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Julie kehrt heim. Anne Karin Elstad
Читать онлайн.Название Julie kehrt heim
Год выпуска 0
isbn 9788711441121
Автор произведения Anne Karin Elstad
Жанр Документальная литература
Серия Julie
Издательство Bookwire
»Nein, Ivar, ich kann nicht hier bleiben. Ich will nach Hause. Ich will zu dir.«
In ihrer Stimme liegt eine ungewöhnliche Heftigkeit, die sie die letzten Tagen so von ihr nicht gehört haben. Dann steht sie wieder da, lauschend, während sich ihre Gesichtszüge glätten und sie wieder so wird wie immer, beherrscht, ruhig.
»Ja, gut, Ivar«, sagt sie matt. »Ja, ich verstehe.«
»Es scheint, dass euer Zuhause unbeschädigt ist«, sagt Julie. »Das ist doch wenigstens etwas, über das man trotz allem noch froh sein kann, oder?«
»Du musst entschuldigen, Julie, aber wie soll ich richtig froh sein können, wenn ich an all die anderen denke, die alles verloren haben? Die ihre Angehörigen verloren haben?«
3
»Deutschland steht mit Norwegen nicht im Krieg«, liest Randi. Sie entziffert es von einem Flugblatt, das auf einem Stapel in der Schale auf dem Tisch liegt. Diese Flugblätter wurden die ersten Tage nach dem neunten April von deutschen Flugzeugen über Øra abgeworfen. Die Jungen brachten sie mit nach Hause. Nachdem alle sie gelesen hatten, wollte Julie sie in den Ofen stecken. Solche Schweinerei wolle sie nicht im Hause haben, sagte sie. Doch Jørgen konnte sie daran hindern. So etwas müsse man aufheben, meinte er. Das wird eines Tages Geschichte sein. So sind sie hier liegen geblieben, werden gelesen und kommentiert.
»So ein verdammtes Scheißgewäsch«, schnauft Randi. Sie sind alleine in der Küche, sie beide, keine lauschenden Kinderohren. »Ja, du musst schon entschuldigen, es ist eigentlich nicht meine Art zu fluchen. Aber ich habe so eine Wut im Bauch, dass ich fluchen könnte wie ein Brauereikutscher. Und wenn ich diesen Mist lese, hör dir das nur an: ›Der größte Teil des norwegischen Heeres und der norwegischen Marine verhält sich zu den deutschen Streitkräften loyal.‹ Was bilden die sich ein? ›Zivilisten dürfen keine Waffen tragen. Wer gegen dieses Verbot verstößt, wird nach dem Kriegsrecht behandelt. Angesichts der entscheidenden Schlacht gegen England kann und wird die deutsche Schutzmacht keine Form von Sabotage zulassen. Im Notfalle wird sie in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht mit aller Strenge und allen ihr militärisch zur Verfügung stehenden Mitteln einschreiten.‹ Als Unterschrift auf dem Flugblatt: ›Der deutsche Kommandant in Trondheim.‹ Was sagst du dazu?«, fragt Randi.
»Ich habe das schon so oft gelesen, dass ich es fast auswendig kann, aber es macht einen noch stärkeren Eindruck, wenn es laut vorgelesen wird.«
»Das ist starker Tobak«, sagt Randi. »Soll ich weiterlesen?«
»Ja, lies nur!«
»›Norweger! Die norwegischen und die deutschen Truppen beschützen gemeinschaftlich Ihr Heimatland. Lassen Sie sich nicht von verbrecherischen englischen Agenten, die Ihr Land zum Kriegsschauplatz machen wollen, aufwiegeln.‹ Hörst du das, Julie? Sie und Ihr, nun sind sie wohl plötzlich höflich geworden? ›Legen Sie die Waffen ab! – Nehmen Sie die Arbeit wieder auf. Der Oberkommandierende gibt bekannt: Vor das Kriegsgericht wird gestellt, wer die von der vorigen Regierung erlassene Mobilisierung befolgt oder wer verleumderische Gerüchte verbreitet. Erschossen wird jede Zivilperson, die mit einer Waffe in der Hand angetroffen wird. Erschossen wird, wer Anlagen zerstört, die dem Verkehr und dem Nachrichtenwesen dienen. Erschossen wird, wer kriegerische Mittel anwendet, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind. Norweger! Wer sein Vaterland wirklich liebt, nimmt die Arbeit wieder auf!‹
Erschossen wird, wer ..., erschossen wird, wer ...«, wiederholt Randi. »Hast du schon jemals eine solche Frechheit gehört? ›Die Anwendung von Kriegsmitteln, die mit dem Völkerrecht unvereinbar sind‹«, zitiert sie. »Genau das haben sie selber getan, als sie die Stadt dem Erdboden gleichgemacht haben, oder vielleicht nicht? Die verdammten Schweine! Was denken die denn von uns? Denken die, wir sind ein Volk von Feiglingen und Analphabeten? Denken die, wir lassen uns von einem solchen Schwachsinn beeindrucken? Soweit ich weiß, haben sie noch nicht überall gesiegt. Ich habe noch keinen Deutschen zu Gesicht bekommen, noch hat sich keiner blicken lassen, weder in der Stadt noch hier. Die sollen bloß nicht denken ...«
Da unterbricht sich Randi, sitzt da und starrt zur Tür. Julie dreht sich um und sieht, dass Helene in der Tür steht. Wie lange sie dort schon steht, wie viel sie mitgehört hat, wissen sie nicht. Sie waren so mit sich beschäftigt, dass sie ihr Kommen nicht bemerkten. Die ganze letzte Zeit verhält sie sich schon so. Ruhelos wandert sie im Haus umher, lautlos auf den Zehenspitzen ihrer kleinen Ballettfüße. Manchmal zieht sie sich etwas über und geht zur Hauptstraße hoch, läuft ein paar Meter, bevor sie wieder zurückkommt. Wieder und wieder tut sie das, als ob ihr Körper von einer Unruhe erfüllt wäre, die sie nicht bezwingen kann. Seither haben sie Angst um sie, fürchten, dass sie krank wird, aber ihr Blick ist wach, nur diese Unruhe ist beängstigend.
