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Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik. Erwin Breitenbach
Читать онлайн.Название Psychologie in der Heil- und Sonderpädagogik
Год выпуска 0
isbn 9783170362161
Автор произведения Erwin Breitenbach
Жанр Документальная литература
Издательство Bookwire
Mit Blick auf die aktuelle Praxis äußert sich Schuck (2003) kritisch zu den Förderplänen und befürchtet, dass diese zu einem neuen Lehr-Lern-Kurzschluss und der irrigen Überzeugung führen, dass die zu Fördernden die wünschenswerten und geplanten Veränderungen dann vollziehen, »wenn nur die Lernziele fein genug operationalisiert sind, ihnen eine zeitliche Perspektive mitgegeben wird, Angaben zu notwendigen pädagogischen Aktivitäten gemacht werden, Vereinbarungen zu Strategien der Evaluation getroffen sind usw.« (Schuck 2003, 63). Der Begriff der Förderung könnte auf diese Weise sehr schnell zu einem technokratischen Beheben diagnostizierter Leistungs- und Verhaltensprobleme reduziert werden, und der Förderplan gibt dann lediglich darüber Auskunft, mit welcher Technologie und in welchem Zeitraum welche Verhaltensänderungen oder Lernleistungen bewirkt werden oder bewirkt werden sollen. Eine gelungene Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile von Förderplänen bieten Müller et al. (2017).
4.2 Bestimmungsstücke der Förderdiagnostik
Wie bereits erwähnt, ist eine scharfe Trennung von psychologischer Diagnostik und sonderpädagogischer Diagnostik nicht möglich und eine weitere Charakterisierung der Förderdiagnostik, die über eine Spezifizierung als diagnostische Strategie und Zielsetzung hinausgeht, offensichtlich nur schwer möglich. Das Vorhandensein spezifischer förderdiagnostischer Methoden wird angezweifelt (Hofmann 2003), der Anspruch, von einem Ist-Zustand nächste Förderschritte ableiten zu können, als naturalistischer Fehlschluss betrachtet (Schlee 1985a) und das Fehlen klarer, empirisch validierter Konzepte wird beklagt (Moser & v. Stechow 2005).
Dennoch scheint es notwendig und möglich, einzelne Bestimmungsstücke der Förderdiagnostik herauszuarbeiten und zu benennen ohne den Anspruch zu erheben, diese Aspekte seien förderdiagnostisch spezifisch, sondern es handelt sich hierbei um Merkmale, die im Zusammenhang mit der förderdiagnostischen Strategie von besonderer Bedeutsamkeit sind und die die Praxis der förderdiagnostischen Arbeit treffend beschreiben.
Die Analyse der einschlägigen Fachliteratur (
Tab. I.4) legt folgende Bestimmungsstücke nahe:• Lernprozesse analysieren,
• die Situation, den Kontext einbeziehen,
• Diagnose und Förderung konsequent miteinander verknüpfen,
• vorgeordnete Theorien und Wertvorstellungen mitdenken und
• sich an den Kompetenzen orientieren.
Tab. I.4: Bestimmungsstücke der Förderdiagnostik in der Fachliteratur
Lernprozesse analysierenSituation, Kontext einbeziehenDiagnose und Förderung verknüpfenvorgeordnete Theorien und Werte mitdenkenan Kompetenzen orientieren
Eigene Darstellung
In der Definition von Mutzeck und Melzer (2007) sind die zentralen und von fast allen Autoren geteilten Bestimmungsstücke der Förderdiagnostik zusammengefasst:
• Zusammenschau von Unterricht, Förderung bzw. Therapie und Diagnostik
• unter Einbeziehung ideeller Faktoren (Werte, Ziele, Konzeptionen) und
• unter Einbeziehung realer Bedingungen (Person-Umfeld-Diagnostik).
4.2.1 Lernprozesse analysieren
Um Unterschiede im Lernen, in den Lernprozessen nicht nur zu erfassen, sondern um sie vor allem auch zu erklären und zu bewerten, bedient sich die Diagnostik traditionell dreier unterschiedlicher Bezugssysteme. Im normorientierten Bezugssystem wird das individuelle Verhalten, die individuelle Leistung in Beziehung gesetzt zum Verhalten und zur Leistung einer Bezugsgruppe wie z. B. zur Gruppe der Gleichaltrigen. Die lernzielorientierte Norm fragt danach, ob ein Lernziel erreicht ist oder nicht und die strukturorientierte bzw. entwicklungsorientierte Diagnostik untersucht, wie weit ein Subjekt bereits im Erwerbsprozess vorangeschritten ist, welche Lernschritte bereits vollzogen und welche noch zu bewältigen sind.
