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Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Erwin Breitenbach
Читать онлайн.Название Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik
Год выпуска 0
isbn 9783170362161
Автор произведения Erwin Breitenbach
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Die in allen Modellen und Konzepten beschriebenen zentralen Bestandteile des diagnostischen Prozesses im pädagogischen Handlungsfeld finden sich letztendlich bei Hesse und Latzko (2009) wieder, für die das diagnostische Vorgehen mit der Präzisierung einer Fragestellung beginnt und über die Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung zu einem diagnostischen Urteil gelangt, das dann die Ausgangsfrage nach Selektion oder Förderung beantwortet (
Abb. I.5).Abb. I.5: Ablaufmodell des diagnostischen Prozesses (aus: Hesse, I. & Latzko, B. (2009): Diagnostik für Lehrkräfte. Opladen: Barbara Budrich, 63)
Auffallend ist auch hier wieder die große inhaltliche Nähe dieser Prozessmodelle zu denen aus der psychologischen Diagnostik (
Kap. I.2.3).3.4 Zusammenfassung
Psychologische und sonderpädagogische Diagnostik lassen sich nur schwer voneinander abgrenzen, es können sogar große Übereinstimmungen und Parallelen festgestellt werden, die in den jeweiligen diagnostischen Dreiecken sehr deutlich zum Ausdruck kommen. Die sonderpädagogische Diagnostik beschränkt sich auf das sonderpädagogische Handlungsfeld, verfügt neben den psychologischen Methoden über einige wenige eigene spezifische diagnostische Instrumente, die in erster Linie den Besonderheiten des zu untersuchenden Klientel geschuldet sind, und muss wie die psychologische Diagnostik auf ein breites Feld inhaltlicher Grundlagen zurückgreifen. Psychologische und sonderpädagogische Diagnostiker verfolgen beim Diagnostizieren im Wesentlichen zwei Strategien: die Selektions- und die Modifikationsstrategie oder die Platzierungs- und Förderdiagnostik, wie die entsprechenden Bezeichnungen in der sonderpädagogischen Fachliteratur lauten, und beschreiben ihr Vorgehen in vergleichbaren Prozessmodellen. Beiden können die gleichen Beurteilungs- und Bewertungsfehler unterlaufen und für beide gelten die gleichen grundlegenden gesetzlichen Bestimmungen und ethischen Anforderungen.
Wenn man nach Unterschieden sucht, so findet man sie noch am ehesten in bestimmten Akzentuierungen, wie z. B. in einer stärkeren Werteorientierung der sonderpädagogischen Diagnostik oder in ihrem besonderen Bemühen um das Verstehen subjektiver Realitäten im jeweiligen Lebenskontext.
4 Förderdiagnostik
Der Begriff der Förderdiagnostik oder Förderungsdiagnostik taucht etwa ab Mitte der 70er-Jahre in der Fachliteratur auf und mit seiner Gegenüberstellung von Einweisungs- und Förderdiagnostik eröffnete Kobi (1977) die Auseinandersetzung um diesen Begriff. Anfang und Mitte der 80er-Jahre wurde eine kontroverse Debatte zur Konzeptualisierung der Förderdiagnostik geführt und die Diskussion kreiste um die Fragen, wie die Ergebnisse der Förderdiagnostik für Planung und Durchführung sonderpädagogischer Förderung genutzt werden können und wie sich die Förderdiagnostik von einer individuumzentrierten, stark am medizinischen Modell orientierten Diagnostik abgrenzen kann (siehe dazu Kornmann, Meister & Schlee 1983). Die meisten Konzepte stellen als Charakteristikum der Förderdiagnostik die enge Verknüpfung von diagnostischem und pädagogischem Handeln heraus und versuchen, die Diagnostik systematisch mit der Förderung zu koppeln. Genau dies ist für Schlee (1983; 1985a; 2008) jedoch eine grundlegende und entscheidende Ungereimtheit, die auf dem logischen Fehlschluss beruht, man könne aus Ist-Werten oder Beschreibungen Soll-Werte oder Vorschriften und Anweisungen ableiten. Den diagnostischen Daten lassen sich keine Handlungsempfehlungen entnehmen, sondern diese ergeben sich nur aus Soll-Werten, die außerhalb diagnostischer Ergebnisse zu finden sind. Diese theoretischen Einwände konnten in der Folge nie entschärft werden, wiewohl einige Autoren immer wieder versuchten, durch eine kontrastierende Gegenüberstellung von Förderdiagnostik und Selektionsdiagnostik das Spezifische der Förderdiagnostik herauszuarbeiten und die grundlegenden theoretischen Mängel des Förderdiagnostikkonzeptes zu beheben (Breitenbach 2003; Bundschuh 1994; Strasser 2004). Trotz dieser immerwährenden Kritik an der Förderdiagnostik und trotz eines nie verschwindenden Unbehagens an der sonderpädagogischen Diagnostik oder vielleicht eher an der geübten Praxis hat der Begriff oder das Konzept »Förderdiagnostik« eine weite Verbreitung gefunden.
