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Daraufhin löste das eine Kind zwei weitere Aufgaben und das andere vier. Er zog daraus den Schluss, dass diese beiden Kinder eben nicht gleich entwickelt waren, sondern sich deutlich in ihrer Lernfähigkeit voneinander unterschieden. Diese Unterschiedlichkeit bezieht sich auf das, was sie mit bestimmten Hilfen als nächstes lernen können, auf ihre Lernmöglichkeiten unter bestimmten Lernbedingungen.

      Förderdiagnostik bleibt nicht beim Erfassen des aktuellen Entwicklungsstandes stehen, sondern sucht den potenziellen, indem auch Aufgaben vorgelegt werden, die das Kind nicht alleine, sondern nur mit individuellen Lernhilfen bewältigen kann, die wiederum mit der Methode der systematischen Aufgabenvariation zu finden sind (

Kap. I.6.6.4). Damit wird der Prozess des Lernens sichtbar und analysierbar und die auf diese Art gefundenen individuellen Lernhilfen stellen die immer wieder geforderte enge Verknüpfung von Diagnostik und Förderung perfekt her. Es ist Förderdiagnostik im wahrsten Sinne des Wortes, da das Untersuchungsergebnis über das Erfassen des potenziellen Entwicklungsstandes die nächsten oder potenziellen Lernschritte beschreibt und gleichzeitig wichtige Hinweise gibt, mit welchen Hilfen, mit welcher Unterstützung diese von einem Kind erreicht werden können.

      Förderdiagnostische Lernprozessdiagnostik muss nach Schuck (2004a) aus psychodynamischer Sicht einen weiteren Aspekt berücksichtigen. Lernende müssen ihr Lernen als Mittel zur Erweiterung ihrer Handlungsfähigkeit auffassen oder wie Kornmann (2010) es formuliert: Sie müssen eine Sinnhaftigkeit in ihrer Lerntätigkeit erkennen und die Einsicht in die Bedeutung des Lerngegenstandes gewinnen, um einen Zugang zu den entwicklungsförderlichen Lernangeboten zu finden. Lernmotivation und die emotionale Einstellung zum Lerngegenstand sind auch für Kretschmann (2006a) wichtige, das Lernen mitbestimmende Faktoren und sollten deshalb in einer Lernprozessanalyse einen festen Platz besitzen.

      Zum Abschluss sei noch mit Kornmann (2010) darauf hingewiesen, dass der Lernprozessdiagnostik im Rahmen einer inklusiv orientierten pädagogischen Praxis eine besondere Bedeutung zukommt. Es müssen hier zwar keine Kinder mehr unter der Fragestellung untersucht werden, ob sie in eine Lerngruppe passen oder nicht, aber aufgrund der großen Heterogenität der Kinder sind sowohl Kenntnisse über deren Lernvoraussetzungen als auch Informationen über deren Lernfortschritte z. B. für die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts unerlässlich. Auch Ziemen (2016) betrachtet den Vergleich des aktuellen Entwicklungsstandes mit dem potentiellen als ein wesentliches Bestimmungsstück der inklusiven Diagnostik.

      Seit vielen Jahren gehen alle, die sich mit Förderdiagnostik auseinandersetzen, selbstverständlich davon aus, dass diese als eine Kind-Umfeld-Diagnostik zu verstehen ist und deshalb wird Verhalten und Lernen immer im sozialen und situativen Kontext gesehen. Vor allen Dingen Sander (1998) kritisierte eine einseitig kindzentrierte Förderdiagnostik und forderte einen wesentlich breiteren diagnostischen Ansatz, der in der Kind-Umfeld-Analyse zu finden sei. Diese Kind-Umfeld-Analyse hat inzwischen in die schulrechtlichen Vorschriften aller deutschen Bundesländer zur sonderpädagogischen Förderung Einzug gehalten und auch die Kultusministerkonferenz spricht sich in ihren »Empfehlungen zur sonderpädagogischen Förderung in den Schulen in der Bundesrepublik Deutschland« von 1994 für eine solche Kind-Umfeld-Analyse aus.

      Nach Sander (1998) erfasst die Kind-Umfeld-Analyse möglichst alle relevanten personellen und materiellen Gegebenheiten im Umfeld eines Kindes. Sie stellt nicht das Kind isoliert in den Mittelpunkt der diagnostischen Bemühungen, sondern erweitert vielmehr den Blick auf das Zusammenspiel von Person und materialen Bedingungen, die durch das System, in dem ein Kind lebt, gegeben sind. Kretschmann (2006b) differenziert den Kontext in schulisches und häusliches Umfeld sowie in Gleichaltrige und andere Lebensbereiche. Zum schulischen Umfeld zählen aktuelle schulische Bedingungen, die die Entwicklung des Kindes behindern oder gefährden oder für die Entwicklung des Kindes besonders förderlich sind sowie die schulische Lerngeschichte und Entwicklung. Analog besteht das häusliche Umfeld aus aktuellen häuslichen Bedingungen, die die Entwicklung des Kindes behindern oder gefährden oder für die Entwicklung des Kindes besonders förderlich sind sowie die Entwicklung der Familienverhältnisse und der häuslichen Lebensumstände. Gleiches gilt auch für die weiteren Bedingungen und Lebensumstände.

