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als deine Mutter verbiete dir das. Und ich verbiete dir, dich in eine Geschichte mit einem Mädchen einzulassen. Damit kannst du warten, wie andere es tun, bis du trocken hinter den Ohren bist. Du musst an deine Zukunft denken, um die wir ringen, wir alle hier.«

      »Mama, hör doch mal ...«

      »Nein, jetzt hörst du mir zu! Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass du, wenn du in die Stadt zurückkehrst, irgendwo anders wohnst als bei Tante Selma. Wir wollen bei allem, was jetzt los ist, nicht vergessen, was wir ihr zu verdanken haben. Die ganzen Jahre über hast du da umsonst gewohnt. Und jetzt kommst du mir damit, wo es mal schwieriger wird, und willst die Beine in die Hand nehmen und verschwinden. Ich dachte, wir hätten dich anders erzogen, dass du ein anderes Benehmen an den Tag legen würdest, und Tante Selma würdest du damit umbringen, wenn du in ein fremdes Haus ziehst. Sie hat doch wohl schon, wie es ist, genug zu erleiden. Und wer, glaubst du, soll das bezahlen, wenn du woanders hinziehst? Wenn du es in der Frage darauf ankommen lässt, Krister, ja, wenn es hart auf hart kommt, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinem Vater gemeinsame Sache zu machen. Dann bleibst du hier.«

      »Verdammt noch mal«, sagt er und stürzt zur Tür hinaus, schlägt sie krachend hinter sich zu, dass das ganze Zimmer dröhnt.

      Bevor sie zu Bett geht, lugt sie noch einmal durch die Tür zu den Jungen hinein. Sie kennt den Atem jedes Einzelnen, kann die drei danach unterscheiden, und jetzt hört sie Kristers Atmen im Schlaf heraus. Er schläft fest mit leichten Schnarchgeräuschen, wie sie jemand von sich gibt, der lange Zeit nicht mehr richtig geschlafen hat. Er ist wieder hier, ihr Sohn, zusammen mit seinen Brüdern. Sie sind hier, alle drei.

      Heute Morgen bleibt er im Bett liegen und döst vor sich hin, irgendwie mit einem guten Gefühl. Die Frühjahrsbestellung ist im Großen und Ganzen erledigt. Gestern sind sie mit dem Kartoffelstecken fertig geworden. Genau zur richtigen Zeit, denkt er, halb zwischen Schlaf und Wachsein. Es ist hier Brauch, die Kartoffeln bis spätestens zum Vormittag des siebzehnten Mai in der Erde zu haben. Siebzehnter Mai, und er ist auf einen Schlag hellwach, die Wirklichkeit ist da, es wird ein völlig anderer Nationalfeiertag werden, als er je einen erlebt hat. Doch die Sonntagssachen hängen frisch gebügelt an der Wand, sie müssen nur noch angezogen werden. Denn obwohl es verboten ist, den Tag zu feiern, bedeutet das nicht, dass es ein ganz gewöhnlicher Tag im Ort werden wird. Was die Leute sich in ihren eigenen vier Wänden vornehmen, geht niemanden etwas an. Nicht einmal Hallgrim, der schon begonnen hat, im Selbstauftrag Polizist zu spielen und herumzuschnüffeln. In der Post und in den Geschäften hat er Plakate aufgehängt. »Jegliches Schießen und Salut sind am siebzehnten Mai verboten!« »Es ist streng verboten, sich auf Straßen und an öffentlichen Orten in angetrunkenem Zustand aufzuhalten. Vås.« Wer hat Lust, den siebzehnten Mai zu feiern, wenn das ganze Land trauert? Und woher nimmt er die Befugnis, so etwas zu verkünden?

      Nordahl Griegs Stimme erfüllt den Raum. Eine Stecknadel könnte man in der Küche auf Storvik fallen hören, so still ist es. Alle sitzen beieinander, Große und Kleine, und lauschen den Versen des Gedichts, dem Grieg den Titel »17. Mai 1940« gegeben hat.

      »In Eidsvolls Grün steht kahl der Mast,

      keine Flagge gehisst.

      Doch heute zu dieser Stunde

      wird klar, was Freiheit ist.«

      Der neue Empfänger, den sie im letzten Herbst angeschafft haben, ein funkelnagelneuer Vidor, macht es möglich, Radio Bodø, wo der Dichter liest, zu hören.

      «Wir sind nur wenige im Lande,

      gefallen Bruder und Freund ...«

      Selbst die Kinder bleiben in andachtsvoller Stille sitzen, die Erwachsenen starren zu Boden, ängstlich bemüht, ihre Gefühle nicht zu verraten.

