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nicht mehr mit Lust und Freude verbunden werden. Wo Aufgaben und Anstrengungen fehlen, gibt es keine echten Erfolgserlebnisse mehr und die notwendige Dynamik in der Lust-Unlust-Regulation kann sich nicht entwickeln: Es entsteht Langeweile (vgl. Graichen 1993).

      Rauschenberger (1967), der der didaktisch bedeutsamen Frage nachgeht, wie denn Interesse oder Lernmotivation entsteht, kommt zu dem Schluss, dass der Lehrer, um beim Schüler einen Lernprozess in Gang setzen zu können, diesem zeigen muss, was er innerhalb seines Wissens und Könnens eben noch nicht weiß und noch nicht kann. »Denn nicht das Nicht-Wissen schafft das Interesse, sondern dies, dass im Geflecht des Wissens eine Stelle als Nicht-Wissen bekannt gemacht wird« (Rauschenberger 1967, 68 f.). Der erste didaktische Schritt beim Lehren und Fördern besteht somit im gleichzeitigen Aufdecken von Können und Nicht-Können.

      Persönlichkeitstheorien vor allem aus dem Bereich der humanistischen Psychologie verweisen darauf, dass psychische Gesundheit oder psychische Anpassung im Gegensatz zur psychischen Fehlanpassung dadurch gekennzeichnet ist, dass als Stärken und als Schwächen bewertete Persönlichkeitsanteile in gleicher Weise wahrgenommen und ins Selbstkonzept integriert werden können (Rogers 2000; Adler 1927).

      Der Aufruf, von den Stärken auszugehen, kann aus verschiedenen Perspektiven betrachtet auf keinen Fall als Hinweis verstanden werden, förderdiagnostisch nur oder vor allem nach den Stärken der Kinder zu suchen und ihre Schwächen zu ignorieren oder gar ihre Schwächen in Stärken umzudeuten. Ein zentrales didaktisches Element, das Schaffen von Lernmotivation, fehlte beim Lehren, das Empfinden von Freude und Lust nach einem durch Anstrengung erzielten Erfolg käme nicht zustande und ein einseitiges ständiges Loben würde den Kindern ein unrealistisches Bild von sich selbst vermitteln und damit ihre Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen. Nur unter gleichzeitiger Berücksichtigung von Stärken und Schwächen, Können und Nicht-Können ist eine hilfreiche und dem Leistungs- und Lernvermögen angemessene Förderung und Erziehung möglich.

      Mit dem Hinweis, an den Stärken anzusetzen, könnte jedoch durchaus eine bedeutsame Förderstrategie ins Blickfeld rücken, die mit dem Begriff der Kompensation umschrieben wird. Schwächen werden ausgeglichen, indem man vorhandene Stärken berücksichtigt oder benutzt. Für die Förderdiagnostik bedeutet dies, dass der Diagnostiker im Fall des Nicht-lösen-Könnens einer Aufgabe mit der entsprechenden Person nach Bedingungen sucht, unter denen die gestellte Aufgabe trotz der offensichtlich vorliegenden Schwäche bewältigt werden kann. Diese förderdiagnostisch hilfreiche Suche nach ausgleichenden Hilfestellungen wurde bereits im Kapitel zur Lernprozessdiagnostik als Methode zum Auffinden des potenziellen Entwicklungsstandes beschrieben. Auf solche Weise gefundene Kompensationsmöglichkeiten können meist effektiv bei der individuellen Gestaltung von Fördermaßnahmen oder neuen Lehrangeboten helfen. In der Förderdiagnostik kann es nicht darum gehen, grundsätzlich aufzuzeigen, dass ein Mensch über Kompetenzen verfügt, was selbstverständlich immer der Fall ist. Entscheidend ist, ob diejenigen Kompetenzen vorhanden sind, die zur Bewältigung der momentanen Lern- und Lebenssituation erforderlich sind.

      4.3 Zusammenfassung

      Trotz grundlegender theoretischer Mängel und fehlender empirischer Validität fand das Konzept der Förderdiagnostik in der Sonderpädagogik eine weite Verbreitung. Immer wieder wurde versucht, das Charakteristische und Typische der Förderdiagnostik herauszuarbeiten, ohne dass eine zufriedenstellende Abgrenzung jedoch bisher gelungen wäre. Dennoch lassen sich in der einschlägigen Fachliteratur Bestimmungsstücke ausmachen, die von vielen Autoren mit dem Konzept der Förderdiagnostik in Verbindung gebracht werden und die offensichtlich für das sonderpädagogische Denken und Handeln zentrale Aspekte zum Ausdruck bringen:

      • Förderdiagnostik analysiert Lernprozesse und stellt unter Zuhilfenahme von struktur- und entwicklungsorientierten Bezugstheorien fest, wie weit ein Lernender bereits in das zu Lernende eingedrungen ist und welche nächsten Lernschritte mit welchen Hilfestellungen zu gehen sind. Eine solide theoretische Grundlegung für dieses Durchschreiten der Zone der proximalen Entwicklung findet sich in der entwicklungspsychologischen Theorie von Wygotski (2002).

