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Julie kehrt heim. Anne Karin Elstad
Читать онлайн.Название Julie kehrt heim
Год выпуска 0
isbn 9788711441121
Автор произведения Anne Karin Elstad
Жанр Документальная литература
Серия Julie
Издательство Bookwire
Jørgen meinte es ernst, als er sagte, er werde in die Stadt fahren, um Krister nach Hause zu holen. Am Donnerstag, dem neunten Mai, brach er auf. Das schöne Wetter, das während des gesamten Bombardements und ebenso die Woche danach geherrscht hatte, war jetzt umgeschlagen. Über Talgsjøen blies ein frischer Wind und grau stand der Regen vor den Bullaugen des Dampfers. Von Minen war die Rede, die gelegt worden seien, von Seeminen, die im Wasser trieben. Viele der Frauen saßen bleich und ängstlich da, die meisten jedoch nahmen es mit fatalistischer Ruhe hin. Es war etwas, an das sie sich gewöhnen mussten.
Der Anblick, der sich Jørgen bot, als er der Stadt mit dem Dampfer näher kam, war ein Schock für ihn. Schwarze Schornsteine, düster in den Himmel ragend, Reste von Fassaden und wacklige Mauern, die emporstiegen aus etwas, das auf den ersten Blick einer Geröllhalde glich. Er hatte gewusst, dass es kein schöner Anblick werden würde, der ihn hier erwartete, aber dass es so sein würde, das hatte er sich in seinen wildesten Phantasien nicht vorstellen können.
Jørgens erster Gedanke ist, dass viel passieren muss, bevor er nach dem, was er heute gesehen hat, klagen wird. Und erst jetzt wird ihm klar, wie unglaublich glücklich sie in seinem Ort sein können, dass sie trotz allem den Krieg bisher nur aus sicherem Abstand betrachtet haben.
So verläuft auch seine erste Begegnung mit dem »Herrenvolk«, wie die Leute die Deutschen neuerdings nennen. Der Kai ist dermaßen zerstört, dass es Probleme bereitet, an Land zu kommen, doch mitten in den verwüsteten Anlagen stehen grün uniformierte deutsche Wachtposten. Mit Stahlhelm, Patronengürtel und Maschinenpistole halten sie am Fallreep und am Kai Wache. Diese Deutschen gehören zu dem ersten Bataillon, das die Stadt am siebten Mai besetzte, einem Infanterieregiment. Es läuft ihm kalt den Rücken herunter, als er an ihnen vorbeikommt und an den anderen von derselben Bande, während er durch diese kahle Trümmerlandschaft geht, die einmal eine schöne Stadt war.
Als er sich durch die zerstörten Straßen quält, hat er noch mehr das Gefühl, sich über eine Steinhalde zu bewegen. Es ist schwer, sich zu orientieren, doch als er den Loennechenhof erblickt, weiß er, dass er in Kaibakken ist. Mitten in den Ruinen stehen die alten Gebäude aus Holz, die wie zum Trotz widerstanden haben, ein Punkt, an dem man sich orientieren kann. Auf den niedergebrannten Grundstücken arbeiten angestrengt Menschen, um aufzuräumen, und der Anblick ihres ungebrochenen Optimismus und Gemütszustandes rührt Jørgen tief. Was sind das für Menschen! Über der Schule in Allanengen weht unter der norwegischen Fahne eine kleine Hakenkreuzflagge. Immer gibt es ein erstes Mal, zum ersten Mal sieht er diese Flagge mit eigenen Augen.
Er empfindet es fast als Erleichterung, als er Langveien weiter hinaufkommt und sieht, dass noch mehrere Häuserblocks stehen, wie es aussieht, unbeschädigt. Das Gefühl der Erleichterung lässt schnell wieder nach. Es graust ihn unglaublich davor, Ivar zu begegnen, es graust ihn davor, in dieses Haus zu kommen, wie es ihn die letzten Jahre immer grauste. Dieses Haus, das mit so vielen guten Erinnerungen verbunden ist, das jetzt aber für ihn Sorge und Unheil repräsentiert. Aber was soll er machen? Er muss Kristers habhaft werden, er muss bis morgen hier bleiben und übernachten, woanders kann er nicht hin.
