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bot, sagte Jenny: „Ach, Blanka — jetzt frei sein, jetzt da draussen irgendwo diesen herrlichen Tag auskosten können! Da sind dunkle Wälder, man riecht das welke Laub und die Erde. Da ist Stille und Einsamkeit. Ich fühle mich fremd hier in dieser lauten, unruhigen Stadt — wenn ich noch einmal dort sein könnte, wo ich als Kind so glücklich war!“

      „Schäfchen — sentimentales! Der Herbst macht dich elegisch! So etwas ist himmlisch einen Nachmittag, wenn man in der Kutsche sitzt und man Distanz zu allem bewahrt. Weisst du, wonach ich mich eben sehnte? Dass wir schon zu Hause wären, Lina den starken Kaffee in der Silberkanne hereinbrächte — auf den Tisch neben die Blumenvase stellte und ich Kuchen essen könnte, ich habe Heisshunger auf unsern Königskuchen!“

      „Wir hätten vorhin zu Kranzler gehen sollen.“

      „Nein, schrecklich, dieses Angestarrtwerden — wie klebrige Fliegenbeine klettern die Blicke der Männer auf einem herum. Menschen — gewiss, aber nicht nur solche, die man zur Not noch gerade ertragen kann, sondern die in Nuancen sprechen und nuanciertes Sprechen verstehen — mit denen man auch stumm sein kann!“

      „Ich wundere mich, dass du mich dann ertragen kannst!“

      „Sei nicht empfindlich, Jenny. Ich kann stundenlang schwätzen, wenn ich dadurch eine gesellschaftliche Pflicht erfülle, um den Stumpfsinn der anderen zu retouchieren, aber da opfere ich mich — und ich will mich nicht opfern, habe dazu nicht die geringste Veranlagung.“

      „Und doch opferst du dich für mich — und ich hab’ mich oft gewundert, warum?“

      „Ich opfere mich nicht — du bist eine Seltenheit —“

      Jenny lächelte. „Du täuschst dich! Aber, was ich mich schon oft gefragt habe: wie du dein Leben ertragen würdest, wenn du arm wärest?“

      „Ich würde meine Armut stilisieren — dann würde ich sie ebenso ertragen. Kein Bett mit muffigen Federn, sondern einen wirklichen Strohsack, kein Kellerloch, aber eine Mansarde, keine Pferdewurst, aber Pellkartoffeln mit Hering und die Pellkartoffeln schön aufgeplatzt, in einer braunen Schüssel aus Velten. Keinen abgetragenen Mantel von einer Gnädigen, sondern einen Friesrock und ein dickes Umschlagetuch. Natürlich auch Holzpantoffeln — Holzpantoffeln gehören —

      „Gehören zu der Komödie!“

      Blanka beachtete den Einwurf nicht. „Und dann würde ich singen gehen auf die Höfe, Gitarre dazu spielen.“ Und sie summte halblaut:

      „Disteln und Dornen stechen sehr,

      Falsche Zungen noch viel mehr.

      So ist’s besser, in Dornen zu sterben,

      Als durch falsche Zungen verderben.“

      Sie kamen in der Charlottenstrasse am Theater vorüber, das noch finster und still war, und standen dann in dem grünen Winkel des Enckeplatzes mit dem Garten der Sternwarte. In dem letzten Hause, das mit seinen Fenstern freie Aussicht auf die Baumwipfel hatte, lag im zweiten Stock die Wohnung. „Blanka Mertini, Gesangspädagogin“, war in das Messingschild an der Tür eingraviert.

      „Ssst — hörst du — Lina singt“, sagte Jenny und hielt Fräulein Mertini zurück, die eben den Schlüssel ins Schloss stecken wollte. Sie lauschten beide.

      „Ja, treu ist die Soldatenliebe

      Von hier bis an die Stubentiere ...“

      „Was kann man dagegen tun?“ fragte Fräulein Mertini.

      „Nichts — sie muss sich Luft machen — ihr Grenadier ist ihr wahrscheinlich untreu geworden.“

      „Wieviele Grenadiere gibt’s!“ Blanka schloss auf, und in demselben Augenblick verstummte der gellende Gesang. Lina kam ihnen entgegen, nahm Schirme und Hüte in Empfang.

