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Julie kehrt heim. Anne Karin Elstad
Читать онлайн.Название Julie kehrt heim
Год выпуска 0
isbn 9788711441121
Автор произведения Anne Karin Elstad
Жанр Документальная литература
Серия Julie
Издательство Bookwire
Jørgen steht neben Krister auf der Straße und traut seinen Augen und Ohren nicht. Eine Horde Deutscher in voller Uniform mit Stahlhelmen auf dem Kopf marschiert singend durch die Ruinen, sie halten den Takt, als nähmen sie an einer Siegesparade teil. Einen schlimmeren Hohn gegenüber den Einwohnern dieser dem Erdboden gleichgemachten Stadt hätten sie sich kaum ausdenken können. Für Jørgen ist es der endgültige Beweis ihrer teuflischen Niedertracht. Und er erlebt an diesem Tag noch mehr dieser Art, was Gefühle in ihm weckt, von denen er kaum geahnt hatte, dass er ihrer fähig wäre. Mit einer Verbitterung, die ihn fast umbringt, sieht er, wie die norwegische Flagge in der Schule in Allanengen eingeholt und durch eine im Winde flatternde, große deutsche Fahne mit Hakenkreuz ersetzt wird.
»Ich muss gehen und wieder helfen«, sagt Krister.
»Nein, das wirst du nicht, nein«, sagt Jørgen. »Wir gehen jetzt zu Ivar nach Hause zurück, und du wirst deine Sachen packen, denn jetzt kommst du mit nach Hause.«
»Aber sieh dich doch um, Papa«, sagt Krister aufgebracht. »Siehst du nicht, dass ich hier gebraucht werde?«
»Du wirst zu Hause gebraucht. Etwas anderes will ich nicht mehr hören.«
»Aber die Schule ist doch noch gar nicht zu Ende.«
»Oh, dass du deine Schulsachen anhast, kann ich im Moment nicht gerade erkennen. Nein, Krister, jetzt reicht es. Was glaubst du, was deine Mutter diese Zeit über durchgemacht hat? Denkst du kein bisschen an sie? Du weißt doch, dass sie demnächst niederkommen wird.«
Trotz leuchtet in Kristers Augen auf, während er den Vater anschaut, doch Jørgen erkennt in diesem Blick auch, dass die erste Runde gewonnen ist. Er ermahnt Krister, alles einzupacken, was er mitzunehmen schafft, auch die Schulbücher. Ohne ein Wort miteinander zu sprechen gehen sie zum Haus zurück. Soll Krister nur schmollen, denkt Jørgen, doch noch ist es lange hin, bis er mündig wird. Noch muss er sich damit abfinden, dass er einen Vater hat, der über ihn bestimmt.
Das Gespräch am Mittagstisch verläuft träge. Jørgen lässt sich auf keine Diskussion mit Ivar mehr ein. Er fühlt sich unsäglich müde, als hätte er große Sorgen zu tragen. Er schaut seinen Bruder an, seinen kleinen Bruder, den er einmal so geliebt hat, jetzt ist er wie ein Fremder für ihn. Halbherzig hört er Ivars Bericht zu, wie es ihnen gelungen ist, aus den Gewölben der Bank Wertpapiere und Geld zu retten. Maschinen und andere Ausrüstungsgegenstände hätten sie auch retten können, bevor alles verbrannte. Eifrig berichtet er von der Behelfsstätte, die demnächst voll funktionstüchtig sein wird.
»Du wirst sobald nicht arbeitslos dastehen, wenn ich das recht verstehe«, sagt Jørgen trocken.
Jørgen liegt auf dem schmalen Diwan und wälzt sich unruhig hin und her, er ist innerlich so unruhig, dass er nicht einschlafen kann. Er hört all die fremden Geräusche im Haus. Kinder, die weinen, Mütter, die sie beruhigen und tröstend auf sie einreden, Gespräche zwischen Erwachsenen, die sich mit gedämpfter Stimme unterhalten. Allzu viel Privatleben können sie, die hier in diesem Hause untergekommen sind, wohl nicht haben. Andererseits wird das in diesen Tagen, an denen es das Wichtigste war, sein Leben zu retten und ein Dach über dem Kopf zu finden, nicht unbedingt ihre größte Sorge sein. Vorsichtig steht er auf, späht durch die Fensterverdunkelung, er schaut über die im Dunkel liegende Stadt. Konturen von Schornsteinen ragen düster in den Nachthimmel. Ihm ist, als könnte er die Silhouetten von zwei deutschen Wachtposten erkennen, die draußen auf der Straße patrouillieren. Zusammenschaudernd und vor Kälte fröstelnd geht er wieder in sein Bett zurück. Er bleibt liegen und starrt in den dunklen Raum, während ihm verschiedene Gedanken durch den Kopf gehen. So viele gute Erinnerungen hat er an diesen Ort, Erinnerungen aus der Kindheit und der Jugendzeit. In die Stadt zu kommen war ein Abenteuer, hierher zu Onkel Erling und Tante Selma. Das größte Erlebnis war es, als er für groß genug befunden wurde, um alleine herfahren zu dürfen. Es kam vor, dass er im Sommer eine ganze Woche hier bleiben durfte. Der Onkel kam immer zum Kai und holte ihn dort ab. Er durfte sogar mit ihm in die Bank, und er erinnert sich daran, wie ihn der Onkel einmal mit ins Grand Hotel nahm und ihm ein großes Mittagessen spendierte. Damals war er vielleicht zehn, elf. Sie waren beide allein, und er erinnert sich, dass der Onkel ihm die erste Lektion erteilte, wie er sich in einem feinen Restaurant zu benehmen habe. Onkel Erling und Jørgens Vater, Kristoffer, waren richtig gute Freunde. Jedes Mal, wenn es darauf ankam, hielten die beiden Familien zusammen. Erling Storvik vergaß nie, woher er kam, obwohl er hier in der Stadt ein großer Mann wurde. Zwischen den beiden Familien war ein Zusammenhalt, der unverbrüchlich schien.
