehende Anamnese und umfangreiche Recherche über das schulische und häusliche Umfeld. Informationen und Fakten über eine Person und ihr Umfeld werden erst zu förderdiagnostischen Informationen, wenn der Diagnostiker die Bedeutung kennt, die diese Person ihnen aus ihrer aktuellen Situation und Perspektive heraus beimisst.
In der Praxis erweist sich die Suche nach bedeutsamen Informationen als durchaus schwierig. So offenbaren manche Daten erst im Nachhinein ihre Bedeutsamkeit und damit ihre Zugehörigkeit zum Lebensraum. Hofmann (1998) schlägt deshalb in Anlehnung an Bronfenbrenner (1981) ein Vorgehen in konzentrischen Kreisen vor, die sich um die spezifische Situation gruppieren lassen. Auf diese Weise wird es möglich, von einem Problem ausgehend zunächst die Momentsituation und im weiteren Verlauf der Diagnostik auch die Lebenssituation eines Kindes mehr und mehr auszuleuchten. Zum Beispiel könnte der erste Kreis bei einem Schulleistungsversagen nach Hofmann (1998) bestehen aus:
• dem Lernstand des Kindes in der Schulsituation,
• der Unterrichts-, Lehrer- und Klassensituation bezüglich der Art und Weise des Unterrichtsgesprächs (Melden, Nicht-Melden, Aufgerufenwerden, Nicht-Aufgerufenwerden, Zwischenrufe, Klassenklima),
• der Unterrichtsorganisation, der Sitzordnung, Verteilen von Verantwortung und »Ämtern«, Verhältnis Jungen – Mädchen,
• der Stellung in der Klasse (Außenseiterrolle, Wertschätzung, Akzeptanz)
• dem Stundenplan (Abfolge der Lehrer- und Stundenwechsel, Pausengestaltung, Wege im Schulhaus).
Ein zweiter Kreis könnte gebildet werden durch das Einbeziehen des Schulweges, beispielsweise bestehend aus der Situation im Schulbus, Länge des Heimweges oder Auffälligkeiten in der ersten oder letzten Stunde. Erst in einem dritten Kreis käme die häusliche Lernsituation in den Blick. Fragen in diesem Zusammenhang wären: Wo, wann und mit wem macht das Kind seine Hausaufgaben oder macht es diese überhaupt? Wer kann helfen und wie sieht diese Hilfe aus?
Weitergehend könnte sich dann das diagnostische Interesse auf mögliche Beziehungsprobleme innerhalb der Familie oder auf die soziale Situation der Familie richten. Vorstellbar wäre auch noch ein weiterer »diagnostischer Kreis«, der das Bildungs- und Schulsystem mit seinen unterschiedlichen Schularten als Lernsituation in den Blick nimmt.
4.2.3 Diagnose und Förderung konsequent verknüpfen
Der Begriff Förderdiagnostik sollte von Anfang an das Bezogensein der Diagnose auf Förderung und nicht auf Selektion oder andere Ziele klar zum Ausdruck bringen. Allerdings suggerierte er ebenfalls von Anfang an, dass sich aus diagnostischem Handeln direkt das pädagogische ableiten lasse. Diese Art der Verknüpfung von Diagnose und Förderung ist äußerst problematisch und wurde von Schlee (1985a; 2008) als eine grundlegende Ungereimtheit der Förderdiagnostik, als ein logischer und naturalistischer Fehlschluss bezeichnet. Aus Ist-Werten lassen sich keine Soll-Werte ableiten und die Ergebnisse diagnostischer Untersuchungen enthalten keine Hinweise auf Ziele oder Teilziele zur Bestimmung des sich anschließenden didaktisch-pädagogischen Prozesses. Diese Kritik konnte bis heute nicht entschärft werden und wird im Grunde von allen Autoren geteilt, was aber gleichzeitig nicht bedeutet, dass nun Diagnostik oder Förderdiagnostik obsolet und für die Gestaltung von Erziehung, Unterricht, Förderung und Therapie überflüssig geworden wäre. Mit vorgeordneten Theorien über Lernen und Entwicklung als Bezugssysteme ist es dennoch unbedingt erforderlich herauszufinden, welche Kompetenzen ein Kind bereits erworben hat, in welcher Entwicklungsphase es sich gerade befindet, welche Bedingungen des Umfeldes behindernd oder förderlich wirken könnten, auf welchem Niveau eine Förderung anzusetzen hat oder wo bei einem Kind die Schwierigkeiten festzumachen sind und demzufolge ein Handlungsbedarf besteht (Graf & Moser-Opitz 2007; Klauer 2003; Kornmann 2010; Kretschmann 2003; 2006a; Schuck 2004a; v. Knebel 2010).
Für Schuck (2004a) ist Bezug nehmend auf Kaminski (1970) klar, »dass Diagnostik im handlungstheoretischen Sinne ein zyklischer Prozess sein muss, der mindestens aus einer diagnostischen und einer ›praktischen‹ Phase besteht. In dieser Vorstellung werden in der diagnostischen Phase Handlungsorientierungen entwickelt, die sich in der praktischen Phase zu bewähren haben. Die Bewährung ist durch eine die praktische Phase begleitende Diagnostik sicherzustellen. Gelingt die Bewährungsprobe nicht, sind im Rahmen einer neuerlichen diagnostischen Phase die Handlungsorientierungen für die praktische Phase zu überprüfen und zu modifizieren« (Schuck 2004a, 356).
In diesem Sinne ist auch das Ablaufmodell des förderdiagnostischen Prozesses von Strasser (2004) zu verstehen, das vier Schritte kreisförmig miteinander verbindet, wobei die ersten beiden Schritte (Wahrnehmen, Erfassen, Auswerten und Interpretieren, Verstehen, Erklären, Vergleichen) eher der diagnostischen Phase und die letzten beiden (Ziele formulieren, Handlungen planen und Handlungen umsetzen) eher der praktischen Phase zuzuschreiben wären (
Abb. I.8).Abb. I.8: Ablaufmodell des förderdiagnostischen Prozesses (aus: