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unter der diagnostiziert wird, ergeben sich für Schuck (2000) ebenfalls zwei grundlegend unterschiedliche Aufgabenstellungen innerhalb der sonderpädagogischen Diagnostik. Eine institutionelle Orientierung führt zur prospektiven Diagnostik, die Schüler für Schulen auswählt und unter personaler Orientierung stellt sich die Aufgabe einer evaluativen Diagnostik, die schulformunabhängig optimale Förderung konzeptionalisiert.

      Von der Erarbeitung europaweit gültiger Leitlinien für eine Diagnostik in inklusiven Schulen durch die »Europäische Agentur zur Entwicklung der Sonderpädagogik« berichtet v. Knebel (2010). Neben der förderdiagnostischen Zielsetzung, die Input für die Lernprozesse zu liefern und diese zu fördern hat und individuelle Lernfortschritte fokussiert, lässt sich unter der Überschrift »von der punktuellen Statusdiagnostik zur kontinuierlichen Prozessdiagnostik« überraschenderweise auch die klassifizierende und damit selektierende Strategie entdecken, wenn es da heißt: »Es wird ausdrücklich anerkannt, dass sonderpädagogische Diagnostik von sonderpädagogischen Fachkräften durchgeführt wird und Ressourcenzuweisung begründet« (v. Knebel 2010, 243). Diese Ressourcenzuweisung kann nur so gelingen wie das bisher auch schon in integrativen Settings immer der Fall war, nämlich über die Zuschreibung entsprechender Kategorien wie Förderbedarf, Behinderung, Störung oder mittels neuer inklusiv weich gewaschener Wortakrobatik.

      3.2.2 Sonderpädagogische Diagnostik ist Förderdiagnostik

      Autoren, die das Vorhandensein unterschiedlicher Fragestellungen zugunsten der Förderdiagnostik leugnen, betrachten die Einweisungsdiagnostik als die herkömmliche Diagnostik, der die Förderdiagnostik als ein alternatives neues Konzept gegenübergestellt wird. Sie sehen im Trend von der Selektions- zur Förderdiagnostik eine Weiterentwicklung der sonderpädagogischen Diagnostik, wodurch der Eindruck entsteht, als gebe es eine »gute« und eine »schlechte« sonderpädagogische Diagnostik, eine sonderpädagogische Diagnostik, die grundsätzlich minderwertig und eine andere, die dieser in jedem Fall überlegen ist (Bundschuh 1991; 2004; Heimlich 1998; Wendeler 2000).

      Die Diskussion gerät an dieser Stelle in eine gewisse Schieflage, weil zu wenig beachtet wird, dass unterschiedliche diagnostische Fragestellungen von außen an die sonderpädagogische Diagnostik herangetragen werden. Es sind vor allem gesellschaftliche Bedingungen und Gegebenheiten, die zu den unterschiedlichen diagnostischen Fragestellungen führen. Die sonderpädagogische Diagnostik kann für diese vorhandenen Fragen nicht verantwortlich gemacht werden und sie wäre überfordert, sollte sie strukturelle Probleme, wie z. B. die hierarchische Struktur unseres Schulsystems und die damit verbundene Überbetonung des Auslese- und Leistungsprinzips, lösen. Schröder (1986) verweist mit Recht darauf, dass an die Diagnostik keine falschen Ansprüche gestellt werden dürfen und man ihr nicht anlasten könne, dass sie für Zwecke benutzt wird, die pädagogisch, psychologisch und sozial für negativ erachtet werden. Übertriebene oder zu frühe Selektion sollte man nicht auf dem ›Nebenkriegsschauplatz‹ der Diagnostik bekämpfen, sondern vor dem Hintergrund der Ergebnisse aus der Bildungsforschung und im Zusammenhang mit bildungs- und schulpolitischen Diskussionen und Entscheidungen.

      Trost (2008) bedauert, dass viele Befürworter der Förderdiagnostik die Selektions-, Platzierungs-, Auslese- und Einweisungsdiagnostik als eine rückständige und anstößige Form der sonderpädagogischen Diagnostik betrachten. Dies ist für ihn ein denkbar unglücklicher Standpunkt, »denn im sonderpädagogischen Handlungsfeld sind de facto institutionelle Fragestellungen zu beantworten und es zählt zu den selbstverständlichen Aufgaben sonderpädagogischer Diagnostik, sich mit aller Sorgfalt und Parteilichkeit für die betroffenen Menschen mit Behinderung an der bestmöglichen Absicherung institutionsbezogener Entscheidungen zu beteiligen« (Trost 2008, 170). Einen vergleichbaren Standpunkt nimmt Breitenbach (2003) ein.