      • Förderdiagnostik geht davon aus, dass jegliches Verhalten kontextabhängig ist und bezieht deshalb das gesamte Umfeld in die Analyse mit ein. Als problematisch vor allem in der Praxis erweist sich jedoch das Bestimmen relevanter spezifischer Umweltbedingungen im Zusammenhang mit bestimmten Verhaltens- und Erlebensweisen. Kurt Lewin (1969) beschreibt in seinem Konzept des Lebensraumes, der ein psychologisch-funktionaler ist, wie eine nähere Beschreibung dessen, was im konkreten Fall unter Situation und Umfeld zu verstehen ist, durch die Übernahme der Perspektive der Lernenden gelingen kann.

      • Die konsequente Verknüpfung von Diagnose und Förderung ist nicht zu verstehen als direktes Ableiten der Förderziele aus vorliegenden diagnostischen Daten, sondern als das Erfassen der Lernausgangslage, die zusammen mit Theorien über Lernen, über Entwicklungsverläufe und Störungsbilder sowie über entsprechende Präventions- und Interventionskonzepte den Förderdiagnostiker in die Lage versetzt, Hypothesen zur Beschreibung förderlicher und hemmender Entwicklungs- und Lernbedingungen aufzustellen, nächste Förderziele und mögliche Maßnahmen zum Erreichen dieser Ziele zu benennen. Förderdiagnostik ist ein zyklischer hypothesengenerierender und hypothesenprüfender Prozess, der seinen Ausgang in einer Bestandsaufnahme nimmt, um ein Förderkonzept und einen Förderplan zu entwickeln sowie dessen Umsetzung zu begleiten und zu evaluieren.

      • Förderdiagnostik muss somit immer pädagogischen, didaktischen und psychologischen Theorien nachgeordnet gedacht werden. Nur mit Bezugnahme auf solche vorgeordneten Theorien ist es möglich, im Verlauf des förderdiagnostischen Prozesses vorliegende Lernprobleme zu verstehen und weiterführende Fördermöglichkeiten zu finden.

      • Förderdiagnostik erfasst und berücksichtigt gleichermaßen Stärken und Schwächen, da sich beide gegenseitig bedingen und gemeinsam die Individualität einer Person ausmachen. Förderdiagnostisch aussagekräftige Informationen ergeben sich an dem Punkt, wo Können in Nicht-Können übergeht. Stärken erhalten dann eine besondere Bedeutung, wenn sie als Kompensationsmöglichkeiten zur Bewältigung spezifischer Situationen eingesetzt werden können.

      Die Förderdiagnostik ist als Modifikationsstrategie in Abhebung zur Selektions- oder Platzierungsdiagnostik zu verstehen.

      5 Selektions- oder Platzierungsdiagnostik

      5.1 Inhalte und Aufgaben

      Fragen der Selektion und Platzierung, die der Logik einer normorientierten, klassifizierenden und taxonomischen Statusdiagnostik folgen, sollen nach Kany und Schöler (2009) zu Informationen darüber führen,

      • ob ein Kind altersgemäß entwickelt ist,

      • ob die Entwicklung synchron verläuft, d. h., ob Leistungs-, Persönlichkeits- sowie sozialemotionale Entwicklung im Einklang verlaufen,

      • ob ein Verdacht auf eine Störung in einem der Entwicklungsbereiche vorliegt und

      • wie die Aussichten für die weitere Entwicklung sind.

      Erfasst wird der aktuelle Status einer Person in verschiedenen Leistungs- und Persönlichkeitsbereichen, indem man sich, so Trost (2008), methodisch vor allem auf psychologisches Tests oder andere standardisierte psychometrische Verfahren stützt, die dann auch die gewünschten inter- und intraindividuellen Vergleiche zulassen.

      Die Leistungsdiagnostik ist nach wie vor durch die Intelligenztests geprägt, obwohl mittlerweile auch spezielle Leistungstest z. B. zur Messung der Aufmerksamkeit und Konzentration oder unterschiedlicher Gedächtnisfunktionen existieren.

      Ebenfalls zur Leistungsdiagnostik zählen nach Kubinger (2009) die Entwicklungs- und Eignungsdiagnostik mit entsprechenden psychometrischen Verfahren. Entwicklungstests bilden eine Untergruppe der Leistungstests, die sich auf das Säuglings-, Kleinkind- oder Vorschulalter beziehen und entwicklungsrelevante Bereiche wie Lernen und Gedächtnis, visuelle Wahrnehmung, Sprache, Motorik usw. erfassen. Eignungstests bestimmen die Fähigkeiten und die Motivation einer Person, bestimmten beruflichen oder ausbildungsbezogenen Anforderungen und Erwartungen zu genügen. Für Kubinger (2009) geht es auch darum, ob

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