      Zur näheren und spezifischen Beschreibung dessen, was unter Situation und Umfeld zu verstehen ist, finden sich jedoch keine befriedigenden und praxisrelevanten Hinweise. Meist sammeln Diagnostiker vor allem im Rahmen der Anamnese, einem mehr oder weniger standardisierten Fragebogenschema folgend, Informationen über das engere und weitere Umfeld eines Kindes, ohne für die erhobenen Fakten einen sachlichen Zusammenhang zum Problemverhalten oder der Fragestellung angeben zu können. Die zwangsläufige Folge davon ist, dass diese Informationen auch nicht zum Verstehen der vorliegenden Lern- und Entwicklungsproblematik genutzt werden können.

      Zur Bestimmung der Lernsituation und damit zum Finden bedeutsamer Informationen aus der Lebensumwelt eines Kindes kann das Konzept des Lebensraums von Lewin (1969) herangezogen werden. Der Lebensraum besteht aus der psychologischen Person und der psychologischen Umwelt (

Abb. I.7).

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      Die psychologische Umwelt eines Individuums enthält nur Gegebenheiten, die für das Individuum gegenwärtig von Bedeutung sind. Physikalische, soziale oder begriffliche Fakten zählen zum Lebensraum nur insofern, als sie sich für eine individuelle Person in ihrem momentanen Zustand als wirksam erweisen. Sie existieren nicht als objektive Fakten, sondern stellen sich so dar, wie sie vom Individuum verstanden und erlebt werden. Der Lebensraum ist nicht räumlich-zeitlich zu verstehen, sondern ist im Wesentlichen von psychologischer Natur.

      Des Weiteren ist der Lebensraum der Inbegriff des Möglichen. Nicht die unterschiedlichen Fakten als solche sind im Erleben eines Individuums bedeutsam, sondern eher deren funktionelle Möglichkeiten. Im Lebensraum eines Kindes existieren so z. B. Erwachsene, die freundlich sind oder streng, Räume, die das Zusammensein mit Menschen ermöglichen und andere, an denen man vor dem Zugriff Erwachsener sicher ist. Manche Dinge reizen zum Essen, andere zum Klettern. Ein Stuhl existiert im Lebensraum nicht als Stuhl, sondern als etwas, worauf man sich setzen kann, wenn man müde ist, oder als etwas worauf man sich knien kann, wenn man als kleines Kind aus dem Fenster schauen möchte. Ein physikalisches, soziales oder begriffliches Faktum kann sogar für ein und dasselbe Kind in verschiedenen Bedürfnislagen und Situationen eine unterschiedliche psychologische Bedeutung besitzen. Ob etwas zum Essen reizt oder nicht, hängt auch davon ab, ob das Kind hungrig oder satt ist. Ein Kind hält sich an eine Regel oder nicht, je nachdem, ob die Erzieherin anwesend ist oder nicht. Lewin (1969) bezeichnet die Fakten des Lebensraums deshalb auch als quasi-physikalisch, quasi-sozial und quasi-begrifflich.

      Er unterscheidet bei der Analyse und Vorhersage von Verhalten zwischen der Lebens- und der Momentsituation. Ein Kind sitzt so z. B. in der Schule und soll Rechenaufgaben lösen. Einige Mitschüler, darunter auch der Banknachbar, sind mit ihren Rechenaufgaben längst fertig und dürfen malen. Das Kind schaut immer wieder zu den malenden Mitschülern und lässt sich von seinen Rechenaufgaben ablenken. Der Lehrer wird immer ungeduldiger und fordert das Kind wiederholt auf, zügiger zu arbeiten. Das Kind ärgert sich. Dies wären einige Daten über die Momentsituation dieses Schülers. Über seine Lebenssituation ließe sich vielleicht sagen, dass er noch einen zwei Jahre älteren Bruder hat. Die Mutter ist alleinerziehend, arbeitet und hat wenig Zeit für die beiden Buben. Momentan ist sie besonders angespannt und schimpft bei jeder Kleinigkeit. Am Morgen hat sie sogar damit gedroht, die beiden Buben ins Am zu geben. Dass Lebens- und Momentsituation eng miteinander verknüpft sind, ist für Lewin (1969) offensichtlich. In obigem Beispiel kann die Lebenssituation einen

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