      Auf der Marmorkonsole, die den grossen goldgerahmten Spiegel stützte, stand ein silbernes Schälchen für die Besucherkarten. Es war leer, trotzdem fragte Fräulein Mertini: „Niemand hier gewesen? Also, schnell den Kaffee, Lina!“

      Das Mädchen hatte die Tür zum nächsten Zimmer geöffnet und schloss sie nun hinter den Damen. Hier stand in der Mitte der Flügel, auf dem eine Gitarre lag; an der einen Wand eine Reihe hochlehniger Rohrstühle, an der anderen ein niedriger, langgestreckter Notenschrank mit Glastüren. Darüber ein gerahmter Stich der Jenny Lind. Aber auch hier, zwischen den beiden Fenstern, ein grosser Spiegel, der die Gestalt von Kopf bis zu Fuss wiedergab.

      Beide hatten zu gleicher Zeit hineingesehen und ihre Erscheinung gemustert. Jetzt lächelten sie sich im Spiegel an — aber Blanka seufzte:

      „Noch einmal so jung sein können wie du, Jenny!“

      Ja, der Hut hatte Blanka jugendlicher gemacht, als sie war, und so Kopf an Kopf sah man den Altersunterschied. Trotzdem — sie war ein Frauentypus, der gerade erst in diesem nicht mehr jugendlichen Alter seinen höchsten Reiz auf Männer ausüben musste — und das wusste sie!

      Im Nebenzimmer, mit der Aussicht auf den Garten der Sternwarte, war schon der Kaffeetisch gedeckt — in der Mitte, zwischen dem Kopenhagener Porzellan, ein Asternstrauss in weisser Vase.

      Und da kam Lina auch schon mit der silbernen Kanne, und während sie in die Tassen eingoss, sagte sie: „Hier jewesen is doch jemand, aber man bloss Herr v. Hilken. Is jleich an die Türe wieder jejangen, als er hörte, dass jnädiges Fräulein spazieren sind!“

      Fräulein Mertini nahm diese Mitteilung schweigend hin, aber Jenny sagte, als das Mädchen draussen war: „Er wird am Abend wiederkommen!“

      „Jedenfalls will ich ihn erwarten, denn zum zweitenmal an der Tür umzudrehen, verträgt seine Empfindlichkeit nicht. Ich kann dich heute also nicht ins Theater begleiten!“

      „Nein — schade! Und wenn Hilken nicht kommt, wirst du dich zermartern bei diesem Warten!“

      „Auch das gehört dazu!“

      „Ich weiss nicht, Blanka! Wo ist das Glück, wenn ihr euch nur gegenseitig quält!“

      In das feine, schmale Gesicht der Freundin kam etwas Müdes. Sie antwortete nicht, und Jenny fühlte sich plötzlich etwas befangen, wie so oft der Freundin und Lehrerin gegenüber — trotz der Freundschaft.

      „Bloss Herr v. Hilken —“, wiederholte Fräulein Mertini des Mädchens Worte.

      „Und du hast vorhin gefragt: ‚wieviel Grenadiere gibt’s?’“ Wie immer befreite sich Jenny von ihrer Befangenheit, die sie demütigte, durch solch ein Auftrumpfen.

      Blanka nahm es schweigend hin, sass sinnend da und sagte: „Gott behüte dich vor solch einem — Liebesverhältnis!“

      „Verhältnis — Liebesverhältnis!“ Jenny blickte nach der Uhr auf der Spiegelkonsole und erhob sich.

      „Ja — es wird Zeit, ich muss weg“, sagte sie. „Schick’ Hilken doch einen Dienstmann hin, damit du Bescheid bekommst und nicht in dieser Ungewissheit bist!“

      IV.

      Als Jenny im dritten Akt auf der Bühne erschien, hielt sie drei rote Rosen in der Hand, und als sie dann wieder ihr berühmtes Couplet sang, ja — hatte sie da nicht bei den Worten:

      „Weiss, dass, wenn es kommt zum Küssen,

      Sich die Lippen spitzen müssen ...“

      zu der Fremdenloge gewandt? Unwillkürlich richteten sich die Blicke des Parketts ebenfalls dorthin — gewiss, da sass jemand im Hintergrund, aber in der Dunkelheit des Zuschauerraums war nichts deutlich zu unterscheiden.

      Als dann der Vorhang gefallen, das Theater wieder hell wurde, war die Loge schon leer.

      Endlich verebbte der Strom der Besucher, verliefen sich auch die, die noch draussen vor dem Eingang gewartet. Aber Storkow, der in der dunklen Haustornische gegenüber stand, hielt geduldig weiter aus. Endlich kamen auch die Künstler — und da war sie, mit dem grossen Rosenstrauss, den er ihr in die Garderobe geschickt.

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