»Entschuldigung. Ich störe bestimmt«, sagt sie jetzt und geht. Schließt die Tür hinter sich, nur ihre leichten, schwebenden Schritte durch das Wohnzimmer sind zu hören, bis eine weitere Tür zugeht.
»Armes Menschenkind«, sagt Randi. »So wie die Dinge jetzt liegen, kann sie einem nur Leid tun.«
Allmählich kehrt wieder der Alltag in den Ort ein. Ein neuer Alltag, ein anderer Alltag. Eines jedoch wissen sie, nichts kann wieder so werden, wie es vorher war.
Die Frühjahrsbestellung, die aufgeschoben wurde, muss erfolgen. Damit im Herbst geerntet werden kann, muss jetzt die Saat in die Erde. Jeder sagt zum anderen, das Leben gehe weiter. Es ist ja völlig sinnlos, die Welt anhalten zu wollen, auch wenn die Welt, wie es scheint, völlig aus den Fugen geraten ist.
Die Leute, die aus der Stadt hierher evakuiert wurden, müssen entscheiden, was sie mit ihrem Leben in der nächsten Zeit anfangen wollen. Viele von ihnen haben ihre Wohnung verloren. Es ist nichts mehr da, wohin sie zurückkehren könnten. Die Mütter mit Kindern ziehen es vor, hier noch eine Weile wohnen zu bleiben, bis die Situation in der Stadt so ist, dass sie zurückkönnen. Schulpflichtige Kinder wollen sie hier im Ort zur Schule schicken. Frau Solberg hat gefragt, ob sie auf dem Hof bleiben und ihre Kinder hier zu Schule schicken dürfe. Von ihrem Heim, einem Miethaus auf Gomalandet, ist nur noch ein Haufen Asche übrig. Ihr Mann konnte bei Ivar ein Zimmer mieten. Es sei lediglich eine Notlösung, hat er gesagt, es gehe nicht an, dass sie dort mit den drei Kindern auch noch einziehe.
Randi will nach Hause. Yngvar hat angerufen und gesagt, er werde Bescheid geben, sobald er der Ansicht sei, sie könne die Reise wagen. Für einen kurzen Moment hatte Julie während des Gesprächs neben ihr gestanden, und so seine Worte zwangsläufig mitbekommen:
»Ich will nicht, dass du da bleibst. Sieh zu, dass du von diesen Leuten wegkommst, und zwar so schnell wie die Feuerwehr.«
»So ein Unsinn«, erwiderte Randi. »Was soll denn daran gefährlich sein?« Dann verstummte sie, lauschte.
»Ja, gut, Yngvar. Nein, ich verstehe, was du meinst.«
Sie wich Julies Blick aus, als sie den Hörer auflegte.
»Es ist wohl am besten, wenn wir zusehen, dass wir nach Hause kommen«, sagte sie. »Aber ich werde euch nie vergessen, dass ihr uns hier für diese Tage aufgenommen habt.«
»Aber du weißt doch, dass du hier so lange bleiben kannst, wie du willst?«
»Ach, nein, ich kann hier nicht noch länger müßig herumlungern. Außerdem hast du wohl schon genug Menschen im Hause, um die du dich kümmern musst. Aber schade, dass das Kind nicht mehr vor meiner Abreise zur Welt kommt und ich das Wunder nicht sehen kann. Doch das kommt noch, später. Die Geschenke, die Leckerbissen zur Geburt, die werden wir euch dieses Mal nicht schicken können«, sagt sie lachend. »Nein, Julie, jetzt müssen die Ärmel hochgekrempelt werden. Ich werde dort gebraucht, Yngvar braucht mich. Er hat schon eine Familie mit drei Kindern in die Wohnung aufgenommen. Es sind Leute, die wir kennen. Es wird eng, doch jetzt müssen wir anderen helfen, alles tun, was wir können, wo wir doch zu den Glücklichen gehören, die ihr Heim nicht verloren haben. Und ich kann Yngvar dort doch nicht mit allem allein lassen.«
Allmählich