Er kommt in ein Haus, das kaum wiederzuerkennen ist. Fremde Stimmen sind zu hören und unten in der Halle muss er sich einen Weg durch spielende Kinder bahnen. Ganz oben auf der Treppe steht Helene, um ihn zu empfangen. Es ist eine ganz andere Helene, als der verzagte Schatten ihrer selbst, der vor ein paar Tagen hilflos bei ihnen auf Storvik herumschlich. Sie trägt ein Hauskleid mit aufgerollten Ärmeln, hat rote Wangen, ist energisch. Sie begrüßt ihn und hilft ihm mit seinen Sachen. Entschuldigt sich, dass sie ihn nicht in das Wohnzimmer bitten könne. Darin wohne jetzt eine Familie. Das Speisezimmer könnten sie selber nutzen, sagt sie. Darin stünde ein Diwan, auf dem er heute Nacht schlafen könne. Der Kaffeetisch sei schon gedeckt. In der Tür zum Speisezimmer bleibt Jørgen wie angewurzelt stehen und starrt zum Tisch. Dort sitzt ein Deutscher in voller Uniform, ein junger Bursche. Er erhebt sich höflich, als Jørgen ins Zimmer geht, kommt ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Bevor sich Jørgen besinnen kann, hat er die Hand des Deutschen ergriffen und sich vorgestellt wie der Deutsche auch. Mehr verschämt als schockiert steht er da und schaut dem Deutschen nach, der zur Tür geht, sich umdreht und verbeugt, bevor er die grüne Schiffermütze aufsetzt und das Zimmer verlässt. Aus dem Treppenhaus ist das Gepolter seiner Stiefelabsätze zu hören.
Er findet keine Worte, um etwas zu sagen. Helene hat hektische rote Flecke auf den Wangen.
»Er kommt aus meiner Heimatstadt, aus Dresden. Seine Familie und meine Eltern sind Nachbarn. Er kam her, um mir Grüße zu überbringen.«
Ivar und Krister seien draußen, sagt sie. Krister gehöre zu den Aufräumungstrupps in den Straßen, während Ivar im Damenheim in Langveien sei, wo sie versuchen, die Bank provisorisch einzurichten. Sie erwarte sie hier in ein paar Stunden zum Essen. Ob Jørgen sich vielleicht solange ausruhen wolle.
Er lehnt dankend ab, ihm fehle jetzt die innere Ruhe, um sich zu entspannen.
»Das Einzige, womit die Leute in der Stadt jetzt befasst sind, ist, den Obdachlosen zu helfen«, sagt Helene. »Wir selber haben, wie gesagt, eine Familie mit Kleinkind im Wohnzimmer. Unten wohnen zwei Familien. Wenn Selma zurückkommt, muss sie eines der Zimmer hier oben bekommen. Ihre Kleidung und all die Dinge, von denen sie am meisten fürchtet, dass sie kaputtgehen könnten, haben wir schon nach oben geholt. Die Haushilfe wohnt jetzt in diesem Zimmer hier, während Krister immer auf dem Diwan im Speisezimmer schläft. Heute Nacht bekommt er ein Lager auf dem Fußboden in der Küche.«
»Es wird eng«, sagt Jørgen.
»Ja, aber hier hat niemand einen Grund zu klagen.«
In dem Moment hören sie jemanden in langen Sätzen die Treppe heraufspringen und Krister steht in der Tür. In schmutzigem Arbeitsoverall, kariertem Hemd, das über den braunen, starken Armen aufgekrempelt ist, im Gesicht Streifen von Schmutz und Ruß, die Haare über der Stirn feucht und verschwitzt. Sein Gesicht wird von einer leichten Röte überzogen.
»Was, du bist gekommen, Papa?«
»Ja, das hast du wohl nicht gedacht, wie?«, sagt Jørgen, erhebt sich und nimmt Kristers große, schmutzige Hand in seine. Er muss sich beherrschen, um den Jungen nicht an sich zu drücken.
»Du kommst jetzt schon?«, fragt Helene. »Es ist ja noch gar nicht Mittag, wie du weißt.«
»Nein, ich gehe gleich wieder. Ich habe nur solchen Hunger und dachte, ich könnte eine Scheibe Brot ergattern«, sagt er.
Helene schiebt einen Teller mit belegten Schnitten zu ihm hinüber.
Während er Brot kaut, erzählt er aufgeregt.
»Es kommen noch mehr Deutsche in die Stadt. Du musst mit nach draußen gehen, Papa, und dir das ansehen.«
Von der Straße dringt Gesang herein, wie ein fernes Rauschen.
»Wer singt denn dort?«, fragt Jørgen verwundert.
»Die Deutschen. Sie singen, wenn sie marschieren. Das machen sie immer so. Auch die Gefangenen haben das gemacht. Aber du kannst glauben, die hatten eine Scheißangst.«
Er spricht von den deutschen Kriegsgefangenen, die in der Mädchenschule interniert waren.
»Die ersten Tage während des Bombardements mussten die Wachsoldaten mit Maschinengewehren schießen, mit denen sie sich ausgerüstet hatten, um die Gefangenen von den Fenstern zu vertreiben, wo sie standen und glotzten und von wo aus sie ihre Landsleute gewissermaßen willkommen heißen wollten. Am Montag fing die Schule Feuer und die zu Tode erschrockenen Gefangenen donnerten an die Türen und schrien. Da war es vorbei mit ihrem Mut. Dann wurden sie in die Schule in Allanengen gebracht.