      Schuck et al. (2006) stoßen bei der Analyse sonderpädagogischer Gutachten auf das Dilemma zwischen dem Anspruch einer förderungsorientierten Diagnostik und einer im Grunde immer noch selektionsorientierten Schulwirklichkeit. Sonderpädagogen sind im Rahmen der Förderdiagnostik aufgefordert, Lernprozesse zu initiieren und zu begleiten, wissen aber andererseits, dass sie in ihrem Gutachten vor allem zu einer Lernortentscheidung kommen müssen. Dieses ungünstige Zusammendenken der Platzierungs- mit Förderdiagnostik als ein diagnostischer Akt zeigt sich deshalb auch in besonderer Weise in schulrechtlichen Bestimmungen und verwaltungstechnischen Vorgaben. In den »Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland« unternimmt die Kultusministerkonferenz (1994) den Versuch, einheitliche, bundesländerübergreifende Orientierungshilfen zur schulischen Förderung von behinderten und von Behinderung bedrohten Kindern zu erstellen. Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs beinhaltet neben der Ermittlung des Förderbedarfs auch die Entscheidung über den Bildungsgang und den Förderort. Bei der Ermittlung des sonderpädagogischen Förderbedarfs sollen qualitative und quantitative Aussagen zu den erforderlichen Fördermaßnahmen getroffen werden und auf dieser Basis soll unter Einbeziehung der Erziehungsberechtigten und der vorhandenen Rahmenbedingungen eine Entscheidung über den Bildungsgang und den Förderort getroffen werden.

      Arnold (2007) sieht in der begründeten Entscheidung über den Förderbedarf bereits eine Selektionsentscheidung, da der untersuchte Schüler der Gruppe der »besonders förderbedürftigen Schüler« zugeordnet wird, die dann in die formale Selektionsentscheidung über den Förderort übergeht.

      Hofmann (1998) macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass ein Begriff von Förderdiagnostik, der unreflektiert Platzierung miteinschließt, über das Vorhandensein von Platzierung in einem hierarchischen Gesellschafts- und Bildungssystem und damit auch über das Verteilen von Bildungschancen, hinwegtäuscht. Förderdiagnostik in diesem Sinne suggeriert, dass es »eine moralisch unbedenkliche – gewissermaßen bereinigte Diagnostik geben könnte« und verleugnet zu leicht und zu schnell den existierenden, globalen gesellschaftlichen Rahmen sowie einen sich daraus ergebenden »heimlichen und unheimlichen diagnostischen Auftrag« (Hofmann 1998, 8).

      Die Diskussion zeigt, dass das Negieren unterschiedlicher Ziel- und Fragestellungen in der sonderpädagogischen Diagnostik sowie das damit verbundene unheilvolle Vermischen schulpolitischer mit theoretisch-wissenschaftlichen Überlegungen unlösbare theoretische und praktische Probleme mit sich bringt und einer präzisen begrifflichen Fassung von sonderpädagogischer Diagnostik eher zuwiderläuft.

      3.2.3 Unterscheidung: Platzierungs- und Förderungsdiagnostik

      Die Analyse der diagnostischen Zielsetzungen in der Sonderpädagogik oder Pädagogik zeigt, dass die große Mehrzahl der Autoren übereinstimmend zwei diagnostische Fragestellungen benennt: die Selektions- und Platzierungsdiagnostik sowie die Förderdiagnostik (

Tab. I.1).

      Unübersehbar ist hierbei die Parallele zu den beiden grundlegenden diagnostischen Strategien in der psychologischen Diagnostik, wobei die Selektions- und Platzierungsdiagnostik ihre Entsprechung in der Selektionsstrategie oder Statusdiagnostik und die Förderungsdiagnostik oder Lernprozessdiagnostik ihre in der Modifikationsstrategie oder Prozessdiagnostik findet. Auch die weiteren Ausdifferenzierungen wie deskriptive Diagnostik oder Diagnostik zur Beurteilung von Entwicklung und zum Erkennen von Lernstörungen oder Lernbegabungen können recht gut der Statusdiagnostik zugerechnet werden und Normalisierungsdiagnostik und die Diagnostik zur Schulentwicklung zielen auf eine Bedingungsmodifikation, die neben der Verhaltensmodifikation die Modifikationsstrategie ausmacht und entsprechende Veränderungsprozesse bewirken will.

      In der neueren Fachliteratur tauchen diese beiden grundlegenden diagnostischen Strategien als formative und summative Diagnostik auf, wobei die summative Diagnostik wie die Statusdiagnostik eher eine Leistungsbeurteilung vornimmt, während die formative Diagnostik auf die Analyse und Veränderung von Lernprozessen abzielt (Maier 2014).

      Ein klares Bild von den Aufgaben und Zielen der sonderpädagogischen Diagnostik entsteht somit nur, wenn die Förderdiagnostik von der Platzierungs- und Selektionsdiagnostik qualitativ unterschieden und abgegrenzt wird. Diese beiden grundsätzlich verschiedenen Zielsetzungen und Strategien erfordern ein unterschiedliches

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