      Nachdem der letzte Vers verklungen ist, streicht sich Jørgen mit der Hand über das Gesicht und verlässt den Raum. Draußen auf dem Hof bleibt er stehen, schaut über den Ort, der trotz des strahlenden Wetters ohne Leben ist. Heute wird, wie es immer Brauch war, der Feiertag eingehalten, es ist der wichtigste Tag im Frühling. Still liegt jetzt der Ort, wie in Trauer. Über den grünen Wiesen weht keine Fahne in dem blauen Maihimmel. Kein Festumzug, keine Feier im Jugendhaus, keine fröhlichen Kinderstimmen. Die Fahnen sind eingepackt, auf Dachböden und in Verschlägen versteckt. Wann werden sie wieder vorgeholt? Die Worte des Gedichts kommen ihm wieder in den Sinn: »In Eidsvolls Grün steht kahl der Mast ...«, und ihn fröstelt, während er über den wie ausgestorbenen Ort schaut.

      »Ach, hier bist du, Jørgen«, sagt Julie leise. Völlig unbemerkt hat sie sich ihm genähert.

      »Ja, ich weiß auch nicht, aber das war zu viel für mich.«

      »So haben wir es wohl auch empfunden, wir alle.«

      Auf Storvik wie in fast allen Familien des Ortes wird der Feiertag begangen. Der Mittagstisch ist für Groß und Klein, für alle, die sich auf dem Hof befinden, im Wohnzimmer gedeckt. Alle haben ihre Sonntagsssachen an, es gibt Kalbssteak und Torfbrombeeren zum Nachtisch. Sonntags und an Feiertagen ist es auf dem Hof Brauch, zum Mittagessen Lieder zu singen. Heute singen sie sowohl »Gott segne unser teures Vaterland« als auch »Ja, wir lieben unsre Heimat«. Sie versuchen, ihre Gefühle nicht zu zeigen, doch die zitternden Stimmen sind verräterisch. Ansonsten herrscht eine ungewöhnliche Ruhe am Tisch.

      Keiner der Jungen hat den Tag über den Hof verlassen, doch am Abend nimmt Krister das Fahrrad und sagt, er wolle einen Kameraden besuchen. Er bleibt nicht lange weg, ist stumm und verschlossen.

      »Hast du keinen Bekannten angetroffen?«, fragt Julie.

      »Doch«, sagt er, »im Jugendhaus sind einige Jugendliche des Ortes zusammengekommen und haben versucht, nach Grammophon-Musik zu tanzen.« Es seien nicht viele da gewesen, sagt er, und er selber habe sich unwohl gefühlt. Seine Abneigung sei noch verstärkt worden, als ein paar Ältere aus der Siedlung auftauchten und sagten, es sei unanständig, was die Jugendlichen hier täten.

      »An einem solchen Tage solltet ihr euch zu schade sein, ein solches Ersatzfest zu veranstalten«, haben sie zu den Jugendlichen gesagt. »Der siebzehnte Mai sollte auf diese Weise nicht beschmutzt werden.«

      »Das finde ich auch, und deshalb bin ich wieder nach Hause gekommen. Das war ein merkwürdiger Tag«, sagt Krister und fasst in Worte, was die meisten denken.

      Nachdem alle zu Bett gegangen sind, bleiben Julie und Jørgen noch alleine in der Küche sitzen.

      Jørgen fragt, ob sie mit ihm vielleicht noch einen kleinen Spaziergang machen würde. Falls sie nicht zu müde sei. Und sie gehen in die blau funkelnde Nacht hinaus. Hand in Hand schlendern sie an den frisch bestellten Feldern entlang. Betäubend die Düfte. Der würzige Geruch von Muttererde und grünenden Wiesen gemischt mit den Gerüchen nach Wasser und Meer. Oben auf den Bergen noch Schnee und über dem Ganzen liegt eine große Stille.

      »Weißt du, Julie, so sind Mann und Frau schon vor Zeiten immer gegangen, um die Äcker zu begutachten, nachdem alles in die Erde gekommen war. Das war wie ein Akt der Segnung.«

      »Jedes Mal setzt du beim Säen deinen Hut auf, Jørgen. Das rührt mich immer wieder, wenn ich es sehe. Es liegt so viel Ehrfurcht darin. Vor ihm, der uns alle lenkt.«

      »Vielleicht ist es so. Aber für mich ist es eine ganz natürliche Sache. Mein Großvater machte es so, mein Vater, so habe ich es gelernt. Ich habe wirklich nie darüber nachgedacht, dass es etwas Besonderes damit auf sich haben könnte.«

      Sie gehen zu dem flachen Stein im Gehölz am See, wo sie in der Sommerzeit sehr oft sitzen, wenn sie einmal eine Weile allein sein wollen. Er zieht seine Jacke aus, breitet sie über den Stein als Unterlage, damit ihnen nicht kalt wird. Dann bleiben sie lange nahe beieinander sitzen, er hat ihr seinen Arm um die Schulter gelegt. In der freien Hand hält er einen verdorrten Grashalm vom vergangenen Jahr, mit dem er herumspielt.

      »Vielleicht findest du, dass ich sentimental bin, Julie, aber den siebzehnten Mai so wie heute erleben zu müssen ... Manchmal habe ich mich schon, wie andere auch, ein bisschen lustig gemacht über all die großartigen Worte von den Rednerpulten ringsum an diesem Tag. Doch heute,

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