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der Fragstellung oder Zielbestimmung wirken sich zwangsläufig ungünstig auf die Validität der Aussagen am Ende des diagnostischen Prozesses aus.

      Nach der Präzisierung ist die Fragestellung in eine oder mehrere Hypothesen zu übersetzen, d. h., in psychologisch begründete und theoretisch fundierte Annahmen über das Zustandekommen des Problems, zur Erklärung oder Prognose eines Phänomens und damit auch darüber, welche Zustände oder Merkmale erfasst werden sollen. Diese Hypothesen werden dann im Lauf des diagnostischen Prozesses durch die Untersuchungsergebnisse bestätigt oder entkräftet.

      Sind die Hypothesen formuliert, gilt es konkrete diagnostische Daten zu gewinnen. Hilfreich für das Bestimmen der Vorgehensweise und für die Auswahl adäquater Verfahren und Methoden ist eine gut operationalisierte und präzisierte Fragestellung. An die Planung des diagnostischen Vorgehens (wer, wann, wo, bei wem welche Daten erhebt) schließt sich dann die Durchführung der Untersuchung mit der Auswertung der Daten an. Die fach- und sachgerechte Deutung der Daten macht aus ihnen diagnostische Ergebnisse und führt zur Prüfung der bisher generierten Hypothesen. Eine nicht zufriedenstellende Hypothesenabsicherung ist in der Regel der Ausgangspunkt für das Entwickeln neuer Fragestellungen und das Aufstellen weiterer, zusätzlicher Hypothesen.

      In das diagnostische Urteil werden alle vorliegenden diagnostischen Informationen bezugnehmend auf die Ausgangsfrage integriert und diese Datenintegration mündet ein in eine Diagnose oder Prognose, die als geprüfte Hypothese anzusehen ist. Wird der diagnostische Prozess nicht durch eine Intervention fortgeführt, findet er in der Regel durch ein psychologisches Gutachten sein Ende. Andernfalls stehen Entscheidungen über Indikation sowie Interventionsplanung an und die Beratung, Förderung oder Therapie wird diagnostisch im Sinne einer Verlaufs- und Erfolgskontrolle weiter begleitet.

      Als Randbedingungen des diagnostischen Prozesses diskutiert Jäger (2006) allgemein-ethische oder berufsethische, rechtliche, gesellschaftliche und methodische Fragen, die vom jeweiligen Diagnostiker mitbedacht und beantwortet werden müssen:

      • Genügt der Diagnostiker in seinem Vorgehen wissenschaftlichen Kriterien? Wo wurde eine Fragestellung angegangen, die mit den derzeitigen diagnostischen Möglichkeiten nicht gelöst werden kann?

      Abb. I.3: Ablaufmodell des diagnostischen Prozesses (eigene Darstellung)

      • Darf der Diagnostiker unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen die notwendige und gewünschte Diagnostik vornehmen und besitzt er vor allem die Kompetenzen, um den diagnostischen Prozess regelgerecht durchzuführen?

      • Inwieweit betrifft die individuelle Diagnose andere Personen, Personengruppen oder Institutionen und wer zieht welchen Nutzen aus ihr?

      • Wie wirkt sich die Auswahl und vor allem die Qualität des eingesetzten Instrumentariums auf die Qualität der Hypothesenprüfung aus?

      Da die Psychodiagnostik als methodische Disziplin im Dienste der Anwendung betrachtet wird und damit häufig der Vorbereitung und Fundierung praxisbezogener Entscheidungen dient, folgt die Diagnostik, so Pospeschill und Spinath (2009), weniger einem kausalen als vielmehr einem finalen Denkmodell. Geht es vor allem um die Veränderung von Personen, Situationen oder unerwünschten Zuständen, werden die im Zuge des diagnostischen Prozesses erhobenen Informationen nicht als Ursachen, sondern als Indikatoren für die Auswahl aus Alternativen verwendet. Es wird somit eben nicht nur festgestellt, was gegenwärtig ist, sondern vor allem auch, was in der Zukunft geschehen soll.

      2.4 Normgerechte Beurteilung

      Diagnostizieren heißt immer kategorisieren, klassifizieren und vergleichen und somit liegen jeglicher Diagnostik Vergleichsmaßstäbe oder Normen zugrunde. Das Ergebnis einer testpsychologischen Untersuchung ausgedrückt in Rohwerten oder in der Anzahl gelöster Aufgaben ist beispielsweise aus sich heraus nicht interpretierbar, sondern wird erst durch die Einordnung in ein Bezugssystem aussagekräftig. Als Bezugssysteme stehen grundsätzlich drei Möglichkeiten zur Verfügung:

      1. Statistische, soziale oder interindividuelle Norm

      Die erbrachte Leistung wird hier verglichen mit einer Norm- oder Referenzpopulation, die z. B. aus einer Gruppe von Gleichaltrigen oder aus Schülern der gleichen Klassenstufe besteht.