4.1 Förderbedarf und Förderplan
Eng mit dem Begriff der Förderdiagnostik verbunden ist der des sonderpädagogischen Förderbedarfs, der für Schuck et al. (2006) einen zyklischen, hypothesenbildenden und -prüfenden diagnostischen Prozess meint, mit der Aufgabe »begründbare und geprüfte Hypothesen über ein aktuelles Schulproblem und den damit verknüpften individuell entwickelten Möglichkeiten des Kindes sowie den institutionell gegebenen Bedingungen zu entwickeln« (Schuck et al. 2006, 44). Unter der Berücksichtigung der Bildungsbedürfnisse des Kindes ist ein Förderkonzept zu erstellen, das sowohl Ziele und Inhalte als auch Methoden für die nächsten Förderschritte enthält. Auf dieser Grundlage erfolgt dann auch noch eine Empfehlung für den Förderort, an dem die notwendigen Bedingungen zur Umsetzung des Förderkonzeptes möglichst optimal realisierbar sind (siehe dazu auch Schuck 2004b). Mit dem Konzept des sonderpädagogischen Förderbedarfs wurde in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz aus dem Jahr 1994 das aus der KMK-Empfehlung von 1972 stammende Konzept der Sonderschulbedürftigkeit ersetzt, was vor allem dem Bemühen entsprang, den Förderbedarf person- und nicht wie bisher institutionsbezogen zu definieren und dadurch auch Etikettierung und in deren Folge Diskriminierung zu vermeiden. Man bezog sich dabei auf Entwicklungen in England und den USA, in denen nicht mehr von Behinderungen gesprochen wurde, sondern von »special educational needs«. Allerdings kritisieren Schuck (2016) und Lindmeier und Lindmeier (2012), dass die angestrebten Veränderungen nicht eintraten und dass im Grunde alles beim Alten blieb.
Vom sonderpädagogischen Förderbedarf klar abzugrenzen ist für Kretschmann (2006b) der erhöhte Förderbedarf, der bei jeglicher Form des Zurückbleibens hinter schulischen Lernzielen gegeben ist, selbst wenn nur ein einzelnes Fach davon betroffen ist. Von einem solchen Lernrückstand kann man dann ausgehen, wenn z. B. in einem standardisierten Schulleistungstest ein Prozentrang von 15 und weniger erzielt wird. Strengere Maßstäbe sind für die Zuerkennung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs anzulegen. Welche Bedingungen gegeben sein müssen, um vom Vorliegen eines sonderpädagogischen Förderbedarfs zu sprechen, ist vorab nicht ohne Weiteres zu sagen. Das Risiko dafür wächst jedoch, je mehr Risiken und Belastungen und je weniger Schutzfaktoren gegeben sind.
Solche Klärungsversuche können allerdings nicht über die begriffstheoretische Schwäche der Kategorie »Förderbedarf« hinwegtäuschen. Wie bereits die »Sonderschulbedürftigkeit« bleibt auch der Begriff des Förderbedarfs eher vage und konturlos, was eine valide und exakte Diagnostik unmöglich macht. In diesem Zusammenhang sind sicher auch die eingangs beklagten Unzulänglichkeiten bei der Erstellung sonderpädagogischer Fördergutachten zu sehen und zu relativieren.
Mittlerweile folgt dem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf ebenfalls in Anlehnung an den aus anderen europäischen Ländern bekannten »Individual Education Plan« (IEP) zwangsläufig ein Förder- oder individueller Entwicklungsplan, der die Ausgangslage oder den Ist-Zustand mit intrapersonalen und externen Ressourcen beschreibt sowie Förder- und Entwicklungsziele, also den Soll-Zustand, festlegt und die entsprechenden pädagogischen Maßnahmen und Methoden so operationalisiert, dass diese in bestimmten Abständen evaluiert werden können (Kretschmann & Arnold 1999; Bundschuh, Scholz & Reiter 2007; Melzer 2010; Bundschuh 2015).
Für Kretschmann (2003) verhindern Förderpläne eher kurzfristige und reaktive Fördermaßnahmen und unterstützen das Verfolgen langfristiger Entwicklungsziele. Sie schaffen mehr Klarheit und Transparenz für das pädagogische Handeln und sie sind unverzichtbar im Falle multiprofessioneller und institutioneller Kooperation.