Mit großer Wehmut denkt er an die Freude, das Lachen, die Musik und den Gesang in diesem Haus. Damals, als die beiden Töchter noch zu Hause wohnten. Und später, nachdem Ivar hergezogen war. Er muss an die erste Opernpremiere denken. Jedes Detail dieses Abends fällt ihm jetzt wieder ein, die Vorstellung, die Premierenfeier danach, der Tanz. Julie war so schön. Astrid ebenso. Später, als der Abend vorüber war und sie wussten, dass es ein unglaublicher Erfolg gewesen war, saßen sie noch im Wohnzimmer beisammen und feierten bis spät in die Nacht hinein. Ihm ist, als höre er noch immer die dröhnende Stimme des Onkels und das Lachen der jungen Frauen durch das Haus tönen.
Im Nachhinein erscheint ihm dieser Abend wie eine Art Anfang vom Ende dieser Familie. Selma hatte sich darauf gefreut, dass Ivar und Helene Kinder bekommen würden, die ihr die Enkel ersetzen sollten, die sie selber nie bekam. Doch dazu wird es nicht kommen. Eines Tages, wenn Selma und Anna einmal nicht mehr sind, wird die ganze Familie des Onkels ausgelöscht sein. Es muss einmal ein Fluch über das Haus gekommen sein, anders kann er sich es nicht erklären. Ein Gefühl von Unbehagen macht sich in ihm breit. Dann das mit Ivar. Er dürfe nie vergessen, dass Ivar sein Bruder ist, sagte seine Mutter zu ihm.
Julie und Krister sitzen, sich leise unterhaltend, in der Küche. Sie hat allen anderen zu verstehen gegeben, dass sie mit ihm allein sein möchte. Sogar Jørgen ist widerwillig gegangen, zuvor hat er Krister aber noch gesagt, er solle sich nicht einbilden, dass er wieder zurückdürfe.
»Im Herbst können wir wieder darüber reden, wenn die ganze Sache vielleicht vorbei ist«, sagte er.
»Du bist dem Papa jetzt böse, sehe ich«, sagt Julie mild.
»Ist das so verwunderlich?«, fragt Krister aufbrausend.
»Pss. Leiser, ich will nicht, dass uns jemand hört.«
»Erst kommt er und schleppt mich nach Hause, als ob ich ein kleines Kind wäre. Und dann verbietet er mir zurückzukehren?«
»Wir müssen dem Papa jetzt Zeit geben, dann beruhigt er sich schon. Er grämt sich wegen Ivar, verstehst du, er hat Angst, dass er dich irgendwie beeinflussen könnte.«
»Mich beeinflussen, Onkel Ivar? Herrgott, er versteht überhaupt nicht, worauf er sich da eingelassen hat. Jedenfalls bis jetzt noch nicht. Aber da siehst du mal, wie groß das Vertrauen ist, das Papa zu mir hat, hält mich nicht für erwachsen genug, dass ich selber auf mich aufpassen kann, selber sehe, was los ist. Im Übrigen habe ich vor, mir eine andere Unterkunft zu besorgen.«
Sie starrt ihn an.
»Eine andere Unterkunft?«
»Ja, bei einer Familie, die ich kennen gelernt habe«, sagt er und wagt nicht, sie anzuschauen. Röte steigt in seinen Wangen auf, und Julie ahnt, warum.
»Vielleicht zu Hause bei einem Mädchen, das du kennen gelernt hast?«
»Ja, was ist dabei? Bei einer Mitschülerin.«
»Hast du dir eine Freundin angeschafft, Krister?«
»Eine Freundin? Verlobt habe ich mich nicht, wenn du das meinst. Herrgott, Mama, wir leben doch nicht mehr in der Steinzeit. Außerdem ist es für mich nicht gut, weiterhin bei Onkel Ivar zu wohnen.«
»Du wohnst nicht bei Onkel Ivar, du wohnst bei Tante Selma!«
»Aber das kommt doch auf dasselbe raus, oder?«
»Niemals«, sagt Julie frostig.
Wie schon so oft sitzen sie sich wie zwei Kampfhähne