      2. Intraindividuelle oder Individualnorm

      Der Bezugspunkt für die zu beurteilende Leistung einer Person ist deren frühere Leistung oder eine Leistung in anderen Bereichen. Wird z. B. der momentane Entwicklungs- oder Leistungsstand zu einem früheren in Beziehung gesetzt, kann der individuelle Lernzuwachs eines Schülers bestimmt werden, oder über den Vergleich zweier Leistungen ein und derselben Person in zwei unterschiedlichen Lern- und Entwicklungsbereichen treten vorhandene individuelle Stärken und Schwächen dieser Person zutage.

      3. Kriteriumsorientierte oder Sachnorm

      Als Kriterium fungieren oft Lernziele, Bildungsstandards, Erwartungsprofile oder regelrechte Entwicklungsverläufe. Über den Vergleich der Leistung eines Schülers mit den Anforderungen, die in einem Lernziel formuliert sind, wird z. B. festgestellt, inwieweit dieses Lernziel vom Schüler bereits erreicht ist (vgl. Kany & Schöler 2009; Paradies, Linser & Greving 2007; Rentzsch & Schütz 2009).

      2.5 Diagnostische Methoden

      Komplexe Fragestellungen, wie z. B. die nach dem Vorhandensein einer Dyslexie oder die nach der angemessenen Schullaufbahn, lassen sich nicht mit einem Verfahren, einer Methode beantworten. Die Auswahl der notwendigen Verfahren und Methoden richtet sich wiederum nach der spezifischen Fragestellung, die Anlass und Ausgangspunkt für das diagnostische Handeln war.

      Amelang und Schmidt-Atzert (2012) unterteilen die diagnostischen Methoden in Leistungstests (Aufmerksamkeits- und Konzentrationstests, Intelligenztests, spezielle Fähigkeitstests, Entwicklungstests und Schultests), Persönlichkeitsfragebogen, nicht sprachliche und objektive Persönlichkeitstests, projektive Verfahren, Verhaltensbeobachtung, diagnostisches Interview und Gruppendiagnostik (Paardiagnostik, Familien- und Teamdiagnostik). Kubinger (2009) nennt zusätzlich noch

      • Anamneseerhebung, in der die Vorgeschichte der untersuchten Person erfragt wird,

      • Exploration, als das Erkunden bestimmter Sachverhalte und Stimmungen mittels Gesprächsführung,

      • biografisches Inventar, das nach überprüfbaren Informationen aus der Lebensgeschichte fragt, die einen Einblick in die künftige in erster Linie leistungsbezogene Zukunft versprechen,

      • Assessmentcenter, das die Qualität der Bewältigungsversuche einer Person bei berufsrelevanten Anforderungen erfasst und die

      • Arbeitsplatzanalyse, mit deren Hilfe diejenigen psychologischen Bedingungen und Voraussetzungen untersucht werden, die eine bestimmte Berufstätigkeit an den Menschen stellt.

      2.6 Ethische und rechtliche Bestimmungen

      Es existiert kein spezifisches Gesetz zu den Pflichten und Rechten des Diagnostikers und die Anwendung von Testverfahren ist nicht explizit gesetzlich geregelt. Nur ansatzweise findet sich gelegentlich eine entsprechende Regelung in einem Landesschulrecht, aber dessen ungeachtet sind eine Reihe rechtlicher oder gesetzlicher Bestimmungen im Zusammenhang mit dem Diagnostizieren relevant.

      Der Umgang mit diagnostischen Daten und Informationen unterliegt, so Rentzsch und Schütz (2009), beispielsweise der Verschwiegenheitspflicht und den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes, wonach die Daten vor dem Zugriff Dritter zu schützen sind, Daten nur mit der Einwilligung der Betroffenen oder ihrer gesetzlichen Vertreter weitergegeben werden dürfen und die Betroffenen selbstverständlich das Recht auf Einsichtnahme in die diagnostischen Daten besitzen.

      Ebenso unterliegt jeder Diagnostiker der Sorgfaltspflicht, was bedeutet, dass nur derjenige diagnostisch tätig werden darf, der eine qualifizierte Ausbildung durchlaufen hat und deshalb über die erforderlichen fachlichen Kompetenzen verfügt. Gegen die Sorgfaltspflicht

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