Um den Entwicklungs- oder Lernstand im Sinne einer eher bewertenden Statusdiagnostik zu erheben und mit diesen Erkenntnissen Platzierungsfragen zu beantworten, bedient sich der Diagnostiker des normorientierten und lernzielorientierten Bezugssystems, während eine Analyse des Lernprozesses, des Lernens eher unter Verwendung des struktur- bzw. entwicklungsorientierten Bezugssystems gelingt. Eine normorientierte Diagnostik informiert z. B. lediglich darüber, ob ein Schüler ein leistungsschwacher, ein durchschnittlicher oder ein ausgezeichneter Rechner, Leser oder Rechtschreiber ist. Bei der struktur- oder entwicklungsorientierten Diagnostik greift der Diagnostiker auf Erwerbsprozessmodelle zurück und stellt mit ihrer Hilfe fest, wie weit der Schüler bereits in den Lernstoff eingedrungen ist und kann sich gleichzeitig aus diesen Modellen ableiten, welche nächsten Schritte in der Förderung zu gehen sind.
Die Förderdiagnostik zielt ausschließlich auf die Analyse des Lernens, auf die Analyse der Lern-, Entwicklungs- und Erwerbsprozesse unter Zuhilfenahme von struktur- bzw. entwicklungsorientierten Bezugssystemen, um die subjektiven Lernvoraussetzungen von Lernenden mit den objektiven Lernanforderungen des Zieles abzustimmen und so Über- oder Unterforderung möglichst zu vermeiden. Nur durch eine genaue Diagnose des aktuellen Lernstandes und der aktuellen Lernbedingungen sind gezielte Hilfen für eine Förderung möglich. Solche Lernprozessdiagnostik bedient sich vorwiegend entsprechender Aufgabensammlungen oder Kompetenzinventare, die jeweils der entsprechenden Entwicklungslogik folgen und das jeweilige Erwerbsprozessmodell abbilden. Wenn Diagnostiker den Fehler schätzen, weil er auf das Fehlende verweist, so können qualitative Fehleranalysen in Verbindung mit dem entsprechenden Erwerbsprozessmodell ebenfalls Auskunft geben über erfolgte und noch ausstehende Lernschritte. Ausführlichere Erläuterungen und Informationen dazu finden sich z. B. bei Grissemann (1998), Kornmann (1998), Kretschmann (2006a) und im Kapitel zu den diagnostischen Methoden.
Breitenbach (2003) weist darauf hin, dass Förderdiagnostik als Lernprozessdiagnostik nicht bei der Bestimmung des Lernstandes und der nächsten Lernschritte stehen bleiben darf, sondern darüber hinaus auch aufdecken muss, auf welche Art und Weise ein Kind lernt oder anders formuliert, welche Hilfen dieses Kind braucht, um die nächsten Lern- und Entwicklungsschritte gehen zu können. Auf der Basis der entwicklungspsychologischen Theorie von Wygotski (2002) lässt sich dieser Aspekt der Lernprozessanalyse recht gut beschreiben. Im Zentrum der Theorie steht die Zone proximaler Entwicklung. Sie wird einerseits begrenzt durch den aktuellen Entwicklungsstand, der gekennzeichnet ist durch Leistungen, die ein Kind ohne jegliche Hilfe erbringt. Am anderen Ende der Zone proximaler Entwicklung befindet sich der potenzielle Entwicklungsstand. Kennzeichnend für ihn sind Leistungen, die einem Kind mithilfe einer kompetenteren Person möglich werden (
Abb. I.6).Abb. I.6: Darstellung der Zone proximaler Entwicklung nach Wygotski (aus: Breitenbach, E. (2003): Förderdiagnostik. Theoretische Grundlagen und Konsequenzen für die Praxis. Würzburg: edition bentheim, 52)
Mit seinem Bericht über die Untersuchung eines geistig behinderten Zwillingspaares verdeutlicht Wygotski (2002) das hier Gemeinte und zeigt die Bedeutung der Lernprozessdiagnostik. Beiden Kindern legte er die gleichen Aufgaben vor und beide lösten selbstständig dieselbe Anzahl von Aufgaben. Hätte er die Diagnostik an diesem Punkt beendet, wäre er zu der Aussage gelangt, beide Kinder seien gleich entwickelt, verfügten über die gleichen Fähigkeiten und Lernvoraussetzungen. Im weiteren Untersuchungsverlauf